Die Quellen der Freimaurerei II

Die Herkunft der Freimaurerei aus Bauwesen und Geheimgesellschaften

Das Bauwesen des Spätmittelalters ist die wahrscheinlichste Wurzel der Freimaurerei. Allerdings sind die Quellen für diese Annahme spärlich: Lohnabrechnungen und Bauabrechnungen, ferner obrigkeitliche Erlasse sowie Satzungen von Berufsvereinigungen. Andere Abstammungen der Freimaurerei beruhen auf Vermutungen.

Roland Müller, Loge Catena Humanitatis in Zürich (Schweizer Freimaurer-Rundschau: April 2005)

Luigi Ranieri behauptete noch im Jahre 2000: «Die Korporationen oder Zünfte sind direkte Nachfahren der römischen Collegia aus der Zeit des Numa Pompilius, mit denen sie sich auf einer Linie vollkommener Kontinuität befinden, da sie – nicht zufällig – denselben Regeln folgen» (56).

Für die Organisation der Bauleute fehlen etwa vom Jahre 400 bis zum Jahr 1200 n. Chr., also für 800 Jahre, jegliche Zeugnisse in Europa. Kein Wunder, dass sich deshalb ein reiches Geflecht von Legenden entsponnen hat. So leiten sich etwa

  • die italienischen Bauleute von den «Meistern von Como» (643, 741),
  • die französischen Bauleute von Karl Martell (gest. 741),
  • die englischen Bauleute von König Athelstan (926) oder dessen Bruder Edwin (932),
  • die schottischen Bauleute vom Bau von Kilwinning (1140),
  • die deutschen Bauleute von Odo von Metz (um 800), Wilhelm von Hirsau (gest. 1091)
  • von einer Bauhütte am Dom von Magdeburg (876 oder 1211)
  • oder am Dom von Strassburg (1273)
  • oder von Albertus Magnus (gest. 1280) ab.

Im Cooke-Manuskript (1410) heisst es, St. Alban (um 300) habe die Maurerei in England und Karl II. (875) in Frankreich organisiert, im «Grand Lodge Ms. Nr. 1» (1583) ist letzterer ersetzt worden durch den fränkischen Hausmeier und Feldherrn Karl Martell (Knoop/ Jones, 75-76). In einem späteren Manuskript wurde Karl Martell wieder weggelassen und dafür Augustin (um 400) eingesetzt (78).

Sämtliche Herleitungen halten der historischen Forschung nicht stand. Auch die «Meister von Como» und die langobardische oder lombardische Bauschule gehören zu den Fehlinterpretationen, wie unter anderem der Tessiner Aldo Crivelli (1969/71) mit Akribie nachgewiesen hat.

Die hauptsächlichsten Quellen für das Bauwesen sind spärliche Lohnabrechnungen und Bauabrechnungen, ferner obrigkeitliche Erlasse (Edikte, Ordnungen, Bauvorschriften) und Verbote sowie Satzungen (Statuten) von Berufsvereinigungen und Bruderschaften. Dazu kommen einzelne Verträge (z. B. 1284 für Erwin von Steinbach als «Magister operis» am Strassburger Münster) und Inschriften auf Bauteilen und Kunstwerken sowie Kauf- und Verkaufsurkunden.Weitere Dokumente und Erwähnungen finden sich in religiösen und weltlichen Schriften.

Keine klösterlichen Bauhütten, sondern mobile Bauleute

Seit der unseligen Schrift von Carl Heideloff «Die Bauhütten des Mittelalters in Deutschland» (1844) – die sich auf eine phantasievolle Chronik des Würzburger Abtes Johann Trithemius (um 1500; Warnke zitiert ihn nicht) stützt – spuken die «klösterlichen Bauhütten» durch die Publikationen zur Freimaurerei. Das geht bis 1974 zur anonymen Schrift über die «Entwicklung der Freimaurerei», 1977 zur Schrift von Bernhard Wein, 1986 zur Kulturund Geistesgeschichte von Hans Biedermann und 1991 zur Dissertation von Alfred Schottner. Dabei gibt es Klarstellungen bereits bei den Freimaurern Heinrich Boos (1894), Knoop/Jones (54, 59f), Mathias Pflanzl (1960) und Otto Winkelmüller (1970).

Gewiss haben die Mönche zahlreiche Handwerke und Gewerbe ausgeführt, aber sie waren Selbstversorger. Sie betätigten sich nicht als Bauleute. Diese Arbeit taten hörige Bauern, Leibeigene und Wanderhandwerker. Die Mönche übten nur die Aufsicht aus.

Die Bezeichnung Wanderhandwerker ist allerdings ungenau, denn diese Bauleute, Baumeister und Künstler wanderten nicht, sondern wurden an einen wichtigen Bauplatz geholt. So finden sich schon im Jahre 560 Bauhandwerker aus Italien in Trier. Gut 100 Jahre später wurden Maurer und Glasmacher von Gallien nach England geholt, um die Angelsachsen in den Steinbau und in die Glaskunst einzuführen (vgl. James Anderson in seinem Konstitutionsbuch, 1723, 29-30)

Der Kunstgeschichtsprofessor Martin Warnke (100) spricht vorsichtig von der Herausbildung eines «spezialisiertes Arbeitspotential» seit dem Jahr 1000, das «auch überregional mobilisierbar» war.

Gotik: Verbeamtung des Bauens

Die Gotik (ab 1140) hat nicht nur herrliche Bauwerke, sondern auch die Verbeamtung des Bauwesens hervorgebracht. Das hat für uns Nachfahren immerhin den Vorteil, dass wir seither recht gut dokumentiert sind.

Zuerst erfolgte in Frankreich und bald auch in England eine Zentralisierung, die 1255 am königlichen Hof zur Bildung so genannter «Hofbauämter» führte. Wie in Frankreich bildeten sich in Deutschland und Italien zudem auch Stadtbauämter.

Vereinigungen von Berufsleuten hat es schon im Altertum gegeben; meist waren auch Frauen dabei. Seit 500 n. Chr. gibt es Gilden als «geschworene Einigungen». Seit dem Jahr 1000 gibt es drei neue Gruppierungen:

  • Gilden der Kaufleute;
  • städtische Organisationen (communen);
  • Bruderschaften mit religiösen Zielen, ab 1100 zur Finanzierung des Kirchenbaus.

Die Bauleute hinkten bezüglich Organisation und Bräuchen den andern Handwerken meist hintendrein. So lassen sich die ersten zunftähnlichen Vereinigungen erst ab 1250 in Basel, Paris und Florenz fassen. Bald gab es innerhalb davon auch eine Bruderschaft, die vor allem den Kirchendienst zu versehen hatte. Das war also keine Baubruderschaft.

Es verstrichen nochmals 100 Jahre bis die Bauhütten als Organisationen neben den Zünften fassbar werden. Und ebenfalls erst seit 1350 gibt es überörtliche und überregionale Verbindungen zur Sicherung einer einheitlichen Ausbildung und eines gemeinsamen Berufsverständnisses (in anderen Berufen seit etwa 1300).

Baurechnungsbücher oder Fabrikrechnungen

Für die deutschen Bauhütten sind seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts so genannte Baurechnungsbücher oder Fabrikrechnungen erhalten geblieben, aus denen sich die jeweilige Organisation und der Bauablauf recht gut erkennen lassen. Seit 1356 sind die Bauabrechnungen der Kirche St. Victor in Xanten, seit 1372 die Wochenrechnungen des Prager Dombaus und für 1387 eine Abrechnung des Münsters in Ulm vorhanden. Die Rechnungsbücher für Basel (1399/1400), Strassburg (1414), Freiburg, Wien (1404), Nürnberg und Regensburg entstanden erst um oder nach 1400.

Ab 1360: Nicht-Werkmaurer in Versammlungen und Logen dabei

Erste überregionale Versammlungen der Bauleute verzeichnen das Regius- Poem (1390) und das Cooke-Manuskript (1410). Es handelt sich um Provinzial- oder Grafschaftsversammlungen von Meistern und Genossen, die vermutlich ab 1360 alle ein, zwei oder drei Jahre stattfanden (Knoop/ Jones, 48-49, 123, 199). Ihre Aufgaben waren, «die Gewohnheiten des Handwerks zu erläutern und ihnen Geltung zu verschaffen».

Bemerkenswert ist, dass bei diesen Versammlungen auch Nicht- Werkmaurer dabei waren (Knoop/ Jones, 47-48). Jedenfalls haben seit etwa 1360 Bürgermeister, Sheriffs oder örtliche niedere Adelige «wahrscheinlich – mehr oder weniger als Vertreter der Behörden» bei den Maurerversammlungen zu tun gehabt (144). Knoop/ Jones halten es daher für möglich (145), dass der Verfasser des Cooke-Manuskripts (um 1410) ein nicht-operativer Maurer gewesen sein könnte.

Vielfach erwähnt wird die erbliche Aufsichtsfunktion der Familie St. Clair, «Lairds of Rossly», über die schottischen Werkmaurer seit 1441 (Lennhoff/ Posner, Sp. 1341; Knoop/ Jones, 100-101; Baigent/ Leigh, 195-199). Im deutschsprachigen Raum wurden erst um 1450 überregionale Steinmetz-Bruderschaften gebildet.

1500-1700: Gentleman Masons und Accepted Masons

Laut Knoop/Jones (146) finden sich Bestimmungen, die auf Nicht-Werkmaurer anwendbar waren, vermutlich schon um 1500. Die Ablösung Englands von der katholischen Kirche um 1530-50 und die damit verbundene Auflösung der Klöster und religiösen Organisationen brachte neue Wandlungen: Die «alten Gewohnheiten» wurden verändert (123, 223-224), und vielleicht gab es schon eine «kurze und einprägsame Belehrung» (250; vgl. 86).

Bereits 1549 könnte in Kendal eine «Loge von angenommenen Maurern» bestanden haben (149), und vielleicht besassen «Geistliche der Kirche von Schottland» schon 1560 das Maurerwort (145; auch Oslo, 127, 182). Die Urformen des Grand Lodge Ms. Nr. 1 und des Levander-York-Manuskripts (77, 86, 156) mit ihren «Konstitutionen» könnten um 1550/60 vorgelegen haben. Jedenfalls sind ziemlich genau seit 1600 zahlreiche Dokumente erhalten, die belegen, dass Geistliche und Adelige, bald auch Kaufleuten und Gelehrte die Gelegenheit zur Infiltration der Werklogen nutzten, und zwar um Kenntnisse über die Baukunst, aber auch vielleicht über geheimes Wissen zu erlangen (Knoop/Jones, 140).

In Schottland schlossen sie sich als so genannte «gentleman masons» den Werklogen an. In England bildeten sich neben den Werklogen separate Vereinigungen von «adopted» oder «accepted masons» (u. a. Lennhoff/ Posner, Sp. 10-12; 1412-1413). Von der Londoner «Acception», welche mit der Londoner Maurerkompanie in enger Verbindung stand, sind über die Jahre 1619-1682 zahlreiche Dokumente vorhanden (Knoop/Jones, 149-152, 205).

Stammen die Freimaurer wirklich von den Steinmetzen ab?

Ob die Abstammung der Freimaurerei von den Steinmetzen direkt oder indirekt sei, lässt der Bibliothekar und Kurator von «Library and Museum of the United Grand Lodge of England» (seit 1983), John M. Hamill (145), offen. Er erwähnt zwar, dass in Schottland die Logen ab 1600 «Gentlemen» aufnahmen und mit der Zeit zu «Logen für spekulative Maurer» wurden, doch in England gebe es keinen Beweis für eine solche Organisation innerhalb der Steinmetzzunft.

An anderer Stelle behauptet er allerdings das Gegenteil: «Es gab vermutlich seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts einen kleinen Kreis innerhalb der Londoner Steinmetzzunft, der sowohl aus ‚operativen Maurern’ bzw. ‚Werkmaurern’ als auch aus Nichtangehörigen des Bauhandwerks bestand» (159). Und noch zweierlei: Vermutlich gab es in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts in ganz England «angenommene Maurer»; schon in den neunziger Jahren «fanden sich in London Logen, die regelmässig zusammentrafen» (159).

Noch apodiktischer als Hamill ist sein Kollege in Paris, der Konservator des Freimaurermuseums der Grossloge von Frankreich, Philippe Henri Morbach (150; ähnlich 153), wenn er schreibt: «Die Behauptung, die Zünfte und die da und dort weiter bestehenden Bauhütten seien direkte Vorläufer der Freimaurerei in ihrem modernen Sinne, ist daher unrichtig ... Überdies gibt es keine Beweise dafür, dass eine Kontinuität zwischen diesen teilweise permanenten Bauhütten und den Werkmaurerlogen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Schottland entstanden, besteht ...Ebenso erscheint es unrichtig, zu behaupten, die moderne Freimaurerei sei in England entstanden. Schliesslich gibt es keine Beweise für einen ununterbrochenen Entwicklungsprozess zwischen den damals weiterhin bestehenden Organisationen der Werkmaurer und der Freimaurerei.» Gemäss Morbach handelt es sich um eine «Neuschöpfung», wie der schottische Forscher David Stevenson 1988 nachzuweisen versuchte (150, 151). Stevenson betrachtet die Richtlinien, welche der königliche Baumeister («Maister o' Work» and «Warden o'er a' the masons») in Schottland, William Schaw, in den Jahren 1598 und 1599 ausgearbeitet hat, als der Anfang der spekulativen Maurerei. Sie könnten freilich auf Verhältnisse zurückgehen, die bereits um 1550 herrschten (Knoop/ Jones, 40-41, 106). Es kommen darin bereits eine maurerische Einweihung vor und die beiden Grade Lehrling und Geselle (vgl. auch Naudon, 31-36, 55). Allerdings betreffen diese Statuten noch die operative Maurerei. Doch im Laufe des Jahrhunderts kamen immer mehr spekulative Elemente in die handwerkliche Maurerei.

Stammen die Freimaurer aus den Klöstern?

Ziemlich allein steht Allan Oslo mit seiner Auffassung, die Freimaurerei stamme «aus der Welt des Klosters, wo man die Mystik des Alten Testaments gepflegt hatte» (164; ähnl. 13, 337).

Daher beginnt er seine weit ausgreifende historische Darstellung der Wurzeln der Freimaurerei mit den Eremiten in Ägypten und Italien sowie den Einsiedlern in Gallien (15-21, 99), die sich unter anderem «der Betrachtung der Natur und der Andacht hingaben» (15). Seit Benedictus von Nursia (529) gibt es Klostergemeinschaften, in denen Wissensgebiete gehütet wurden: «die okkulten Weisheiten Gottes aus Religion, Astrologie, Magie, Medizin und Mystik – das Wesen aller Mysterien», aber auch «die Baukunst, die ja Geometrie und Statik vereinigte» (24).

In seinem Drang nach historischer Vollständigkeit schildert Allan Oslo auch, wie er es nennt, die Vorläufer der Reformation, also die Paulikianer, Bogomilen, Katharer,Waldenser, Lollarden und Hussiten (65-73). Sie wurden von der offiziellen Kirche heftig bekämpft, in vielen Gegenden gar ausgerottet. Oslo meint, die Freimaurerei sei «kein Kind der Aufklärung, vielmehr ein Produkt der Reformation» (210, ähnl. 65).

Alchemisten und Lutheraner?

Auch nicht überzeugend ist das Kunterbunt von Vorläufern der Freimaurer in der kleinen Schrift von Luigi Ranieri. Nachdem er von Eduard Schurés Klassiker über die «Grossen Eingeweihten» (1889) gezehrt hat (41-55) springt er zu den Korporationen und Logen der Bauleute im Mittelalter. Doch bald geht es von diesen zurück zu den Alchemisten, dann zum Templer-Orden und vorwärts zu den Rosenkreuzern.

Die moderne Freimaurerei zieht nun nach Ranieri (78) «viele Nachfahren, Mitläufer und Überlebende all der vorangegangenen Gruppen an und lässt sie den neuen Vereinigungen zustreben. Sie kommen von den ‚magistri comacini’, den Templern, den Alchemisten, den Neuplatonikern, den Humanisten, den ‚Getreuen der Liebe’; doch es gesellen sich auch Lutheraner, häretische Mönche, Calvinisten, Wiedertäufer, Illuminaten und viele andere hinzu.»

Le Compagnonnage?

In der anonymen Schrift «Die Entwicklung der Freimaurerei» (1974, 26) werden die französischen «Compagnons» mit den deutschen Bauhütten in Verbindung gebracht und sehr früh angesetzt: «1189 wird eine Gesellschaft der Brückenbrüder erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit dem berühmten Hl. Bénézet: sie nennen sich ‚Compagnons’. Diese Handwerksbruderschaften mit merkwürdigen, freimaurerähnlichen Gebräuchen bestehen in Frankreich bis heute». – Nach historischen Quellen wurde die Brückenbruderschaft jedoch bereits im 15. Jahrhundert aufgehoben.

Seit 1330 bildeten sich Gesellengilden, die sich schon bald auch durch «Streiks» bemerkbar machten (Reininghaus; vgl. Knoop/Jones, 56-59). Sie dürfen jedoch nicht mit «compagnonnage» gleichgesetzt werden. Dieter A. Binder hat in dem von ihm neu herausgegebenen «Internationalen Freimaurer-Lexikon» von Eugen Lennhoff und Oskar Posner (2000) fast alle Texte belassen. Weshalb er den Abschnitt über die Compagnonnage ersetzte und ohne Quellenangabe behauptet, dieselbe bestehe seit 1360, ist unerklärlich, zumal er anderswo schreibt, sie werde erst im 16. Jahrhundert historisch greifbar (Binder, 31; ebenso Naudon, 18).

Über die Frühzeit der Compagnonnage wissen wir nämlich fast nichts. Seit 1455 wird eine Verständnisart von «compagnon» als «ouvrier qui a terminé son apprentissage» definiert. Die erste Erwähnung der «Tour de France» datiert auf 1469. Detailliertere Angaben sind erst in einem Pariser Polizeirapport von 1646 und in einem Urteil der theologischen Fakultät von Paris vom 14. März 1655 über sechs Compagnonnages zu entnehmen. Die Bezeichnung «compagnonnage» gibt es erst seit 1719.

Die Stuarts?

«Die Geschichte der Freimaurerei ist mit den Stuarts in England eng verknüpft », behauptet nicht nur Allan Oslo (104). Als sich 1560 Schottland von der katholischen Kirche löste, «wurden in kürzester Zeit Hunderte von Klöstern überfallen, geplündert und aufgelöst. Die Folge war, dass Tausende von Mönchen zu Flüchtlingen und Vertriebenen wurden, ohne Obödienz im Lande, womit wir bei der Geburt der Freimaurerei angelangt sind» (99). «Das Geheimwissen wurde obdachlos. Und da seine Hüter gleichzeitig die Vertreter der Königlichen Kunst waren, lag es doch auf der Hand, dass sie in der Bauhütte für sich und das Geheimwissen eine neue Bleibe suchten und fanden» (101; ähnl. 121, 126, 152, 250).

Gemäss Oslo beruhte die Entstehung der Freimaurerei neben der geheimwissenschaftlichen auch auf einer religiöspolitischen und einer dynastiepolitischen Komponente. «Der religiöspolitische Aspekt hing zwar mit dem Kampf der Reformation gegen die etablierte Lehre der christlichen Kirche zusammen, doch erst im Laufe des 17. Jahrhunderts spielte er für die Freimaurerei eine entscheidende Rolle. Hingegen sind die Verhältnisse um das Haus Stuart bis 1813 aus dem Orden nicht wegzudenken. Seit 1688 wurde die Loge zum geheimen Treffpunkt der Anhänger des abgesetzten Stuart-Königs» (121-122; vgl. 249ff).

Doch schon mit der Hinrichtung von König Karl I. Stuart (1649) und der Vertreibung der Stuarts aus Frankreich (1654) «bekam die Feldloge der schottischen Maurerei ein ganz neues Gesicht; sie wurde zur politischen Versammlung der Royalisten, die in ihrer Arbeit den wahren Zweck, die Wiedereinsetzung der Stuarts in England, hinter Allegorien verhüllten. Hinter dem Bild vom Sohn der Witwe (1. Kön. 7, 13-15) verbarg sich nun Karl II., Sohn der Witwe (des Märtyrers) Karls I.» (Oslo, 63; ähnl. 249). Das war allerdings nur eine kurzfristige «Entgleisung» der Maurerei ins Politische (182).

Drei weitere mögliche Wurzeln der Freimaurerei

Abgesehen davon kann man drei weitere Wurzeln der modernen Freimaurerei ausmachen. Sie sind ebenfalls alle umstritten:

  1. Die Geheimgesellschaften der Renaissance und des Barocks, die meist wissenschaftlich oder humanistisch ausgerichtet waren. Die Verbindung könnte über das «Geheimnis» und die Symbolik erfolgt sein.
  2. Die Ritterorden, und zwar einerseits denjenigen aus der Kreuzzugszeit, anderseits solchen aus der Zeit nach 1550. Diese Orden haben eine turbulente Geschichte und reichhaltige Legenden.
  3. Die geistesgeschichtlich wichtigen Strömungen seit der Renaissance wie Humanismus, Fortschrittsidee, Rationalismus, Deismus, Toleranzidee, Friedensidee, Aufklärung.

In der grossen Liste von 1909 (Mellor, 22-24; Binder, 18-21) werden weiter genannt: die Albigenser, die Jesuiten (Lennhoff/ Posner, Sp. 775-779) und die Sozinianer (Lennhoff/ Posner, Sp. 1472; Oslo, 136). Geographische Finessen sind Venedig, Wien und Schweden als Ursprungsstätten der Freimaurerei.

Die Geheimgesellschaften der Renaissance …

Der Archivar Ludwig Keller hat 1903-1912 in mehreren Schriften die These verfolgt, dass «unter dem Schleier des Geheimnisses» seit etwa 1100 immer wieder Bruderschaften und Orden gearbeitet hätten. Dabei wirft er allerdings Kraut und Rüben zusammen:

Um 1200: Humiliaten, eine religiöse Arbeiter- und Armutsbewegung, parallel zu den Katharern, Albigensern,Waldensern;

Seit 1250: Averroisten, die als Vorboten einer gemässigten Säkularisierung und des Humanismus von der Kirche bekämpft wurden (Siger von Brabant, Boetius von Dacia);

Seit 1350: Florentiner Zünfte (z. B. «Compagnia de Disciplinati»), ferner eine Academia di San Spirito, der auch Coluccio Salutati angehörte;

Seit 1500: die «Sprachgesellschaften» (Zum Rosenstock 1519; Zum Kreuz = Indissolubilis = Die Unzertrennlichen 1580; Accademia della Crusca 1582; holländische «Rhetoriker» um 1580; Palmengesellschaft 1617); Seit 1550: die neuen katholischen Ritterorden (Lazarus 1572; Ordre du Saint Esprit 1578; Andreas 1678).

Will-Erich Peuckert (582) erwähnt einen «logenhaften Bund», den der Römer Pomponius Laetus um 1470 gegründet hat. In jenen Kreisen «waren nicht nur verdächtige Redewendungen, wie die vom grossen Baumeister der Welt im Schwange; man forschte dort auch den Resten des vorchristlichen Roms nach, stieg in die Katakomben hinunter, die zuvor noch nie betreten worden waren, und streifte durch ihre Gänge oder hatte dort unten vielleicht auch Zusammenkünfte – wenn auch nicht durchaus philosophische»

Eine kuriose Schilderung bieten Hermann und Georg Schreiber (197): In Florenz habe es eine Geheimgesellschaft von Gelehrten und Künstlern unter dem Namen «Die Kelle» (vermutlich der «Ordine della Cazzuola»; beschrieben in den «Vite» von Vasari; vgl. Lennhoff/ Posner, Sp. 293) gegeben. Sie habe von ihrer Gründung im Jahre 1512 weg ununterbrochen bis 1737 bestanden. Sie hätten in einem verborgenen Raum ihre Strassenkleider mit den Schürzen von Maurern und Bauarbeitern vertauscht und mit eifrigen Händen ein Bauwerk aufgeführt. Als Mörtel verwendeten sie «Makkaroni und Parmesan, auch Gewürze und als Zierat Oliven oder Zwiebeln». Nachher stellten sie sich vor, sie ässen an schwarz gedeckten Tischen «Aas und allerlei Unrat».

Charles v. Bokor (11) bezieht sich auf die «Viten» von Vasari (1550/68), wenn er eine «Malerakademie in Livorno» erwähnt, deren Mitglieder als Erkennungszeichen eine Kelle trugen (auch Binder, 31). «Sie versammelten sich in regelmässigen Abständen in verdunkelten Räumen, deren Wände mit schwarzem Tuch ausgeschlagen waren und an den Tod gemahnende Aufschriften trugen.»

Zu den «zahlreichen mehr oder weniger geheimen intellektuellen Vereinigungen», die seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden, sieht nun Philippe Henri Morbach (151-152) plötzlich eine Verbindung: «Ficin und Pic de la Mirandole waren die Begründer einer Denkbewegung, in der die im Werden befindliche Freimaurerei und später die spekulative Freimaurerei und vor allem der Ecossismus die Grundlagen ihrer philosophischen und spirituellen Entwicklung fanden.»

…und des Barock

Nach 1600 wurde die Bildung geheimer Vereinigungen Mode, zum Teil waren es wissenschaftlich ausgerichtete Gesellschaften (z. B. in Frankreich der Kreis um Mersenne, um 1630, in England das «invisible college», 1646, in Oxford), zum Teil esoterische, humanistisch ausgerichtete Vereinigungen wie die Rosenkreuzer (1615-1630) oder die Pansophen (1640ff). Der Gesellschaftshistoriker Michael W. Fischer behauptet in der Nachfolge von Buhle und Nicolai (1804/06), die Freimaurerei wurzle ideell, strukturell und organisatorisch in dem nach England verpflanzten Rosenkreuzertum (66-80; 95ff).

Es gibt Vermutungen, dass schon Francis Bacon um 1600 ein Freimaurer war (Jean Overton Fuller, 241-251). Er forderte bereits in seiner Schrift «Über die Würde und den Fortgang de Wissenschaft» 1605 die Gründung einer «Bruderschaft der Erkenntnis und der Erleuchtung», innerhalb derer die Gelehrten ihr Wissen austauschen sollten. Später skizzierte er ein Kollegium, das im «Haus Salomonis» (1626) forschen sollte.

Elias Ashmole nannte seine eben erwähnte 1646 gegründete Gruppe «Haus Salomonis» (Oslo, 147-157). Verbürgt ist auch, dass es Freimaurer (Robert Moray, Elias Ashmole) waren, welche die Gründung der Royal Society (1662) vorantrieben.

Ritterorden

«Von den Ritterorden beziehen die freimaurerischen Hochgrade wesentliches Gedankengut», heisst es in der anonymen Schrift «Die Entwicklung der Freimaurerei» (1974, 17). Da werden erwähnt:

  • Der Orden der Malteser
  • Der deutsche Ritterorden
  • Der Ritterorden vom Heiligen Grab
  • Die Tempelritter.

Charles v. Bokor (34-35) zitiert aus einem Buch von 1766, dass Gottfried von Bouillon 1330 den Orden der Freimaurer gegründet habe (dieser starb jedoch bereits um 1100). Nachdem der Tempelherrenorden 1312/14 grausam aufgelöst worden war, flohen einige Überlebende, als Maurer verkleidet, nach Schottland und wirkten dort weiter (47-49; 54-63; vgl. auch Binder, 26-27)

Michael Baigent und Richard Leigh brachten die 1446-1486 erbaute Kapelle von Rosslyn ins Spiel. In einer Rede im August 2000 in Schottland verkündete der freimaurerische Forscher Robert Lomas (der 1996 zusammen mit Christopher Knight «The Hiram Key» und 1999 «Uriel’s Machine» publiziert hat): «Freemasonry, in the form we would recognise today, started at the building of Rosslyn Chapel near Edinburgh». Er bringt dafür mehrere Belege bei und eine kleine Chronologie.

Der Ritterorden vom Heiligen Grab wird von einigen Mitgliedern heutzutage «als so etwas wie eine Möglichkeit einer katholischen [Anti-] Freimaurerei» angesehen (Binder, 28).

Helmut Reinalter (10) erwähnt zusätzlich die Johanniter, welche laut Alec Mellor (412) von Albert Pike 1871 ins Spiel gebracht wurden. Andreas Michael Ramsay sprach 1737 von «Johannisrittern» (Lennhoff, 68: Lennhoff/ Posner, Sp. 1277), laut Michel Dierickx (48) von «Kreuzrittern und Tempelherren». Der genaue Wortlaut ist: Les Chevaliers de S. Jean de Jérusalem, resp. The Knights of St John of Jerusalem.

Katholische Schwurgenossenschaften

In seiner Schrift «Die Tempelherren und die Freimaurer» (1905) schildert Ludwig Keller die Gebräuche der katholischen Ritterorden, die seit 1550 wieder eingerichtet wurden. Es waren Schwurgenossenschaften adeliger Laien unter geistlicher Leitung, «welche sich die Verteidigung und Ausbreitung des katholischen Glaubens zur Aufgabe» machten. Darunter waren:

  • Der rektifizierte Lazarusorden mit einem Privilegium von Herzog Emanuel Philibert von Savoyen 1572. Er wurde 1664 mit dem Orden «Unserer lieben Frau vom Berge Carmel» verschmolzen.
  • Der Ritterorden des heiligen Geistes wurde 1573 von König Heinrich III. von Frankreich eingerichtet.
  • Der Orden des heiligen Andreas wurde in Schottland 1687 wieder hergestellt.

Der Schotte Michael Andreas Ramsay war nach 1700 in Paris in den Lazarusorden aufgenommen worden (auch Lennhoff/ Posner, Sp. 1276). In den ersten Jahren der neuen Freimaurerei (ab 1717) wurden viele Angehörige des Lazarusordens und des Ordens des heiligen Geistes aufgenommen, behauptet Keller. Ramsay hielt 1737 an der Versammlung der Französischen Grossloge einen Vortrag, in welchem er den Ursprung der Freimaurerei in den Ritterorden sah.

Geistesgeschichtliche Strömungen

Im Zusammenhang mit dem Ideal der Humanität verweisen Lennhoff/ Posner (Sp. 717) auf die Humanisten in Italien (Dante, Petrarca, Bocciaccio) und Deutschland (Kirchenreformer wie Melanchthon u. a.), bei der Fortschrittsidee auf Bacon und Pascal (Sp. 489), beim Deismus auf Eduard Herbert von Cherbury, John Toland, Anthony Collins, Thomas Woolston, Matthews Tindal, Henry St. John Bolingbroke und Anthony Shaftesbury (Sp. 332-328; vgl. Oslo, 147-157).

Toleranz und Duldung kamen am Ausgang des Mittelalters als Reaktion gegen den Fanatismus, den unerbittlichen Absolutismus der katholischen Kirche, zunächst infolge der Dogmenmüdigkeit eines Teils der Menschheit zum Durchbruch. Die deistische Bewegung, die die allen Menschen annehmbare «natürliche Religion» suchte, spiegelt die erwachte Toleranzidee in besonders prägnanter Weise.

Die geistige Maurerei, die Freimaurerei von heute, setzte in England in einem Augenblick ein, da John Locke und andere die Toleranzidee in den Mittelpunkt der Erörterungen gerückt hatten. Die Freimaurerei nahm diese Lehre begierig auf (Lennhoff/ Posner, Sp. 1585; vgl. Oslo, 210, 223).

Heinz-Günter Deiters (113) schliesslich zitiert aus dem Aufsatz eines Freimaurers aus dem Jahre 1960: «Nicht alte Mysterienbünde haben uns geformt, sondern das christliche Mittelalter, der Beginn der Neuzeit, die Aufklärung, der Idealismus, der Liberalismus und das Freidenkertum».