Ein Vergleich mit der freimaurerischen Symbolik
Das «Glasperlenspiel» als Lebensschule
Hermann Hesses «Glasperlenspiel» als Werk und die Freimaurerei als
Lebensschule und Ideal sind beide doppelschichtig und auch entsprechend zu
begreifen. Neben jener Ebene, die sich in einer bestimmten Wirklichkeit
abspielt, verfügen beide vor allem über eine innere, symbolische Ebene. Sie
allein ist ausschlaggebend für das Verstehen des «Glasperlenspiels» und der
Freimaurerei.
WERNER VOLLAND (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Oktober 2003)
Wer sich Symbolen zuwendet, geht davon aus, dass es gewisse Erkenntnisse
und Wahrheiten gibt, die zu tief sind, als dass sie in Worten oder Begriffen
ausgedrückt werden können.
Symbole sind Zeichen des Unsagbaren und vermögen eine stumme Andeutung,
eine Ahnung zu geben. Sie sind ein Mittel, Geistiges sinnlich wahrnehmbar zu
machen und unser Leben in eine bedeutungsvolle Bildersprache umzusetzen.
Sinnbilder können unwirklichen Denkinhalten gemeinverständliche Formen geben
und deren Anschaulichkeit erleichtern und aufklären. Sie sind der bildliche
Ausdruck einer Idee und vermögen ganze Gedankenreihen zusammenzufassen.
Symbole sprechen Gefühle an.
Aber nur jene, welche einer Einweihung auch fähig sind, können von
Symbolen angesprochen werden und die ihnen begegnenden Rätsel entziffern.
Mit der Mitteilung von Symbolen wird ihnen der Schlüssel dazu gegeben, das
Sinnbild zu übersetzen. Nicht allen Menschen müssen daher Symbole
Erkenntnisse vermitteln. Vielen werden sie im Gegenteil grosse Werte
verhüllen.
Es ist der Sinn aller Symbole, dass scheinbar eindeutige Darstellungen
vieldeutig bleiben müssen. Nicht nur von persönlichen Veranlagungen, sondern
auch von den Zeiten, in denen sie betrachtet werden und von der
Erkenntnisstufe des Einzelnen ist die Deutung der Darstellung abhängig. Eine
Erklärung schließt eine andere niemals aus, im Gegenteil, Symbole gehen von
der Voraussetzung verschiedener Auslegungen aus. Und dennoch gibt es Grenzen
der Deutung von Symbolen: dort, wo sie innerhalb einer gleiche Ziele
anstrebenden Gemeinschaft nicht mehr ohne weiteres verstanden werden. Aus
der Auslegung wird dann eine Deutelung.
Die Symbolik
Unser ganzes geistiges Leben ist mit Symbolen durchdrungen. Wir sind uns
dessen nur nicht immer bewusst. Auch die Freimaurerei kennt kraftvolle,
grossartige, ja grandiose Symbole, die uns begleiten und uns bei unserer
Arbeit helfen: der Salomonische Tempel als Kernsymbol, der Tempel der
Humanität, indem nicht einfach auf ein besseres Jenseits verwiesen, sondern
zur Arbeit auf der von Menschen bewohnten Erde aufgefordert wird, der rauhe
Stein als Zeichen der Arbeit an sich selbst und der Gruppenarbeit am Bau des
Tempels, die Initiation als Reinigungssymbol, die Wandlung durch die
Elemente, die Wiedererweckung und Neubelebung, die Säulen «J» und «B» als
Gegensatzpaar, die grossen und die kleinen Lichter, Hammer, Meissel und der
24-zöllige Massstab als Werkzeuge der Lehrlinge, Senkblei, Bleiwaage und
Winkelmass als jene der Gesellen und Zeichenstift, Zirkel und Zeichenbrett,
mit welchen die Meister arbeiten, die Kette als Symbol der Einheit aller
Brüder, das Schwert als Ausdruck der Macht der Erkenntnis, die den Schein
von der Wirklichkeit unterscheidet, die maurerische Bekleidung, die Zahlen-
und die Farbensymbole und viele andere Werte, die zur Freimaurerei gehören
und Gemeinsamkeiten zum «Glasperlenspiel» aufzeigen.
Eine der feinsten und höchsten Formen der Symbolik erleben wir in Hermann
Hesses «Die Morgenlandfahrt», die dem «Glasperlenspiel» vorausgeht und mit
ihm unzertrennlich verbunden ist. Den Morgenlandfahrern widmet Hesse sein
Hauptwerk. Im Mittelpunkt steht die Schilderung einer märchenhaften
Täuschung, einer Wanderung durch das Unbewusste.
«Was mir die Erzählung besonders erschwert, das ist die grosse
Verschiedenheit meiner einzelnen Erinnerungsbilder. Ich sagte ja schon, dass
wir bald nur als kleine Gruppe marschierten, bald eine Schar oder gar ein
Heer bildeten, zuweilen bleib ich aber auch nur mit einem einzigen
Kameraden, oder auch ganz allein, in irgendeiner Gegend zurück, ohne Zelte,
ohne Führer, ohne Sprecher. Schwierig wird das Erzählen ferner dadurch, dass
wir ja nicht nur durch Räume wanderten, sondern ganz ebenso durch Zeiten.
Wir zogen nach Morgenland, wir zogen aber auch ins Mittelalter oder ins
goldene Zeitalter, wir streiften Italien oder die Schweiz, wir nächtigten
aber auch zuweilen im zehnten Jahrhundert und wohnten bei den Patriarchen
oder bei Feen. In den Zeiten meines Alleinbleibens fand ich häufig Gegenden
und Menschen aus meiner eigenen Vergangenheit wieder, wanderte mit meiner
gewesenen Braut an den Waldufern des oberen Rheins, zechte mit
Jugendfreunden in Tübingen, in Basel oder Florenz, oder war ein Knabe und
zog mit den Kameraden meiner Schulzeit aus, um Schmetterlinge zu fangen oder
einen Fischotter zu belauschen, oder meine Gesellschaft bestand aus den
Lieblingsfiguren meiner Bücher, es ritten Almansor und Parzival, Witiko oder
Goldmund neben mir, oder Sancho Pansa, oder wir waren bei den Barmekiden zu
Gast. Fand ich mich dann in irgendwelchem Tale wieder zu unserer Gruppe
zurück, hörte die Bundeslieder und lagerte dem Führerzelt gegenüber, so ward
mir alsbald klar, dass mein Weg in die Kindheit oder mein Ritt mit Sancho
notwendig mit zu dieser Reise gehörten; denn unser Ziel war ja nicht nur das
Morgenland, oder vielmehr: unser Morgenland war ja nicht nur ein Land und
etwas Geographisches, sondern es war die Heimat und Jugend der Seele, es war
das Überall und Nirgends, war das Einswerden aller Zeiten. Doch wurde mir
dies nur je und je für einen Augenblick bewusst, und darin eben bestand das
grosse Glück, das ich damals genoss. Denn später, sobald dies Glück mir
wieder verlorengegangen, sah ich diese Zusammenhänge deutlich ein, ohne doch
den mindesten Nutzen oder Trost davon zu haben. Wenn etwas Köstliches und
Unwiederbringliches dahin ist, dann haben wir wohl das Gefühl, aus einem
Traum erwacht zu sein. In meinem Fall ist dies Gefühl unheimlich richtig.
Denn mein Glück bestand tatsächlich aus dem gleichen Geheimnis wie das Glück
der Träume, es bestand aus der Freiheit, alles irgend Erdenkliche
gleichzeitig zu erleben, Außen und Innen gleichzeitig zu vertauschen, Zeit
und Raum wie Kulissen zu verschieben. So wie wir Bundesbrüder ohne Auto oder
Schiff die Welt durchreisten, wie wir die vom Kriege erschütterte Welt durch
unseren Glauben bezwangen und zum Paradiese machten, so riefen wir das
Gewesene, das Zukünftige, das Erdichtete schöpferisch in den gegenwärtigen
Augenblick.»
Hesse selbst sagt zur Häufung und Verbindung der verschiedenen Symbole
dieser Dichtung: «Die Symbolik selbst braucht dem Leser ja gar nicht «klar»
zu werden… er soll die Bilder in sich hineinlassen und ihren Sinn, das, was
sie an Lebens- Gleichnis enthalten, nebenher mitschlucken, die Wirkung
stellt sich dann unbewusst ein.» Könnte man es treffender formulieren? Kaum!
Die schier undurchdringliche, vom Autor aber bewusst geplante Esoterik wird
so verstanden wenigstens ahnbar. Die scheinbar verwirrende Symbolik löst
sich auf zur verständlichen Darstellung geistiger und seelischer Inhalte.
Das Innerste wird aufgenommen und das Symbol in der echten und magischen
Weise erlebt. Das ist der Wert der Symbolik.
In der Szene der Orakelbefragung im «Glasperlenspiel» wird der Anfang der
geistigen Entwicklung Josef Knechts verdeutlicht. Das Zeichen Mong bedeutet
«Jugendtorheit». Es ist das vierte Hexagramm aus dem «I Ging, das Buch der
Wandlungen», und besteht aus zwei Trigrammen, oben dem Zeichen Gen, das
Stillehalten, der Berg, und unten dem Zeichen Kan, das Abgründige, das
Wasser. Der Text zum Zeichen Mong lautet:
«Auf doppelte Weise ist das Gedenken der Jugend und Torheit in diesem
Zeichen nahegelegt. Das obere Zeichen, Gen, hat als Bild einen Berg, das
untere, Kan, hat als Bild das Wasser. Die Quelle, die unten am Berg
hervorkommt, ist das Bild der unerfahrenen Jugend. Die Eigenschaft des
oberen Bildes ist das Stillehalten, die des unteren der Abgrund, die Gefahr.
Das Stillehalten vor einem gefährlichen Abgrund ist ebenfalls ein Symbol der
ratlosen Torheit der Jugend. In den beiden Zeichen liegt aber auch der Weg,
wie die Jugendtorheiten überwunden werden können: Das Wasser ist etwas, das
mit Notwendigkeit weiterfliesst. Wenn die Quelle hervorbricht, so weiß sie
zunächst freilich nicht, wohin. Aber füllt sie durch ihr stetiges Fliessen
die tiefe Stelle, die sie am Fortschritt hindert, aus, dann ist der Erfolg
da.
Die Königliche Kunst
Die Dichtung «Das Glasperlenspiel» ist wohl sehr umfangreich und nicht
ohne weiteres verständlich, aber dennoch besser fassbar und in Worten zu
erklären als das Instrument gleichen Namens, von dem wohl im Werk vielerorts
die Rede ist, aber nie ganz genau gesagt werden kann, um was es sich denn
eigentlich handelt. Als Vorläufer liegt ihm ein Kugelzählapparat zugrunde,
ein Rahmen mit einigen Dutzend Drähten, auf welche man Glasperlen
verschiedener Farben, Form und Grösse aneinander reiht:
«Es liegt letzten Endes völlig im Belieben des Historikers, wie weit er
die Anfänge und Vorgeschichte des Glasperlenspiels zurückverlegen will. Denn
wie jede grosse Idee hat es eigentlich keinen Anfang, sondern ist, eben der
Idee nach, immer da gewesen. Wir finden es als Idee, als Ahnung und
Wunschbild schon in manchen früheren Zeitaltern vorgebildet, so zum Beispiel
bei Pythagoras, dann in der Spätzeit der antiken Kultur, im
hellenisch-gnostischen Kreise, nicht minder bei den alten Chinesen, dann
wieder auf den Höhepunkten des arabisch-maurischen Geisteslebens, und
weiterhin führt die Spur seiner Vorgeschichte über die Scholastik und den
Humanismus zu den Mathematiker-Akademien des siebzehnten und achtzehnten
Jahrhunderts und bis zu den romantischen Philosophen und den Runen der
magischen Träume des Novalis.» Hier werden Gemeinsamkeiten mit der
Freimaurerei sichtbar. Erinnern wir uns an Lessings «Ernst und Falk», wo es
heißt: «Die Freimaurerei war immer.»
Was also ist dieses Spielzeug und Instrument, dieser Apparat, dieses
komplizierte und unendlich vielfältig kombinierbare System? Hat das
Glasperlenspiel wirklich etwas mit Glasperlen zu tun? Wohl am Anfang, aber
später wird es zu einer Sprache, zu einem ganzen System der Verständigung.
Das Glasperlenspiel hat wie jede Sprache seine Regeln und verfügt über
komplizierte Formeln und Abkürzungen. Es ist eine Art hochentwickelte
Geheimsprache.
Aber so tief diese Sprache ist, so wenig will sie sich auf eine der
Hauptwissenschaften beschränken. Sie soll vielmehr verschiedene
Wissenschaften wie Philosophie, Geschichte, Physik, Architektur, ganz
besonders aber Mathematik und Musik nebeneinander stellen, zueinander in
Beziehung bringen, auf einen gemeinsamen Nenner bringen und zusammenführen.
Es ist ein Spiel mit den Inhalten und Werten unserer Kultur und verkörpert
die ewige Idee des geistigen Dranges zur Einheit und Harmonie.
Eine solche Sprache muss dehnbar sein und verknüpfen und zusammen
schliessen können. Sie ist eine Art Begriffsschrift, eine Spiel- und
Zeichensprache, die durch Symbole einen ganzen Bilderstrom entstehen lassen
kann. Hesse greift immer wieder auf asiatische Kulturen zurück. Mit dem
Begriffspaar YIN und YANG erläutert er nicht nur die Polarität, sondern
zeigt an ihm auch die vielfältigen Möglichkeiten einer Sprache auf. Die
chinesischen Begriffe werden als Symbol gebraucht und sind frei von
Endungen, weshalb sie fast unbeschränkt auch für verschiedene Wortarten
angewandt werden können. YANG bedeutet beispielsweise nicht nur das
Männliche, sondern auch «männlich» und gleichzeitig «lichtvoll,
schöpferisch» und «geistig». YIN beschränkt sich umgekehrt nicht auf das
Weibliche, sondern bezeichnet auch «weiblich, weibisch» und ebenso das
Nächtige, Schattige, Stoffliche, Kühle, Feuchte, Verborgene, Versteckte,
Zuammenziehende und Empfangende. Zudem besitzt jedes Zeichen die beinahe
unbegrenzte Möglichkeit der Erweiterung durch die Verbindung mit anderen
Begriffen. Ein YIN-Wind zum Beispiel bedeutet, dass es sich dabei um einen
kühlen und feuchten Wind handelt. Eine derartige Sprache hat den gewaltigen
Vorteil, dass jeder, der sie in ihrem System versteht und ihre Gesetze
beherrscht, fast nach Bedarf beliebig viel neue Symbole zu schaffen vermag.
Kehren wir ein zur Szene der Begegnung Josef Knechts mit dem Älteren
Bruder zurück! Sie zeigt uns die bildhafte, ja symbolische Sprache Hesses
aufs schönste. Es ist die Rede von Knecht, der am Morgen am Wasser bei den
Goldfischen sitzt und in die kleine kühle Welt von Dunkel und Licht blickt.
Morgen bedeutet bei Hesse «Zeit der Frische, des Neubeginns, des jungen
freundlichen Antriebs, des Erwachens.» Dieses «Morgen» wird in der Folge
gezielt und auffallend oft wiederholt: «Knecht stand am Morgen auf; der Fels
schnitt in den kühlen Morgenhimmel; hinter dem finsteren Felsgrat wogte der
Himmel im Morgenlicht.» Den festlichen Morgen- und Sonnenbegrüssungstanz
Titos nennt Hesse «Ritus der Sonnen- und Morgenfeier». Den Teich im Garten
des Älteren Bruders bezeichnet er als «kleine kühle Welt». «Kühl» und «kalt»
verbindet der Dichter mit dem Begriff «Ewigkeit, Unsterblichkeit, Geist und
Geistigkeit». Die Ideogramme sind offensichtlich: Der Morgenhimmel ist kühl;
vor Knecht liegt ein steiler Felsabhang schroff und kalt im Schatten; Knecht
spürt die kühle und würdevolle Fremdheit der Hochgebirgswelt; die ganze
Gegend atmet stille und kalte Größe; Josef Knecht kommt an einem kalten
Morgen im eisigen Wasser des Hochgebirgsees um: «Der See … empfing ihn mit
Eiseskälte, … die grimmige Kälte umfasste ihn.» Und schliesslich wird er von
dem «eisigen Element» bezwungen.
Die Ansammlung symbolischer Begriffe, von Ideogrammen, steigert in diesem
Fall das Erlebnis zu einem Mysterium. So viel Kraft liegt nur in der
Symbolik.
«Das Glasperlenspiel» als esoterische Übung
«Das Glasperlenspiel» ist eine esoterische Übung. Die Formeln sind nur
für Eingeweihte verständlich. Diese aber haben kein Interesse, die
Spielregeln zu vereinfachen, allgemein verständlich zu machen oder gar
preiszugeben. Sie könnten es auch gar nicht. Hesse will es auch als Dichter
nicht tun. Er hütet sich davor, das Geheimnis anzutasten. Nur auf «magischem
Wege, in fragmentalen Visionen und Beschwörungen» mag dies geschehen.
Innerhalb der kastalischen Gemeinschaft, da wird wohl über den Sinn, die
Herkunft und den Gehalt jedes Zeichens eine strenge Betrachtung abgehalten
und werden die Einbildungskräfte angeregt und in Gang gebracht, niemals aber
ausserhalb des Kreises der Eingeweihten.
Die Brücke zur Symbolik der Freimaurerei ist offensichtlich. Die
Königliche Kunst kann gewiss zweischichtig verstanden werden. Aber nicht das
«Royal Art» in Andersons historischer Einleitung und wohl auch nicht in
erster Linie die Bausage des Königs Salomo stehen im Vordergrund.
Die eigentliche Königliche Kunst besteht darin, mit Hilfe unserer Symbole
an der Humanität zu arbeiten. Im Gegensatz zum Glasperlenspiel ist sie keine
Wissenschaft, also nicht eine Angelegenheit des Verstandes, sondern ein
inneres Ringen, Erleben, Wachsen und Reifen.
Eines ist beiden gemeinsam: Die Königliche Kunst ist ebenso schwer
fassbar und mitteilbar wie die Wissenschaft des Glasperlenspiels.
Der Orden
Die Erzählung über die Morgenlandfahrt kündet von einem geheimen Bund
«aller wesensfreien Menschen». Es ist eine Fahrt ins Märchenland, der Traum
von Jugend, vom Aufbruch des Menschen ins Reine, in den heiligen Osten.
Durch die Darstellung des Werkes, eine einzige Wanderung, wird Hesse immer
wieder in Verbindung mit der Freimaurerei gebracht. Beim Lesen der Erzählung
«Die Morgenlandfahrt» und des Romans «Das Glasperlenspiel» denken wir ganz
natürlich an die Freimaurerei. Hesse selbst lässt uns aber nicht im Zweifel
darüber, dass wir eine Verbindung zwischen ihm und der Freimaurerei zu
Unrecht herstellen. Recht hart sagt er, dass ihm die Freimaurerei nie etwas
bedeutet und er bei seinem Buch auch nie daran gedacht hat. Das ist für uns
Freimaurer enttäuschend, im Grunde aber belanglos. Viel wichtiger ist der
folgende Brief an eine Leserin: «Was mich selbst betrifft, ich habe nicht in
Kastalien gelebt, ich bin Eremit und habe nie irgendeiner Gesellschaft
angehört, ausser jener der Morgenlandfahrer, eines Bundes von Gläubigen,
dessen Existenzform eine sehr ähnliche ist wie die Kastaliens. Aber seit
etwa einem Dutzend Jahren, seit da und dort Teile meines Buches über Josef
Knecht bekannt wurden, bin ich nicht selten durch Grüsse, Zurufe und Fragen
von Leuten erfreut worden, die irgendwo im Stillen arbeiten und spekulieren
und für welche das Ding, das ich Glasperlenspiel genannt habe, ebenso
existent war wie für mich. Sie fühlen es von ihrer Seele bejaht, sie haben
davon ein Wissen oder eine Ahnung gehabt längst vor dem Erscheinen meines
Buches, sie haben es als geistige und sittliche Forderung erlebt, und sie
beginnen immer mehr auch seine gemeinschaftliche Kraft zu erkennen. Sie
führen weiter, was ich in meinem Buch angedeutet habe: Paululum
appropinquant. Und mir scheint, auch Sie gehören zu ihnen und wohnen näher
bei Kastalien, als sie wussten.»
Freimaurerei zwischen Ideal und Wirklichkeit
Es ist die Rede von der Unterscheidung zwischen Geist und Institution der
Freimaurerei, vom freimaurerischen Geist als wirkende Kraft und vom
Unterschied zwischen Geschichtswahrheiten und ewigen Vernunftwahrheiten.
200 Jahre sind vergangen. Was ist geblieben von Gedanken wie: «Die
Freimaurerei ist nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches: sondern etwas
Notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft
begründet ist. Folglich muss man auch durch eigenes Nachdenken ebenso wohl
darauf verfallen können, als man durch Anleitung darauf geführt wird»? Und:
«Worte und Zeichen sind nicht die Freimaurerei»? Oder: «Die Freimaurerei war
immer»? Letztlich: «Die wahren Taten der Freimaurer sind so gross und weit
aussehend, dass ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: Das
haben sie getan! Gleichwohl haben sie alles Gute getan, was noch in der Welt
ist – merke wohl: in der Welt! und fahren fort, an all dem Guten zu
arbeiten, was noch in der Welt werden wird – merke wohl, in der Welt!»
Lessings Ansichten sind bis heute vorbildlich für alle Suchenden geblieben.
Er versuchte nicht, die Aufgaben unseres Bundes zu mystifizieren.
Ausdrücklich verlegte er sie in die Welt, ins Diesseits: Die Freimaurer
haben das Gute getan, das Gute in der Welt, und sie wirken es weiterhin.
Alle führenden Geister des deutschen Idealismus waren seiner Gesinnung,
und viele von ihnen waren Diener der Königlichen Kunst. So bekannte Goethe:
«Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt. Tor, wer dorthin die Augen
blinzelnd richtet – Er stehe fest und sehe hier sich um.» Und Herder,
wohlverstanden Theologe, sagte: «Nicht die Wissenschaft des Zukünftigen und
die Spekulation über dasselbe ist die Lektion meines Lebens, sondern der
Gebrauch des Gegenwärtigen. Dazu habe ich Mittel und Kräfte.»
Hier also, in der Wirklichkeit, ist das Reich unserer Erfahrungen, aus
denen unsere Vernunft Einsicht gewinnt, und nur einsichtiges Handeln
bedeutet schliesslich Freiheit. Da aber tritt das Problem zutage. Zwischen
ihr, der Vernunft und den menschlichen Leidenschaften, erhebt sich ein
Widerspruch, der durch die ganze Geschichte der Menschheit geht: Das
ehrliche Wollen des Guten und Edlen, die Liebe dazu und die schmerzliche
Erfahrung, dieses Ziel nie ganz zu erreichen und schwach und fehlbar zu
bleiben. Es ist die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit.
Aber geht damit auch das Gute, das die Diener der Königlichen Kunst
bewirkten, am Ende im Sinnlosen unter? Solches zu denken würde bedeuten, auf
den Glauben an das Menschliche und das Ewige im Menschen zu verzichten. Wir
würden uns aufgeben. Nein!
Die Gesinnung, die hinter der Loge stand, die Lessing und Herder wollten,
war eine echte, wahre historische Gesinnung. Sie lehrte, dass die
Verwirklichung ihrer Ideale keinem Menschen geschenkt wird, dass jeder sie
im Bunde mit Gleichgesinnten und im Kampfe mit sich selbst erringen müsse.
Sie lehrte ferner, dass auch die ethische Anschauung als solche dem
geschichtlichen Wandel unterworfen ist, weil der Geist der Menschen sich
durch die wenigen Jahrtausende, von denen wir uns Rechenschaft zu geben
vermögen, ebenfalls ständig gewechselt hat.
Was meinte Lessing wohl mit dem Ausspruch, dass die Freimaurerei immer
gewesen sei? Am Schluss des vierten Gespräches bestreitet er mit Nachdruck,
«dass das, was die Freimaurerei ist, immer Freimaurerei geheissen» habe. Es
geht also um etwas anderes als die uns seit 1717 bekannten Logenformen.
Gemeint ist der lebendige Geist der Gesellschaftsformen des
Menschengeschlechts, eine esoterische Beschäftigung mit dem hohen Ethos der
menschlichen Gesellschaft, die immer eine mit tiefem Ernst betriebene Sache
einer geistigen Auslese der Völker war. Es waren meistens die Besten, die
der Menge voraus den inneren Weg zur Sinnerfüllung des menschlichen Daseins
gingen.
Das bestätigt auch Herder: «Was förderte den Fortgang des Menschen im
Menschengeschlecht und was hielt ihn zurück? Einzelne grosse und gute
Menschen förderten ihn, die eine neue Geburt der Gedanken und Bestrebungen
ans Licht brachten. Sie erschienen wie Genien und zwangen andere weiter. –
Was hemmte hierauf den Fortgang und machte, dass jede neue Bindung immer nur
ruckweise geschah? Die Trägheit anderer Menschen. – Es muss also eine große
Wiedergeburt der Gesinnungen unseres Geschlechts vorgehen, dass unser Reich
der Macht und Klugheit auch ein Reich der Vernunft, Billigkeit und Güte
werde.» Was dann endlich unter dem Namen «Freimaurerei» entstand, war ein
spät geborenes Kind der menschlichen Vernunft, die aus einer
jahrtausendlangen Kette von politischen und kulturellen Irrtümern, die sich
wie eine ewige Krankheit durch die Zeiten vererbten, die zeitgemässen
Folgerungen zog. Die Stifter des neuen Bundes waren klarsichtige Männer der
Welt, in der sie lebten. Sie bedurften der Erfahrungen, die ihnen die
historischen Katastrophen ihrer Zeit in reicher Fülle vermittelten. Was sie
unter den Begriffen der Humanität und Toleranz zusammenfassten, war zunächst
keine Angelegenheit der Menge, aber auch nicht der Machtbeflissenen in Staat
und Kirche. Es versammelten sich um die grossen Ideen zur Befriedigung der
menschlichen Gesellschaft und der Völker auserlesene Geister zu einer
Bruderschaft des Altruismus, kraft dessen sie die trennenden Klüfte in der
Gesellschaft zu überbrücken bestrebt waren. Das Mittel dazu sollte ein
vorurteils- und vorbehaltloses Erkenntnisstreben sein, um in der hellen
Beleuchtung der Wirklichkeit Wesen und Wirkung der eigenen hohen Kunst zu
erklären und damit zu klären.
Die Aufgaben sind noch lange nicht erfüllt
Auch heute noch ist die Freimaurerei «nichts Entbehrliches», sondern
etwas Notwendiges. Die Aufgaben unseres Bundes sind bei weitem noch nicht
erfüllt. Die sittlichen Haupttendenzen der Freimaurerei, nämlich Humanität
und Toleranz, sind nicht nur noch gültig, sondern als Forderungen des
Jahrhunderts gültiger denn je.
Vielleicht ist dies kein gutes Zeichen und rührt an unserem
freimaurerischen Gewissen. Zweifel an den «wahren Taten» der Freimaurerei
werden wach. Hat sie in ihren Hauptanliegen versagt? Der Vorwurf ist wohl
nicht ganz unberechtigt, trifft sie und alle menschlichen Institutionen aber
aus gleichen Gründen, die eine sittliche Erziehung des Menschen und die
Ethnisierung des gesellschaftlichen und politischen Wesens anstreben. Ist
nicht das Abendland, das sich gerne christlich nennt, trotz tausend Jahren
der Erziehung durch die Kirchen unchristlicher als je zuvor?
Die Zweifel gelten dem Gedanken, dass es möglich sei, den übergrossen
Teil der Menschheit, der sich nie über ein primitives Niveau erheben wird,
zu wandeln. Denken wir an Herders Wort von der retardierenden Menge, die den
Genien der Menschheit nicht zu folgen vermag! Zweifel an Illusionen also?
Vielleicht, aber sie vermögen das lebendige und stete Feuer inmitten der
Weltenfinsternis nicht auszulöschen und den Willen, am Guten zu arbeiten,
Vorurteile und Intoleranz zu überwinden und gegen Dummheit, Feigheit und
Spießertum zu kämpfen, nicht zu hemmen.
Das Licht leuchtet in der Finsternis!
Ob wir können, was wir wollen, bleibt die entscheidende Frage. Haben wir
die sittliche Kraft, neue Werte einer Ordnung der Liebe zu setzen, oder
gehorcht das Geschehen unwillkürlich einem blind waltenden Schicksal, das
sich in Gegensätzen und Begegnungen wie in einem sinnwidrigen, aber
bitterernsten Spiele aller gegen alle im Guten und Bösen auswirkt?
Trotz eines im Diesseits verwurzelten historischen Bewusstseins, einer
auf Erfahrung beruhenden neuen Einstellung zum kosmischen Geschehen, einer
Rationalität, von der es kein Zurück mehr in ein magisch-mythisches Denken
gibt, erhebt die Freimaurerei den Anspruch, eine Stätte uralter esoterischer
Überlieferungen zu sein. Wie steht es da mit der Forderung Lessings, in die
Welt zu wirken?
Was ist die Loge heute? Setzt sie sich zusammen aus Träumern, Idealisten,
Romantikern – die für einen Wochenabend in universalen, kosmopolitischen
Begriffen schwärmen, die auch in vielen Vereinen, Parteien, Organisationen
umlaufende Münze sind? Oder tragen sie das Stigma des realen Lebens, der
Welt, ihrer Epoche? Wer und was sind sie, sobald nach dem Verlassen ihrer
Zusammenkünfte das symbolische Licht der Weisheit, Stärke, Schönheit hinter
ihnen erlischt? Jeder ehrenwerte Mann darf Freimaurer sein, nichts wird ihn
hindern. Er darf heute alles sein, wozu er sich bekennt. Das ist seine
Freiheit. Aber er wird erst wahrhaft sein, was er ist, wenn er sich in
Krisenzeiten seines Bekenntnisses bewährt. Leugnen wir es nicht: Wie die
Religionen, die Philosophie, die Künste auf dem ihnen zustehenden
kulturellen Sektor in einer Krise stehen, so auch die Freimaurerei. Sie
nennt sich einen ethischen Bund. Auf ihn zielt die zeitgemässe Frage, ob es
noch allgemein gültige Kriterien für Gemeinschaften gibt, die sich zu einer
Lebensanschauung bekennen, in deren Mitte der Mensch steht.
Und das Fazit?
Das Exempel des universalen Lebens geht im menschlichen Verstand niemals
auf. Wer sich zur historischen Gesinnung bekennt, ordnet sich ein in den
strukturellen, den formalen Wandel des Lebens, das heißt, er denkt und
handelt bewusst im Geschichtsvollzug des menschlichen Geistes. Von ihm kann
sich auch die Freimaurerei ihrem Wesen gemäß nicht ausschliessen.
Die vorbehaltlose Suche nach «Wahrheit» ist eine Krise in Permanenz, ein
fortgesetztes Schaffen und Überwinden geistiger und seelischer Spannungen in
einer Bewusstseinssphäre, in der die edleren menschlichen Kräfte in
kontinuierlicher Bewegung sind und mit jeder Neuerschliessung eines
Gegenstandes auch ein neues Organ der Erkenntnis aktivieren. Ihr Ziel ist,
in den Realitäten der Welt Klarheit zu schaffen. Diese wirft ihr Licht
voraus auf den Weg, auf dem wir ewige Wanderer sind im Streben zur Wahrheit.
Es ist ein geistiges Erleben von ungemein religiöser Tiefe.
Die Grundlagen der Freimaurerei sind stark und gültig: die Alten
Pflichten, die Rituale, der Tempel, die Verfassung und das Gesetzbuch.
Der Tempel bleibt der Bau des eigenen Innern, der durch Arbeit an sich
selbst zu bilden und auszugestalten ist. Unsere Zeit schenkt uns diesen Bau
nicht, sie macht ihn auch nicht leichter – im Gegenteil.
Das Symbolische des Tempels bleibt im Bekenntnis des Freimaurers zur
evolutionären Menschheitsentwicklung, zur Annäherung an eine Offenbarung,
die nie stattfindet und zu einem Optimismus, der an sie beide glaubt.
Auch die Aussage, dass der Einzelne sowohl Subjekt als wirkender
Baugenosse und zugleich Objekt des planmäßigen Bauens an einer höheren
Entwicklungsstufe, der Baubeflissene also gleichzeitig Material des Baues
ist, bleibt jung und bestehen. Sie passt hervorragend sowohl ins
hierarchische Gefüge der Freimaurerei wie auch ins demokratische Denken
unseres Staatswesens. Nicht im Verändern, sondern im Bewahren besteht das
Revolutionäre der Freimaurerei!
Etwas resigniert, aber durchaus realistisch sagt Hesse über den
kastalischen Orden, und meint damit wohl jeden Orden und jedes Gebilde
überhaupt: «dass auch so sublime Gebilde wie das des Ordens aus dieser
trüben Flut geboren und irgend einmal wieder von ihr verschlungen werden.
Das ist der Welt Lauf…»
Ist die Freimaurerei eine Utopie? Der Weg zur Vollkommenheit und zu jedem
Fortschritt ist die fortwährende Selbstprüfung und -erkenntnis. Das
Festhalten oder Befolgen von Grundsätzen, den ihnen entgegenwirkenden
Beweggründen zum Trotz, ist Selbstbeherrschung. Kraft und Dauer wohnen in
der Begrenzung.
Hier wie dort muss jeder im Bunde mit Gleichgesinnten und im Kampf mit
sich selbst ringen. Die Verwirklichung seiner Ideale wird keinem geschenkt.
Alle müssen zur Sinnerfüllung ihres menschlichen Daseins den inneren Weg
gehen: die esoterische Beschäftigung mit dem Ethos der menschlichen
Gemeinschaft.
Gewiss, der Rohe Stein wird nie kubisch werden, aber der Wille zur Tat
muss vorhanden sein, denn sonst werden die rituellen Arbeiten wertlos.
Ist die Freimaurerei eine Utopie? Verlangt sie zu viel? Schafft unser
kubischer Stein überzogene Erwartungen? Sind die daraus folgenden
Ernüchterungen nicht Grund zur Aufgabe? Und kommt dadurch nicht gerade das
heraus, was ursprünglich nicht gewollt war: Unverbindlichkeit,
Oberflächlichkeit, ja sogar eine nur noch begrenzte Aufrichtigkeit?
Wer so denkt, vergisst, dass es nicht nur zwei Pole, Extreme, nicht nur
Schwarz und Weiss gibt. Zwischen blinden Eiferern und stumpfen,
gleichgültigen Menschen bleibt noch fast soviel Raum wie zwischen Himmel und
Erde. Es stellt sich nicht die Alternative: Perfektion oder Nullanspruch.
Dazwischen gibt es noch eine ganze Menge Grautöne, durchaus durchführbare
und annehmbare Haltungen. Es ist auch nicht eine Frage der Mitte. Die
Zielsetzung liegt nicht im obersten Viertel oder Achtel oder Sechzehntel,
nein, die Ebene liegt ganz anderswo: Es geht um das Bestmögliche!
Ernsthaft, aber ohne zum moralisierenden Träumer oder Neurotiker zu
werden, wollen wir in brüderlicher Liebe arbeiten. Wir wollen uns jenen
Fragen stellen und sie zu beantworten versuchen, die unsere Fragen sind, und
nicht ein ganzes Arsenal zwar gut gemeinter, aber unüberschaubarer und in
ihrer Gesamtheit unlösbarer Probleme in Angriff nehmen, und wir wollen uns
auch nicht Themen widmen, die nur noch Tradition sind, uns aber gar nicht
mehr betreffen, sondern nur noch eine unnatürliche und gequälte Reaktion
hervorrufen. Wir wollen suchen, aber nicht nach Lösungen, die es gar nicht
gibt. An uns selbst wollen wir hohe, aber nicht unerreichbare Ansprüche
stellen. Diesen jedoch wollen wir gerecht werden. Und vor allen wollen wir
mit unseren Herzen unbeirrt kämpfen, ohne dabei aus ungezügelter
Leidenschaft und Unbesonnenheit einen verheerenden Flächenbrand zu
entfachen, den wir später nicht mehr zu löschen vermögen.
Die Königliche Kunst besteht zu einem grossen Teil darin, die
Bruderschaft anzustreben, ohne dabei aufzugeben, wenn sichtbar wird, dass
sie nicht in ihrer Absolutheit erreicht wird.
Die Initiationsarbeit der Freimaurerei dämpft vorerst einmal ganz bewusst
alle übertriebenen Erwartungen des Neophyten. Nach allen Regeln der Kunst
wird ihm zuerst einiges abgefordert: Es wird darauf hingewiesen, dass er
gebeten hatte, in den altehrwürdigen Bund der Freimaurer aufgenommen zu
werden, um Wahrheit zu suchen, Bruderliebe zu pflegen und Mannestugend zu
üben. Er muss versprechen, sich gleich den anderen mit all seinen Kräften
begeistert und ausdauernd in den Dienst der Humanität zu stellen und in
Gemeinschaft mit ihnen für Menschenwürde zu kämpfen und Gewissensfreiheit,
Duldung und Menschenliebe mit allen Kräften zu fördern. Er muss geloben,
fortan seine Pflichten als Familienglied, als Bürger und als Mensch mit
erhöhtem Eifer und Opfersinn zu erfüllen, jede ehrliche, die Moral und
Nächstenliebe nicht verletzende Überzeugung in religiösen, politischen und
sozialen Dingen zu achten und im Streben nach Wahrheit und Selbstveredlung
nie zu erlahmen. Er muss sogar beteuern, sich eher den Hals durchschneiden
zu lassen, als eines der beschworenen Geheimnisse preiszugeben.
Das ist gewiss etwas viel. Er wird sich im ersten Moment wohl auch nicht
im Einzelnen, sondern höchstens der Gesamtheit der von ihm eingegangenen
Pflichten bewusst werden. Trotzdem wird er erschlagen sein. Es ist viel,
vielleicht zu viel des Hehren, Erhabenen, Perfekten und Vollkommenen. Die
Angst, nicht fehlen zu dürfen, ohne dabei streng verurteilt und ausgestossen
zu werden und ganz besonders tief zu fallen, ist gross und beklemmend.
Zweifel kommen auf. Hatte er sich überschätzt? Hatte er sich falsch
entschieden?
Mitnichten! Der junge Bruder wird ja nicht einfach in einen luftleeren
Raum gestellt. Er wird von einer ganzen Anzahl aufrichtig bemühter und
erfahrener Brüder auf seinem Weg begleitet und vor allem durch ihre
einfache, aber innig und ehrlich gemeinte Bruderliebe beschenkt.
Der Umfang der Arbeit erlaubt es nicht, noch weiter und tiefer zu
schürfen. Zu kurz kommen dadurch nicht nur die Symbolik des so sinnigen
Namens «Josef Knecht», sondern auch Betrachtungen zu den vier fingierten
Lebensläufen, die uns in vier Jahrhunderte führen, Gedanken zur Initiation
«einer zur Verzweiflung führenden Prüfung», das Ergebnis des Versuches, das
Leben zu begreifen, Überlegungen zum Tod als Opfer, als Zeichen höchster
Vollendung, die Würdigung des Wertes überlieferter Ordnungen, Fragen zum
Weshalb des Fehlens einer weiblichen Gestalt im «Glasperlenspiel» und der
Rolle der Frau in der Freimaurerei und viele andere interessante Momente.
Der Schreibende hat durch das Studium des Themas eine grosse geistige
Bereicherung erfahren. Die wohl schönste und grösste Befriedigung allerdings
wäre für ihn, wenn die Arbeit Anlass dazu böte, auch andere Morgenlandfahrer
und Glasperlenspieler zur besagten Literatur von Hermann Hesse greifen zu
lassen.