Staunen und bewundern
Das Himmelsgewölbe
In der «Kritik der praktischen Vernunft» von Immanuel Kant finden
wir den viel zitierten Satz: «Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer
und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das
Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über uns und das
moralische Gesetz in mir» (1787). Als Philosoph der Aufklärung befreite Kant
damit die Ethik aus der Bevormundung durch die Theologie.
FRANÇOIS LOMBARD (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Dezember 2003)
Hundert Jahre später entdeckt ein zeitloser Sucher die «macchia dei»,
eine Darstellung, die den Durchbruch von der geozentrischen Auffassung der
Antike zum Weltbild von Kopernikus zeigt. Sie könnte also ohne weiteres
einem Werk der Renaissance entstammen. So stand es auch in unzähligen
Büchern als «Holzschnitt aus 1520/30». Nur: der Volksastronom Camille
Flammarion (1842-1925) hatte ihn in Auftrag gegeben für sein Buch
«L’Athmospère – Météorologie populaire», erschienen 1888 in Paris.
Generationen sind dieser Täuschung aufgesessen! Geschickt hat der Autor
Diesseits und Jenseits voneinander getrennt und eine Kugelschale mit
Fixsternen tapeziert. Flammarion hat mit dieser Ikone dem Volk ins Herz
geschaut, hat Vorstellungen und Wissenschaft verknüpft, und vor allem
Kulturgeschichte geschrieben. Wir können vermuten, dass es vier Urerlebnisse
waren, die im frühen Menschen solche Bilder seiner Überwelt weckten, nämlich
der tägliche Gang der Gestirne von Ost nach West, das Lichtphasenspiel des
Mondes, verwandt mit dem Werden, Sein und Vergehen im irdischen Alltag und
Planeten, Meteore, Kometen und Blitze als eigenwillige Kobolde und das Oben
und das Unten.
China und Indien
Wir befragen dazu die frühen Grosskulturen. Sie haben ihre Gedanken über
Werden und Wesen der Welt in Urmythen niedergelegt. China und Indien
erzählen von einem Urriesen, der die Welt erschaffen habe. Der chinesische
Pan-Ku, aus den fünf Elementen geboren, bildete mit Hammer und Meissel aus
einem Felsen die Welt. Er wird dargestellt mit einer Urkugel, antithetisch
aufgeteilt in Yin und Yang.
In Indien ist es der Urriese Prajapati, der in einem Weltei steckt. Er
streckt sich, sprengt das Ei und hebt die obere Hälfte an, die damit zur
Himmelskuppel wird. Beiden diente im Urozean eine Schildkröte als Fundament,
das Tier, das in der Grenzzone zwischen Welt und Unterwelt zuhause ist, wie
die Schlange.
Das traditionelle China ist geprägt vom so genannten «Universismus», der
Einheit und Harmonie von Himmel, Erde und Mensch, eine Weltformel, der wir
bei den Griechen wieder begegnen werden. In der Legende ist denn auch Kaiser
Wang der Universalherrscher, und man hört von Astronomen am kaiserlichen
Hof. Ihrer zwei erlitten die Todesstrafe ums Jahr 2200 v. Chr. Sie hatten
eine Sonnenfinsternis verpokuliert.
Im sinnenfreudigeren Indien finden wir zwei spätere Denkmodelle. Sie
widmen sich dem Aufbau und der Dynamik der Welt. Das erste Bild bringt die
amphibische Schildkröte als Fundament im Urmeer. Ihr gewölbter Panzer hat
kosmischen Bezug: die 24 Randplatten stehen für die 24 Stunden des Tages.
Auf ihrem Rücken tragen vier Elefanten die Eischalenhälfte des Himmels. Dazu
gehört auch die Urwelt-Schlange Ananta, unserem Ouroboros entsprechend.
Das zweite Bild versucht mythisch eine erste Erklärung der täglichen
Drehung des Firmamentes. Auf dem Buckel einer Schildkröte erhebt sich ein
schuppiger Weltenbaum. Eine andere Schlange Shesa ist darum gewickelt. Sie
schwingt sich, mit Sternen bespickt, als Milchstrasse zum Zenith. Gekrönte
Götter und tierköpfige Dämonen versetzen diese Weltachse in Widerstreit in
quirlige Bewegung, bis sich aus dem milchigen Ozean der buttrige Urberg
Amrita erhebt.
Mesopotamien
Im Mythos des Zweistromlandes, dem heutigen Irak, geht die Schöpfung der
Welt auf göttliche Machtkämpfe zurück. Gott Marduk teilte die Chaosgöttin
Tiamat in zwei Hälften. Die eine stemmte er in die Höhe, woraus der Himmel
wurde. Die andere brachte er unter seine Füsse als Erde und Welt für die
Menschen. Man entdeckt hier Anklänge an den biblischen Schöpfungsbericht.
An den Ufern von Euphrat und Tigris entstanden Städte mit
pyramidenförmigen Tempelbauten. So zeigt die altbabylonische Imago mundi
einen in sieben Windungen ansteigenden Stufenturm, gipfelnd im Ararat. Die
Erde schwimmt im irdischen Ozean. Jenseits des Meeres erhebt sich ein
gewaltiger Himmelswall, natürlich inspiriert vom Horizont. Der Wall ist die
Wohnstätte der Götter. Auf ihm ruht das Himmelsgewölbe, von Gott Marduk aus
hartem Material geschmiedet. Tagsüber scheint es im Glanz der Sonne, gleicht
aber bei Nacht einer dunkelblauen, mit Sternen übersäten Glocke. Ein
halbkreisförmiger Tunnel dient der Sonne als verborgener Nachtweg bis zu
ihrem Aufgang. Die Gestirne sind Götter, die auf den ihnen bestimmten Bahnen
ziehen.
Unter der Erdenwelt ist das Totenreich in sieben Stufen aufgebaut. Hier
klingt erstmals die Idee auf von der Stufen-Struktur der Welt. Man versteht
nun die mesopotamischen Stufentürme (Zikkurat), die unter anderem der
Beobachtung der Sterne dienten. Diese Astronomie, sonst auf mathematisch
hohem Stand, widmete sich lediglich dem Kalenderwesen für die Landwirtschaft
und das bürgerlich-kultische Leben.
Ägypten
Die Kosmosvorstellungen der Ägypter waren geprägt von der Hauptschlagader
Nil, seiner von den Überschwemmungen gespendeten Fruchtbarkeit und von der
Sonne, zu der sich bald monotheistische Züge gesellten. Der Erdgott Geb und
die Himmelsgöttin Nut lagen eng vereint. Shu, der Gott des Luftkreises,
drängte die beiden auseinander und hob die mit Sternen übersäte Nut empor.
Täglich überquerte auf ihrem Rücken – auf diesem Bild nicht dargestellt –
die wieder belebende Sonnenbarke den Himmel, oder der Skarabäus- Käfer rollt
seine Mistkugel als Sonnenball von Ost nach West, wo Nut ihn wieder
verschluckt. Im Totenbrauch schaut der Verstorbene auf der Innenseite des
Sargdeckels oder an der Decke der Grabkammer die Himmelsgöttin (mitten im
Tierkreis). Sie nimmt ihn in die Arme und verheisst Auferstehung und Leben
im Jenseits. Sein eigenes Abbild ziert den Boden seines Totenbettes. Das
Himmelsgewölbe wird so zum Garanten für sein Seelenheil.
Griechenland
Anders als in den alten Flusskulturen Asiens, des mittleren Orients und
am Nil sahen die Griechen den Kosmos. Eine offene Inselwelt in der Ägäis
liess ein republikanisches Lebensgefühl steigen, frei von religiösen
Bindungen. Eine Handvoll ionischer Naturphilosophen an der kleinasiatischen
Küste suchte nach 600 v. Chr. nach den Urstoffen, die sie Arché oder
Elemente nannten, Urprinzipien, nach denen die Welt aufgebaut ist. Der
Mythos ist nur noch schmückendes Beiwerk, aber von ungeheuer farbiger
Fantasie. Diese stand Pate für die meisten Sternbilder, die wir heute noch
mit ihren alten Namen kennen.
Ums Jahr 300 v. Chr. setzt in der hellenischen Welt die wissenschaftliche
Astronomie ein. Nüchterner ungebundener Forschergeist begann, den Himmel mit
einem Koordinatennetz zu überziehen, Sterne nach ihrer Helligkeit zu ordnen
und diese zu zählen. Die ersten Sternkataloge umfassten gut tausend
Fixsterne. Der vordem mythische Himmel wurde mathematisch und damit dem
Mythos entzogen. An seine Stelle trat die Hypothese.
Die Weltachse
Eine der frühen Fragen galt der Drehung des Himmelsgewölbes, der Suche
nach einer Weltachse. Aus mehreren Kulturkreisen kennt man das Bild der
Himmlischen Dreschtenne. Um den Dreschbaum, der zum Polarstern zieht,
drehten sieben Dreschochsen ihre Runden. Diese sind die sieben fast gleich
hellen Sterne des Grossen Bären oder Wagens, der als zirkumpolares Sternbild
nie untergeht und deshalb für die Unsterblichkeit steht. Eine sprachliche
Spur haben die «septem triones» hinterlassen im französischen Begriff
«septentrional» für die Nordrichtung.
Nordische Sagen bringen eine neue Erklärung. Im Norden liegt die eisige
Quelle Nifelheim, die ihr Schmelzwasser nach Süden schickt. Aus dem
Urd-Brunnen im Süden kommt warmes Wasser. Beide treffen sich in einer
Grottenmühle und treiben dort mit einem riesigen Wasserrad das
Himmelsgewölbe an.
Ein ausgereiftes Kosmogramm legt uns die Edda vor in ihrem Hohen Lied
Havamal. Eine Weltesche Yggdrasil wurzelt in der Unterwelt und trägt den
Himmel. Dies fast orientalischpoetische Bild hat seine skizzenhafte
Entsprechung auf den Zaubertrommeln der Schamanen. In der Trenndiele
zwischen Himmel und Erde besteht ein Loch, durch das der Magier in Trance
aufsteigen kann. Er wird dort mit den jenseitigen Geistern kommunizieren und
von seinem Trip den Seinen Hilfe zurückbringen. Wir sehen in seiner Hand
seinen magischen Kompass, die Lochscheibe. Solche Pi-Scheiben gehören zu den
ältesten astronomischen Instrumenten der Wissenschaftsgeschichte – heute
gesuchte Antiquitäten. Zugleich illustriert die Lochscheibe die alte
philosophische Weltformel «wie oben, so auch unten», die Hermes Trismegistos
zugeschrieben wird und die ganze Geistesgeschichte der Menschheit
durchzieht.
Der Schichtenhimmel
Kaum jemand ist sich bewusst, dass die Redensart vom «siebten Himmel»
oder der «Wolke Sieben» auf Pythagoras, ja in die Astrologie der Babylonier
zurückgeht. Sprechen deren Sakralbauten von einer Schichtenwelt, so brachten
die Griechen abstrakt-geometrische Modelle. Zwiebelschalenartig sei eine
Himmelssphäre um die andere gelegt. Jede dieser Schalen entspreche einem
Planeten, wozu auch Sonne und Mond gehörten. Plato übernahm diese
Vorstellung von den Pythagoräern in seinem Buch Timaios, und der mächtigste
Astronom der Antike, Ptolemäus lieferte die Geometrie dazu.
Die meisten dieser Modelle hatten Kreisform (Planisphären), wie sie etwa
in unseren Horoskopfiguren weiterleben.
Eine solche Kurzformel muss erwähnt werden, da sie das abendländische
Naturverständnis geprägt hat: das Mundus-Annus-Homo-Kosmogramm. Es zeigt die
drei Bereiche Kosmos, Zeit und Mensch in gegenseitiger Entsprechung fest
verflochten. Die vier Elemente, Jahreszeiten, Qualitäten und Temperamente
sind in ständiger dynamischer Interaktion.
Wendezeit
Die Idee dieser Schichtung alles Seienden erfährt um das Jahr 400 n. Chr.
eine Umwandlung. In den ersten Jahrhunderten erstarkte das Christentum und
wurde dogmatisch. Die Völkerwanderung führte zum Niedergang des Römischen
Reiches. Die hellenistische Wissenschaft kam zum Erliegen, die
Philosophenschule von Athen wurde geschlossen. Der Himmel wurde theologisch.
Ein unbekannter Kirchenmann (Pseudo- Dionysius) ordnete ums Jahr 500
herum den Himmel neu. Um die Platonischen Schalen legte er drei zusätzliche:
den Kristallhimmel, den Himmel des Ersten Bewegers und zuoberst den
Feuerhimmel, das Empyreum als Wohnsitz für die Auserwählten und Götter.
(«Über die himmlische Hierarchie». Der Holzschnitt stammt aus einer später
gedruckten Ausgabe, 1546).
Im 14. Jahrhundert erschien die erste Naturkunde in deutscher Sprache vom
Rektor der Wiener Stephansschule, 1475 erstmals gedruckt. Sublunar wirken
die vier Elemente und das Wetter, oberhalb steigt man auf, manchmal gar auf
einer veritabeln Leiter zum Himmel. (Konrad von Megenberg «Puch der Natur»,
Handschrift 1350).
Den Himmel tragen
Die heroische Tat, das Himmelsgewölbe zu tragen ist ein antikes Motiv aus
der Herakles- Sage. Das Christentum hat es übernommen in der
Heiligen-Legende von Christophorus, der das Christustkind über den Fluss
trägt. Eine der eindrücklichsten Bilder ist das Altarbild vom Meister von
Messkirch im Badischen Kreis Stockach (1525). Siehe Umschlagbild dieser
Nummer.
Eine Kritik und eine Deutung
Jedes Land, jedes Volk, jede Epoche hatte eine eigene Rezeption vom
Himmelsgewölbe. Was unsere Sinne uns von der Aussenwelt vermitteln: die
Lichtbläue oder die Sternbesetzte Kuppel über uns, sie sind im wörtlichen
Sinne Einspielungen. Die Frühaufklärer des 17. Jahrhunderts hinterfragten
unsere Erkenntnisfähigkeit: «Ist wahr, was wir wahrnehmen? ».Sind Form,
Farbe, Grösse, Schichtung und Gestirnumläufe des Himmelsgewölbes nicht
vielmehr Bilder, die aus dürftigen Wahrnehmungen entstanden sind? Bilder,
die mit früheren verglichen werden, dann eingeordnet und mit den damaligen
Erlebnissen getränkt? Mir scheint, sie schlummern vernetzt wie Trauminhalte
tief in uns.
Und dann tauchen sie auf an die Deckel der Mumiensärge, auf die
astrologische Bühne des Tierkreises, als Paradies-Fresken an die
Kirchenkuppeln, ans Firmament als verstirnte Helden und Götter. Ein
deutscher Mönch und Rechtsgelehrter, Julius Schiller, begann ein Gott
gefälliges Werk, indem er einen Christlichen Himmelsatlas verfasste. So
musste das Sternbild Krebs seine Macht abgeben an Johannes den Evangelisten
(1627). Die Muse der Astronomie Urania kann sich eines Lächelns nicht
erwehren. Kant hatte schon mit 31 Jahren seine «Allgemeine Naturgeschichte
und Theorie des Himmels» veröffentlicht, aber auch später «Bewunderung und
Ehrfurcht» nicht verloren. Ein Drittes dürfte man billig hinzufügen: das
Staunen über die kreative Fantasie, die Imaginationskraft der menschlichen
Seele.