100 Jahre Zürcher Brockenhaus
Eine freimaurerische Institution lebt
Das Zürcher Brockenhaus kann dieses Jahr auf ein 100–jähriges Bestehen
zurückblicken. Diese gemeinnützige Institution, die ihre Gewinne Jahr für
Jahr an wohltätige Institutionen ausschüttet, hat in diesem Jahrhundert eine
segensreiche Tätigkeit entwickelt.
ALFRED MESSERLI (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Oktober 2004)
Der Name Brockenhaus leitet sich aus der Bibel ab, genauer von der
Schriftstelle des Evangelisten Johannes 6. 12, in der Jesus nach der
wundersamen Speisung der Fünftausend seinen Jüngern befiehlt: «Sammelt die
übrigebliebenen Brocken, dass nichts verlorengeht». Es war Pastor Friedrich
von Bodelschwingh, Gründer der Bethelmission, der 1872 Anstalten von
Fallsüchtigen und Geisteskranken unter seine Obhut genommen hatte. Er
eröffnete in dieser Anstalt Bethel als erster eine Sammel- und
Verkaufsstelle für gebrauchte Waren, deren Ertrag zur Finanzierung des
sozialen Werkes diente.
Einige Jahrzehnte später sind die Bestrebungen Bodelschwinghs durch den
Philantropen Julius Müller aufgenommen und weiter entfaltet worden. Müller
hat ein eigentliches Brockenhaus gegründet und ihm die Aufgaben und Ziele
gesetzt, die heute allen in den verschiedensten Landesteilen Deutschlands
und in der Schweiz vorkommenden bestehenden Brockenhäusern zukommen.
Das grosse Verdienst, den Gedanken erfasst und in der Stadt Zürich die
Gründung eines Brockenhauses in die Wege geleitet zu haben, gebührt dem
Kaufmann Dr. h. c. Arnold Scherer, der sich ebenfalls als Gründer des
Vereins für die Verbreitung guter Schriften verdient gemacht hat. An der
Gründungsversammlung vom 20. September 1904 im Zunfthaus zur Schmiede nahmen
29 Personen teil, die alle dem neuen Verein beitraten. In den Vorstand wurde
Arnold Scherer, als Präsident, Dr. Adolf Streuli, der spätere Regierungsrat,
alt Pfarrer Gustav Hegi, Louis Kramer, Pfarrer Brassel, Dr. Littmann, Dr.
Ernst, Sekretär der freiwilligen Einwohner-Armengemeinde, Dr. Hermann
Häberlin, der spätere Stadtrat und Eduard Goppelsröder gewählt. Fast alle
der Initianten und ersten Vorstandsmitglieder waren prominente Mitglieder
der Freimaurerloge Modestia cum Libertate. Von der Modestia wurde denn auch
das Haus an der Pfalzgasse 6 dem neuen Verein zu einem günstigen Preis
vermietet.
Eines muss man den Gründern des Brockenhauses lassen: Sie haben nicht
lange gefackelt, sondern sofort prompte Arbeit geleistet. Bereits zehn Tage
nach der konstituierenden Sitzung wurden die Räume an der Pfalzgasse
gemietet, umgebaut und am 4. November 1904 das erste Zürcher Brockenhaus
eröffnet.
Das Brockenhaus entwickelte sich prächtig. Natürlich war der Erste
Weltkrieg eine schwierige Zeit. 1918 wurde das Brockenhaus gar zur amtlichen
Sammelstelle für gebrauchte Waren. Das bedeutendste Ereignis im zweiten
Viertel des letzten Jahrhunderts war für das Brockenhaus der Kauf des
Lagerhauses der Firma W. Simon an der Neugasse im Zürcher Industriequartier.
An der denkwürdigen Vereinsversammlung vom 22. Juni 1933 wurde dem Kauf mit
einer Mehrheit von nur drei Stimmen zugestimmt. Am 1. Oktober 1933 wurde das
umgebaute Haus an der Neugasse bezogen. Die grosse Weltwirtschaftskrise der
Dreissiger Jahre und der Zweite Weltkrieg waren weitere Bewährungsproben für
das Unternehmen. In den Konjunkturzeiten der Fünfziger– und Sechzigerjahre,
vor allem aber ab den Achzigerjahren erwuchs dem Brockenhaus allenthalben
grosse Konkurrenz. Private Unternehmen, die ebenfalls mit Gebrauchsgütern
handelten, witterten das grosse Geschäft. Sie nannten sich ebenfalls
Brockenhaus, obwohl das Bundesgericht den Namen geschützt hatte. Diese
Trittbrettfahrer profitieren vom guten Ruf des Zürcher Brockenhauses.
Die solide Finanzlage des Brockenhauses und vor allem die Liegenschaft an
der Neugasse weckten ebenfalls Begehrlichkeiten. Das Unternehmen hatte immer
noch die alten Statuten in der Form eines Vereins. Es gab eine denkwürdige
Generalversammlung, in der sich die Freimaurer aller acht Zürcher Logen für
ihr Brockenhaus einsetzten und so eine "feindliche Übernahme" verhindern
konnten. Diese Vorkommnisse führten zur Gründung einer gemeinnützigen
Stiftung, der nun das Haus an der Neugasse gehört. Der Verein besorgt vor
allem das aktuelle Geschäft des Brockenhauses. Die Verwaltung der
Liegenschaft und die Verteilung des Reingewinnes ist Sache der Stiftung. In
seinem hundertsten Jahr des Bestehens präsentiert sich das Brockenhaus als
gefestigte Institution. Nach wie vor erfüllt es seine ihm von den
Gründervätern gestellte Aufgabe.