Der Stein des Freimaurers
ALFRED MESSERLI (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Januar 2003)
Der rauhe und der kubische Stein nehmen als unbewegliche Kleinodien in
der Freimaurerei einen gewichtigen Platz ein. Umso erstaunlicher ist es,
dass in der ungeheuren Flut der freimaurerischen Literatur praktisch kein
Werk über dieses Symbol vorhanden ist. Man muss die Informationen dazu aus
verschiedenen Werken zusammen suchen, beispielsweise bei Franz Carl Endres
oder Klaus C. F. Feddersen, um sich einigermassen ein Bild über dieses
Symbol machen zu können.
Das Bild ist jedem Freimaurer vertraut. Im Lehrlingsgrad erblickt er im
Tempel, meistens auf der Mitternachtsseite, einen unbehauenen Stein auf dem
ein Spitzhammer liegt. Im Ritual erfährt der neuaufgenommene Lehrling, dass
dies ein Symbol für ihn selbst darstellt.
Der Rohe Stein, an welchem Sie gearbeitet haben, ist ein Sinnbild von
Ihnen selbst. Arbeiten Sie am Rohen Stein ohne Unterlass, damit die schöne
Form – zu welcher er fähig ist – hervortrete. Behauen Sie ihn bis auf den
Kern, auf dass er nicht von den Bauleuten verworfen werde, sondern als
Eckstein des Tempels dienen könnte, jenes Tempels, den wir dem Allmächtigen
Baumeister aller Welten erbauen.
Zunächst: Was ist überhaupt ein Stein? Gemeinhin nennen wir jedes feste
anorganische Naturprodukt, das ein Mineral oder ein Gestein sein kann, einen
Stein.
Zum Stein des Lehrlings: Er gleicht dem Felsbrocken, der aus dem
Mutterschoss der Erde herausgebrochen wurde. Ecken, Kanten und
Unregelmässigkeiten machen ihn zunächst zum Bau unbrauchbar. Der erfahrene
Freimaurer erkennt in ihm aber bereits die kostbare Form. Wie Michelangelo
in einem Marmorbrocken, den er sich selbst im Steinbruch aussuchte, bereits
den «David» erkannte, so erkennt der Bruder Freimaurer im «unbehauenen
Stein» bereits die Quaderform, wenn nicht mehr.
Der rauhe Stein
Der «rohe» oder besser gesagt «rauhe» Stein liegt in den meisten Logen
neben dem Teppich und darauf der Spitzhammer. In andern Systemen ist der
rauhe Stein nur auf dem Teppich abgebildet. Überall ist er jedoch das
Sinnbild des Lehrlings. Er ist das Symbol des Menschen, wie ihn seine
Veranlagung, seine Erziehung und seine Umgebung bisher gebildet und
verbildet haben. Nun muss der Lehrling mit dem Spitzhammer der Energie die
Ecken und Kanten zurecht hauen, damit dereinst ein glatter Kubus daraus
werde.
Die Arbeit am rauhen Stein ist die Hauptarbeit des Lehrlings und des
Maurers überhaupt. Mit dem 24-zölligen Massstab aber prüft der Maurer seine
Zeiteinteilung. Er weiss, dass er eine Reihe von Pflichten zu erfüllen hat
gegen sich selbst, gegen seine Familie, gegen den Staat und gegen die
Menschheit. Als weiser Mann wird er die Zeit richtig einteilen, um keine
dieser Pflichten zu vernachlässigen. Der Massstab ist ihm ein Mahner, die
Zeit zu nützen, solange es Tag ist. Dies wird ihm in gleicher Weise in
Erinnerung gebracht durch die Art des Klopfens, das heisst die Art und
Weise, wie der Lehrling mit seinem Spitzhammer den Stein bearbeitet. Er tut
dies bekanntlich in einem besonderen Rhythmus, was auf den Eifer, den Fleiss
und die Ausdauer bei der Arbeit hinweist.
Der kubische Stein
Es wären von den Kleinodien noch der kubische Stein und das Reissbrett zu
besprechen. Die gehören eigentlich gar nicht in die Lehrlingsloge und können
dem Lehrling nur als Ideale vor Augen geführt werden. Denn der Lehrling
arbeitet mit aller Energie daran, dass auch sein Stein ein Kubus wird, und
er berufen wird, am Reissbrett die Pläne edler Taten zu entwerfen.
Damit wäre das Wichtigste vom rauhen Stein gesagt und meine Arbeit wäre
bereits zu Ende. Damit wollte ich mich aber nicht zufrieden geben und ich
begann weiter zu suchen und zu graben. Es muss doch hinter dem rauhen Stein
noch mehr verborgen sein, das ich bislang übersehen hatte. Und so begann die
Suche im Steinbruch. Das Symbol des rohen und unbehauenen Steines ist
nämlich uralt und findet sich in allen uns bekannten Kulturen und
Religionen.
Der Stein als Kultobjekt
Der Stein ist schon in den Anfängen der Menschheit verehrt worden. Seine
Rauheit, seine Härte sind als Ausdruck des Dauerhaften, Ewigen angesehen
worden. J.G. Frazer, der bekannte Religionsforscher, berichtet, dass Eide in
den alten «abergläubischen» Zeiten bei den nordischen Völkern auf einem
Stein geschworen wurden und einen religiösen Charakter gehabt hatten. Er
berichtet von heiligen Steinen, wobei man beim Schwur so steht, dass man mit
den Fersen der Füsse an zwei von sieben solcher Steine steht. Er berichtet,
dass die alten Dänen, wenn sie ihr Votum bei der Wahl des Königs abgaben,
auf besonderen Steinen standen, deren Festigkeit die beständige Natur ihres
Tuns bekräftigen sollte.
Die Weihefeierlichkeiten der jungen Brahmanen werden in den alten Büchern
genau festgeschrieben. Der Initiant muss bei der Einweihung seinen Fuss auf
einen rauhen Stein stellen. Er wird gleichzeitig aufgefordert: «Werde
fest!». Dieser «Tritt auf den Stein» soll bekräftigen, dass sein Handeln
«Wie ein Stein fest» ist. Hierdurch tritt der junge Brahmane in seine
Gemeinschaft ein.
Ähnliche Vorstellungen sollen bei der Ablegung des freimaurerischen Eides
bei der Aufnahme in die Loge eine Rolle spielen. So stand, wie wir es auf
französischen Stichen sehen, vor dem Altar ein kniehoher Hocker, der einen
rohen Felsstein vorstellen sollte, auf welchem der Aufzunehmende mit dem
entblössten Bein kniete. Auf diese Weise kam die Verbindung zur Symbolik des
Steines zum Ausdruck.
Dass vielfach aus dem Stein Feuer geschlagen werden konnte, machte ihn
zusätzlich geheimnisvoll und zum Träger numinoser (göttlicher) Kräfte. Diese
Vorstellungen kennen wir von dem kleinen Stein über den einzelnen Felsen bis
hin zum Berg aus Stein. Der Mensch begegnet hier einer andern Macht. Dabei
sind die Steine nicht «als Steine» verehrt worden, sondern sie wurden als
Träger der Macht angesehen, sie waren anders als der Mensch in seiner
Vergänglichkeit. So ist es zu verstehen, dass man bis in die heutige Zeit
den Toten Steine gesetzt hat. Diese Steine sollen die Seele des Toten
«festhalten». Grossen Toten wurden riesige Steine, Megalithen gesetzt, ganze
Kulturen haben nach ihnen ihre Namen. Auch in Vorderasien kennen wir diese
Sitte zur Genüge. Wir kennen die Menhire und Malsteine, die die Kanaaniter
aufrichteten und die in der Bibel Massebah genannt wurden. Grabhügel und
Pyramiden symbolisieren Gleiches.
Hinweise im Alten Testament
Steine wurden errichtet an Orten, an welchen sich Göttliches ereignet
hatte. Sie wurden aufgerichtet, wenn ein Bund geschlossen wurde mit Gott
oder unter den Menschen. Wir finden in der Bibel zahlreiche Belege dafür. So
befiehlt Moses (5. Buch Moses 27, 2 ff.): «An dem Tag, an dem ihr über den
Jordan zieht in das Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, sollst du
grosse Steine aufrichten. Dort sollst du dem Herrn einen Altar bauen. Aus
unbehauenen Steinen sollst du den Altar bauen». Bei Josua im 4. Kapitel wird
in diesem Zusammenhang berichtet, dass Gott Josua befahl, dass je ein
Vertreter der zwölf Stämme einen Stein aus dem Jordan aufheben und ihn zu
dem ersten Rastplatze des Volkes am westlichen Ufer des Jordan tragen solle,
wo sie aufgestellt werden sollten. Sie stehen dort bis auf den heutigen Tag.
Die Deutung fällt bis heute den Exegeten schwer. Man sieht hierin unter
anderem den Versuch, die kreisförmig aufgestellten Steine zu erklären, die
man verschiedentlich im Lande nachgewiesen hat und die sicher schon vor der
Landnahme der Israeliten bestanden haben. Wir kennen solche Steinkreise ja
aus der ganzen Steinzeit bis nach England hinauf, denken wir nur an die
Bretagne oder Stonehege.
Später wetterten die Propheten seit Moses gegen die Anschauung, dass
Steine Abbilder des Göttlichen seien, wie es auch gerade bei den Kanaanitern
der Fall war. Die Juden wurden davon beeinflusst. Es war hier der Kampf der
archaischen Anschauung, dass die Gottheit in der Materie immanent sei und
anderseits die Anschauung, dass im Stein das Numinose (das auf Gott
bezogene) sich nur dokumentiere. In den Vorstellungen der späteren jüdischen
Elite konnte Gott sich dann nur noch im Wort, im Tempel, in der Bundeslade
etwa, als numinose Gottheit ausdrücken.
Der Kampf der mosaisch-monotheistischen Schicht richtete sich daher gegen
die Vermischung von Zeichen der Gegenwart Gottes mit der Inkorporation des
Göttlichen in einen
Gegenstand, besonders eben in Stein. Bekannt ist die Bibelstelle aus dem
3. Moses 26,1: «Ihr sollt euch keine Götzen machen noch Bilder aufrichten,
noch einen heiligen Stein (Masseba) und ihr sollt in eurem Lande keinen
Malstein (Masketim) setzen, dass ihr davor betet». Im 4. Buch Moses 33,52
befiehlt Gott Moses, die Kultsteine der Kanaaniter zu zerstören. «Ihr sollt
alle ihre Steine zerstören, alle ihre gegossenen Bilder und alle ihre Höhen
vertilgen»
Es lassen sich eine Fülle von Stellen aus dem Alten Testamente anführen,
die alle immer wieder den lebendigen Stein, den unbehauenen Stein, als
«Wohnung Gottes», «Beth-el» ansehen. Daher muss auch zur Entzündung des
heiligen Feuers auf den Altären das Feuer aus Feuersteinen geschlagen
werden. Vermutlich lagen in der alten Bundeslade als «Tafeln des Gesetzes»
ebenfalls heilige Steine, die sich dann im Allerheiligsten des Tempels
befanden.
Der Stein des Propheten
Im Allerheiligsten des Tempels ragte aber auch die Spitze des Berges
Moria auf. Das ist ein Felsen, der aus der Erde aufragt, über die später die
Omar-Moschee des Felsendoms, auf dem Platz des zerstörten Tempels, gebaut
wurde und noch heute zu sehen ist als heilige Stätte dreier Religionen der
Juden, der Moslems und der Christen.
Die Spitze dieses Steines oder Berges auf dem Platz des Tempels Salomos
war nach der Legende schon immer eine heilige Stätte. Es war der Stein, auf
welchem Jakob schlief, und im Schlaf die Himmelsleiter sah und als Stätte
Gottes, Beth-El, empfand. Hier war der Ort, auf welchem Abraham seinen Sohn
Jsaak seinem Gott zum Opfer darbringen sollte. Hier war der Ort, auf welchem
schon Adams Söhne Kain und Abel ihre Opfer darbrachten; hierher kam dann
auch Noah, um Gott für seine Rettung von der Sintflut zu danken.
Dieser Stein befand sich schon vor dem Allerheiligsten des jüdischen
Tempels. Über ihm befand sich der grosse Brandopfer-Altar, der einen
quadratischen Sockel hatte. 5 Meter hoch und 10 Meter breit und lang war er.
Nach der Beschreibung Hesekiels glich er einer babylonischen Zikkurat mit
drei sich nach oben verjüngenden Stufen, die zu einer Plattform führten, auf
welcher der Altar stand. Auf diesem brannte ständig ein Feuer, und die Asche
fiel auf den heiligen Stein herunter. Der Altar soll 5,5 Meter im Quadrat
gewesen sein und an seinen Ecken Hörner gehabt haben, wie wir das aus dem
vorderasiatischen Raum vielfach kennen. Der Sockel des Altars hiess «heeq
haares» was soviel wie Brust oder Busen der Erde bedeutet, eine Bezeichnung,
die wohl auch aus dem Babylonischen stammt. Denn das Fundament des Turmes
von Babel wurde vom König Nebukadnezar auch «Busen der Erde» oder «Sockel
der Unterwelt» benannt.
Wir erfahren also auch hier die Stein- und Bergsymbolik, wie wir sie in
ganz ähnlicher Weise bei vielen Völkern der Erde kennen.
Nach der Legende geht dieser Stein auf den ersten Schöpfungstag zurück.
Von ihm aus wurde die Erde erschaffen; unterhalb dieses Felsens entspringt
ein paradiesischer Fluss, dessen Wasser bei der Befruchtung der Erde bis zum
Himmel emporstieg und als Regen wieder zu ihr herabkam. Aus einer Handvoll
Erde von diesem Felsen wurde der erste Mensch erschaffen.
Für Moslems ist dieser Stein nach der Kaaba der verehrungswürdigste auf
Erden, denn von ihm aus ritt Mohammed auf seinem weissen Pferde Burak in den
Himmel und noch heute ist sein Fussabdruck zu sehen. An den Mauern einer
Höhle unterhalb der heutigen Omar Moschee, die der Kalif al-Malik (637–691)
zu Ehren der Himmelfahrt Mohammeds errichten liess, werden noch schöne,
geschnitzte Gebetspulte Mohammeds, Abrahams und Salomos gezeigt: In einer
noch tiefer gelegenen Höhle versammeln sich zu bestimmten Zeiten die Geister
dieser grossen Verstorbenen. Wie so vieles andere übernahmen die Moslems von
den Juden auch die oben angeführte Legende von dem «Gründungsstein» sowie
die von Jakob und seinem Traum mit der Himmelsleiter. Mohammed begrüsste bei
seinem Besuch Jerusalems den Stein mit den Worten: «Heil dir, o Felsen
Gottes», worauf der Fels antwortete: «Der Friede sei mit dir, o Abgesandter
Gottes!»
Christliche Legenden fügen hinzu, dass der Fussabdruck auf dem Felsen
nicht derjenige des Pferdes von Mohammed, sondern derjenige von Jesus war,
der hier die Wechsler aus dem Tempel trieb und hier soll auch die Jungfrau
Maria den Jesusknaben den Priestern dargebracht haben.
Steine, die vom Himmel fallen
An dieser Stelle ist sicher auch der kubische Stein in Mekka zu erwähnen.
Ganz aussergewöhnliche Steine sind Meteoriten, das heisst vom Himmel
gefallene Steine, die in besonderer Weise verehrungswürdig waren und eine
Verbindung zum Transzendenten herstellten. Hier war ein Übergang erkennbar,
hier war eine Pforte aufgetan worden zum Himmel, aus welchem der Stein
gefallen war. Die Kaaba ist der grosse Kubus auf dem Platz der
Zentralmoschee in Mekka, die nur den Moslems zugänglich ist. In eine Ecke
dieses Kubus ist ein schwarzer Meteorit eingelassen, der besonders verehrt
und von den Pilgern auch geküsst wird. Deshalb geniesst er auch eine solche
Verehrung. Denn von hier aus konnte man den Himmel offen sehen. Das war für
jeden Muslim der Höhepunkt seiner Pilgerreise nach Mekka.
Es gibt weitere Meteoriten, die verehrt werden. In Emesa in Syrien wurde
der Gott Elagabel in einem schwarzen, schweren
Meteoriten verehrt, der dann von dem römischen Kaiser feierlich in einen
Tempel nach Rom überführt wurde. Auch der schwarze Meteorit der phrygischen
Göttin Kybele , der Magna mater, der Grossen Mutter, wurde auf Geheiss der
Sibyllinischen Bücher im Jahre 204 vor Chr. aus Pessinus in Galatien nach
Rom überführt und von den angesehensten Matronen Roms unter dem Jubel des
Volkes in einen Tempel auf dem Palatin geleitet.
In der Freimaurerei
Doch kommen wir nach diesem geschichtlichen Exkurs zurück zur
Freimaurerei. Ich zitiere aus Lennings Grosser Enzyklopädie der
Freimaurerei: «Der rauhe Stein, der auf den Arbeitsplatz gebracht wird, ist
das Sinnbild des an Geist und Herzen unvollkommenen Menschen, bei dem die
sinnliche Natur die geistige überwiegt, der aber mit rechtem Ernst und
heiligem Eifer seiner geistigen und sittlichen Vervollkommnung
entgegenstrebt. In diesem Sinnbild sind die wichtigsten Pflichten des
Maurers, die der Selbstbeherrschung und Selbstveredelung, versinnbildlicht.
In Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit wird er demütig gegen Gott,
streng gegen sich und nachsichtig gegen andere sein, wodurch er zu ihnen in
ein derart inniges Verhältnis tritt, wie es dem Geist der Freimaurerei
entspricht». Er wird mit Kraft und Energie alle unedlen Leidenschaften, die
ihn herabzuziehen drohen in das Gemeine, bekämpfen; zugleich wird er dahin
streben, dass er durch möglichste Befreiung des Verstandes vor Irrtümern und
Vorurteilen zur Klarheit sowohl der Anschauung, als des Denkens, zur
Erkenntnis des Wahren, Schönen und Guten gelange, und dass das Herz frei sei
von Egoismus, dafür aber erfüllt werde von reiner selbstloser opferfreudiger
Nächstenliebe. So muss der Freimaurer unter Anwendung von Massstab und
Spitzhammer den rauhen Stein bearbeiten, dass er zu einem kubischen Stein
werde mit rechtwinklig aufeinanderstossenden und schöngearbeiteten Flächen.
Die rauhen Steine geben, übereinandergeschichtet, nur einen wüsten
Haufen. Nur der kubische Stein ist geeignet, mit andern seinesgleichen sich
zusammenzufügen zum harmonischen Bau, zur schönen Gestaltung, als Baustein
zu dienen beim Aufbau des herrlichsten aller Tempel, des Tempels der
Humanität. Nur der durch Selbsterkenntnis zur Selbstbeherrschung und
Selbstveredlung gelangte Mann kann mitarbeiten an der geistigen und
sittlichen Hebung seiner Mitmenschen, kann ein würdiges Glied sein des
idealen Bundes sittlich freier Geister (Lenning).
Der Kubische Stein
Der Kubische Stein stellt den vollkommenen Menschen in seiner
ursprünglichen idealen geistigen Vollkommenheit dar, die er wieder erreichen
soll. Zeit seines Lebens strebt der Maurer darnach, seinem kubischen Stein
diese ideale Form zu geben, die er erst mit seinem Tode erreichen wird. Im
Fragenbuch der Grossen Landesloge von Deutschland über die Gesellen werden
folgende Fragen an den Gesellen gestellt:
- Was ist Ihre Pflicht?
- Ihre eigenen Werkzeuge und die der Lehrlinge zu schleifen.
- Welches sind die Werkzeuge eines Freimaurers?
- der Verstand, das Gedächtnis und der Wille. (An anderer Stelle heisst
es: die Vernunft, der Verstand und der Wille.
- Was bedeutet der Ausdruck: sie sollen ihre Werkzeuge schleifen?
- Sich gewöhnen zu verstehen, zu bewahren und zu wollen, was gut ist.
Franz Karl Endres weist in seiner «Symbolik des Freimaurers» darauf hin,
dass der kubische Stein auch an die sozialen Pflichten des Freimaurers
erinnert. Denn wie ein Tempel nicht einfach aus rohen Steinen entstehen
kann, die übereinander getürmt werden, so kann keine soziale Gemeinschaft
aus rohen, nur den eigenen Trieben lebenden Menschen bestehen. Das Behauen
des Steines gleicht der sozialen Erziehung des Menschen und die
Harmonisierung der Steinform erinnert an die Notwendigkeit von sittlichen
Massstäben, ohne die eine soziale Gemeinschaft undenkbar ist. Der kubische
Stein wird so zu einem Symbol des geläuterten Gewissens, «das grosse soziale
Symbol der Freimaurerei».
Der kubische Stein ist ja auch dem Gesellen anvertraut. Der zweite Grad
hat unter anderem auch die Aufgabe, die Gemeinschaft der Brüder und der
Menschen untereinander zu stärken und zu festigen. Dass dieser kubische
Stein natürlich in den weiteren Graden dann seine zusätzlichen Bedeutungen
hat, wird in dieser Besprechung des kubischen Steins klar geworden sein. So
ist die Lehre von den Steinen die Lehre von Gott und den Menschen und ihrer
Entwicklung.
Die Steine auf dem Tapis
Die Arbeitstafel, oder der Tapis, die während den Tempelarbeiten in der
Mitte des Tempels auf dem Boden liegt, enthält – zumindest im ersten Grad –
fast immer einen rauhen und meistens auch noch einen kubischen Stein. In
seinem grundlegenden Werk «Die Arbeitstafel in der Freimaurerei» hat Klaus
C. F. Feddersen zahlreiche Tapis mit rauen und kubischen Steinen abgebildet.
Interessant bei ihm ist auch die Darstellung des zerbrochenen Steins, den
wir in unserem Ritual eigentlich nicht kennen. Nur bei der National-
Mutterloge «Zu den drei Weltkugeln» ist der zerbrochene Stein vorhanden. Er
deutet an, dass
Mässigung im Gebrauch der Werkzeuge am Platze ist, dass nur wahre
Meisterschaft den kubischen Stein vollenden kann. Der zerbrochene Stein
erinnert aber auch an den Tod. Der Maurer hat sein Leben lang am rauhen
Stein gearbeitet. Jetzt da er ihn als kubischen Stein fertig gestellt hat,
wird er zur höheren Arbeit berufen. Sein geglätteter und meisterhaft
bearbeitete Stein zerfällt. Diese Deutung ist nicht unumstritten. Nach einer
andern Deutung soll er den verworfenen Stein darstellen, der einmal zum
Eckstein werden soll. Der behauene oder fertige Stein wurde, insbesondere
wenn grössere Höhen zu überwinden waren, oder er schwer war, mit einem Kran
emporgezogen. Zu diesem Zwecke wurde eine Krampe (auf englisch Lewis) in
eine Höhlung in den fertigen Stein gesteckt und dieser daran emporgezogen.
So finden wir auf vielen alten Arbeitstafeln den behauenen Stein oben mit
einem Ring der Krampe versehen zum Zeichen seiner fertigen Qualität. In
einigen alten Logen wurde der Kran, der den Stein emporzog und der in vielen
Logen englischen Systems vor dem Senior-Warden mit dem daran hängenden
kubischen Stein steht, auch ein Dreieck genannt. Es gibt Logen, die an
diesem Kran den Stein in verschiedene Höhen ziehen und so anzeigen, in
welchem Grad gerade gearbeitet wird.
Vielfach findet sich der behauene Stein auch mit einem spitzen Aufsatz
auf dem Tapis. Hin und wieder gar mit einer Axt in der Spitze. Diese
Darstellung des behauenen Steins findet sich vielfach in Logen, die nach dem
französischen Ritus arbeiten. Warum die Axt dort in den Stein getrieben
wurde, ist bis heute symbolisch nicht zu erklären.
Das Thema, das uns die Grossloge Alpina für den Januar gestellt hat,
lautet aber etwas anders:
Der Stein, ein Kultobjekt?
Im historischen Abriss haben wir gezeigt, dass bei verschiedenen
Glaubensbekenntnissen der Stein durchaus Kultcharakter hatte und auch heute
noch hat. Ich glaube hinlänglich dargetan zu haben, was uns Freimaurer der
Stein bedeutet. Er ist ein Symbol. Der rauhe Stein gehört grundsätzlich zu
den Kleinodien im Tempel. Er ist ein Gegenstand unseres Rituals. So wenig
der Tempel an und für sich heilig ist, so wenig ist auch der Stein heilig.
Um es ganz klar zu sagen, wir Freimaurer feiern keine Kulte. Unsere
Tempelarbeiten sind Rituale. Kult ist in der Religion die geregelte Form der
Begegnung und des Umganges mit dem Göttlichen, bzw. des Heiligen, mit
Verehrung, Anbetung der Gottheit Heiligung des menschlichen Lebens oder der
Abwehr schadenbringender Mächte. Als Freimaurer betonen wir immer wieder,
dass wir keine Religion und auch kein Religionsersatz sind. Wir kennen keine
kirchlichen Kulte. Folglich kann der rauhe Stein auch kein Kultobjekt sein.
Symbolik und Ritual sind archaische Phänomene der Entwicklungsgeschichte
des Menschen, die sich von den Höhlenmalereien und Gräberkulturen der
Frühzeit an durch die gesamte Geistes- und Kulturgeschichte der Menschheit
verfolgen lassen. Aus dieser Sicht sind Gesellschaften, die solche
Traditionen pflegen, eigentlich nichts Aussergewöhnliches. Das Wesen
geheimer Gesellschaften und das initiatische Wesen von Symbolen und Riten
verweisen insofern aufeinander, als letztere nur dann initiatische Wirkung
entfalten, wenn sie unmittelbar erlebt werden, also wenn sie «geheim»
gehalten werden. Das heisst nach Alfried Lehner, «Symbole und Rituale wirken
nur zu einem ganz geringen Teil auf den Verstand. Sie sprechen die tieferen
Schichten der menschlichen Psyche an». Um einen Neuling an ihr Wesen
heranzuführen, waren immer besondere Einweihungen (Initiationen) üblich, die
dem «Neophyten» einen Einstieg in die neue Erlebniswelt ermöglichten. Um
diesen Einstieg wirklich zu einem solchen Erlebnis zu machen, also das
Geschehen nicht vorweg zu nehmen und damit das Erlebnis zu verhindern, war
Geheimhaltung der Riten und Symbole vor den Uneingeweihten erforderlich.
Hieraus erklärt sich im Grunde bereits auch das sogenannte
freimaurerische Geheimnis, das nicht die Geheimhaltung eines «höheren»
Wissens meint. Mag in der Geschichte der Initiationsbünde immerhin auch eine
gewisse Wichtigtuerei einzelner Mitglieder hinzugekommen sein – Geheimnisse
machen interessant – so bleibt dennoch die Tatsache hervorzuheben, dass
Rituale und Symbole dem Bereich des Erlebens zuzuordnen sind, das sich in
seiner Gänze nicht im Gespräch vermitteln lässt.
Die Tatsache, dass die freimaurerische Tradition ihre Herkunft vorwiegend
über die Bauhütten des Mittelalters herleitet, führte zu einer weiteren
Kategorie von Symbolen, die wir als Werkzeugsymbole bezeichnen wollen. Das
bekannteste Symbol der Freimaurerei – ein Symbolpaar – besteht aus
Winkelmass (Richtscheit) und Zirkel, die so zusammengefügt werden, dass der
nach unten geöffnete Zirkel mit dem nach oben offenen Winkelmass als Einheit
empfunden wird. In jedem Grad ist die Anordnung wieder anders. Im ersten
Grad liegt der Zirkel unter dem Winkelmass, im zweiten ist ein Schenkel über
und der andere Schenkel unter das Winkelmass gelegt und im dritten Grad
schliesslich liegt der Zirkel über dem Winkel. Alfried Lehner hat in seinem
Buch «Die Esoterik der Freimaurer» sich umfassend über die Bedeutung dieses
Symbolpaares geäussert. In der Bedeutung beider Symbole als Werkzeug für den
Hausbau gehört der Zirkel in die Hand des «geistigen Arbeiters», des
Architekten. In Übereinstimmung mit den Gesetzen der Mathematik – hier vor
allem der Geometrie und der Statik – entwirft er den Bau auf dem Reissbrett.
Das Winkelmass wird vom Steinmetzen bedient. Er bearbeitet mit der Kraft und
der Geschicklichkeit seiner Hände die Materie und legt den rechten Winkel
an; denn nur der rechtwinklige Stein taugt zum Mauerwerk. Entscheidend für
das erfolgreiche Aufrichten des Baues ist, dass Steinmetz und Bauarbeiter
sich getreulich an die Entwürfe des Baumeisters halten. Jede Abweichung
macht die konzipierte Ganzheit des Baues zunichte und kann zum Einsturz des
Gebäudes führen. Hier liegt der tiefere Sinn des Zusammenfügens von
Winkelmass und Zirkel: Nur wenn die Durchführung dem geistigen Konzept
entspricht und das Konzept die höheren Gesetzmässigkeiten – die Naturgesetze
– beachtet, kann das Werk gelingen.
Ein Ritual ist von seinem Wesen her zeitlos. Es spielt das kosmische
Geschehen nach – ursprünglich ein bewusstes «Spiel» des Menschen, um im
Einklang mit den höheren Mächten zu leben. Nach und nach ging das Wissen um
einzelne Zusammenhänge verloren, und es blieben Formen zurück, die
unterschiedlich gedeutet wurden. Auch die freimaurerischen Rituale haben
sich in Einzelheiten von Zeit zu Zeit und von einer
Lehrart zur andern gewandelt. Die individuell erlebbare Wirkung dieses
Tuns auf die menschliche Psyche aber gehört ungebrochen zu den rituellen
Erfahrungen des Menschen. Nur so ist es zu erklären, dass Rituale auch heute
noch gepflegt werden, und dass sich die Freimaurerei in dieser Form
entwickeln konnte, obgleich unser «aufgeklärter» Geist sich einer
entmythisierten und entgötterten Welt gegenübersieht.
Hier kann noch ein Gedanke eingefügt werden, der nicht unwesentlich ist.
Wir behauen den rauen Stein nicht einfach schematisch zu einem Kubus. Jeder
Stein ist nach seiner Eigenart zu behauen. Jeder Stein hat auch
unterschiedliche Funktionen zu erfüllen: Der eine als tragender Eckstein im
Mauerwerk, der andere als Zierde am gotischen Turm. Bei seiner Arbeit am
rauen Stein ist für den Lehrling der 24zöllige Masstab von hoher Bedeutung.
Er weist darauf hin, dass der Lehrling bei seiner Arbeit an sich selbst die
Zeit mit Weisheit einteilen muss. Die Kelle ist das Werkzeug des Gesellen.
Mit ihrer Hilfe soll er Risse am Bau glätten, das heisst die Zwiste in der
Gesellschaft, auch in der Bruderschaft schlichten und aktiv zum Verstehen
der Menschen untereinander beitragen.