Freimaurerei in der heutigen Gesellschaft
Der Da-Vinci-Code - kein Schlüssel zur Freimaurerei
Die Freimaurerei vertritt keine ewigen Wahrheiten, enthält keine
Glücksversprechen und ist nicht auf das Jenseitige ausgerichtet. Sie ist
eine Schule der Menschlichkeit, wirkt in die Gegenwart und bleibt dem
Wechsel der Zeiten ausgesetzt. Das ist ein stolzes und anspruchsvolles
Programm.
Alfred Messerli, Chefredaktor, alt Grossredner deutscher Zunge der
SGLA (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Oktober 2006)
Diesen schönen Worten müssen adäquate Taten folgen. Es genügt nicht, sich
an den Glanz vergangener Zeiten zu klammern und dabei genüsslich die Namen
berühmter Brüder zu zitieren, die unerschrocken für ihre Ideen und Ideale
eintraten. Nein: Freimaurerei muss gelebt werden, muss in die Tat umgesetzt
werden. Und zwar jetzt und heute, von jedem einzelnen von uns.
Die Tatsache, dass Freimaurerei auf den einzelnen gerichtet ist, mag hie
und da den Verdacht aufkommen lassen, bei diesen Menschen handle es sich um
extreme Individualisten oder introvertierte und egozentrische Typen. Das
trifft natürlich nicht zu. Der Geist der Freimaurerei verlangt von jedem,
dass er sich als historischen Menschen versteht, der Werden,Wesen und Wandel
menschlicher Institutionen erkennt und als Bürger in der sozialen Umwelt
seiner Zeit ein aktives, tätiges Glied der Gesellschaft ist. Es wird
verlangt, dass er ein Einzelkämpfer für das Gute, Wahre und Schöne ist. Es
ist dem einzelnen Freimaurer überlassen, welchen Zeitproblemen er sich
stellt, welche er für vordringlich erachtet.
Die freimaurerische Lebensphilosophie will das Gewissen schärfen. Jeder
Freimaurer soll sich dabei zum Niveau jener souveränen Menschen
emporarbeiten, die, seit die Welt besteht, ihre Existenzberechtigung stets
nur darin gesehen haben, dass sie für die Menschheit da waren. Derart
souveräne Menschen haben Neuerungen geschaffen, Initiativen geweckt und das
Leben lebenswerter gemacht, auch ohne sich darüber Gedanken machen zu
müssen, ob ihr Name von der Geschichte überliefert wird oder nicht. Das ist
wahre Freimaurerei.
Tausende von Schöpfergestalten waren Freimaurer
Tausende von Schöpfergestalten sind Freimaurer gewesen oder haben der
freimaurerischen Idee nahe gestanden. Sie hinterliessen Staatsgründungen und
Staatsverfassungen, sie formulierten die Menschenrechte und begründeten die
Humanisierung der Arbeitswelt. Sie kämpften für die Freiheit und den Frieden
und gaben in Kunst und Wissenschaft dem Sittengesetz Ausdruck. Sie schufen
vorbildliche, soziale Einrichtungen und legten den Grundstein für den
Zusammenschluss Europas. Kurz, sie arbeiteten für die Menschheit. Was sie
schufen, erreichten sie als Einzelne. Die Loge war für sie die Stätte der
Besinnung, des gedanklichen Dialogs mit den brüderlich verbundenen Freunden.
In unserer Zeit ist eine solche Stätte der Besinnung und Begegnung nötig.
Mehr Menschen als früher beginnen wieder nach dem Sinn des Lebens zu fragen.
Eine Antwort – sicher eine unter vielen – gibt die Freimaurerei. Schon Horaz
sagte «Lebensglück setzt Lebenskunst voraus» Die freimaurerische Philosophie
des Menschlichen ist eine solche Kunst, eine königliche Kunst, eine Kunst,
die Lebensglück begründen kann.
Auf der esoterischen Welle
Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, der Unsicherheit. Viele Menschen
suchen nach einem Halt. Sie suchen nach einer Hilfe. Das zeigt sich auch in
der esoterischen Welle, die uns gegenwärtig überschwemmt. Zuerst das Buch
«Sakrileg», den «Da Vinci-Code» und dann den Film im Hollywood-Format.
Unzählige Bücher vorher und nachher, vom «Heiligen Gral» bis hin zum «Das
Geheimnis der Templer und Freimaurer» beschäftigten sich mit unserem
Gedankengut. Es ist erstaunlich, auf welcher esoterischen Welle wir reiten.
Sollen wir Freimaurer da mitmachen, sollen wir uns auf dieser Welle treiben
lassen und versuchen, gar davon zu profitieren.
Mit einem unvergleichlichen Werbeaufwand und mit einem Budget von 125
Millionen Franken wurde der Film «Der Da-Vinci-Code» produziert und in allen
zivilisierten Ländern praktisch gleichzeitig in die Kinosäle gebracht. Schon
das Buch von Dan Brown mit einer Auflage von 40 Millionen Exemplaren war ein
Welterfolg. Auch der Film erreicht Rekord- Besucherzahlen. In der deutschen
Übersetzung heisst das Buch «Sakrileg». Interessant wäre es festzustellen,
wie viele der deutschsprachigen Leser auf Anhieb diesen Titel richtig deuten
könnten. Lateinisch heisst es «Sakrilegium» und bedeutet soviel wie
Gottesraub, die Verletzung oder Verunehrung einer heiligen Sache.
Dan Browns einseitige Sicht der Freimaurerei
Dan Brown versammelt im Buch «Sakrileg» so ziemlich alles, was der Markt
an Verschwörungstheorien hergibt. Wir finden die Katharer, die
Templerlegende, Maria Magdalena als Geliebte von Jesu und
geheimnisumwitterte Symbole, die von Leonardo da Vinci stammen sollen. Auch
die Prieuré de Sion fehlt nicht. Das ganze wird erweitert mit einer
einseitigen Darstellung des Opus Dei und dem Treiben eines eigenartigen
Pfarrers in einem kleinen Bergdörflein in den Pyrenäen.
Am Schluss kommt dann auch noch die Freimaurerei ins Spiel, und zwar mit
der bedeutungsschweren Kapelle von Rosslyn in den Schottischen Hügeln. Alles
in allem gesehen, kommt die Freimaurerei im Buch und im Film noch am besten
weg.
Wir Freimaurer könnten eigentlich zufrieden sein und uns im beispiellosen
Erfolg des Buches «Sakrileg» und des Filmes sonnen. Das ist jedoch zu
einfach und zu billig. Ich bin der Meinung, dass wir uns ernsthaft mit dem
Buch, aber auch mit der Medien-Welle rund darum herum auseinandersetzen
sollten. Wir müssen nicht auf dieser Welle reiten. Wir sagen ganz offen
unsere Meinung und legen unsere Prinzipien dar, die sich dann doch
wesentlich von Dan Browns Sicht unterscheiden.
Der Film zeigt ganz klar, dass wir Freimaurer uns öffnen müssen. Gerade
der Film ist der beste Beweis dafür, dass Geheimnistuerei zu den abwegigsten
Spekulationen führt. So werden die wildesten Gerüchte in die Welt gesetzt
und die ungeheuersten Geschichten erzählt, die mit der Wirklichkeit nichts
mehr zu tun haben.
Wir Freimaurer haben nichts zu verbergen. Wir können unsere Ideale und
unsere Ziele offen darlegen. Mit einem gewissen Stolz können wir auf die
bald 300-jährige Geschichte der Freimaurerei hinweisen. Nach wie vor sind
wir eine Schule der Menschlichkeit. Unsere Hauptaufgabe ist die Arbeit an
uns selbst. Freimaurer in unserer Welt sein, heisst sich mit den Problemen
in unserer Welt auseinander zu setzen, heisst menschlich sein, den
Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen und sich nicht in einen
Elfenbeinturm zurück zu ziehen und sich abzukapseln.
Problem Mitgliederschwund
Wenn wir Freimaurer auch im 21. Jahrhundert bestehen wollen, müssen wir
uns gründlich über die Bücher machen. Wir haben ein Hauptproblem, und das
ist die Überalterung. Und eng damit verbunden ist das Problem des
Mitgliederschwundes: Mit den Neuaufnahmen können wir die Lücken nicht mehr
füllen, die durch Abgänge und vor allem Todesfälle entstehen. Der
naheliegendste und unverfänglichste Rettungsanker bestünde in der
Rekrutierung neuer Mitglieder. Sie brächte frischen Wind, neue Ideen und
eine Menge Goodwill mit – sofern wir Mitgliederwerbung befürworten und auch
in die Tat umsetzen können. Die zuweilen im Brustton der Verlegenheit
geäusserte Phrase, Qualität gehe vor Quantität mal beiseite, kommen wir
nicht am Faktum vorbei, dass der Mitgliederbestand in der Schweiz, wie auch
in England und den Vereinigten Staaten nicht nur stagnierend, sondern
rückläufig ist. Im Gegensatz dazu erfreuen sich die Brüder in Österreich
eines enormen Zustroms. Es bestehen für die Aufnahme Wartelisten. Und das
trotzdem sich die Grossloge von Österreich konsequent weigert, sich zu
öffnen und an der vollen Deckung festhält.
Die französischen Logen vermehrten ihren Bestand sogar von 40’000 im
Jahre 1972 auf rund 140’000 Brüder im Jahre 2003, womit sie ihre Basis mehr
als verdreifachten. Die französischen Logen betreiben aktiv Public
Relations, beispielsweise durch zahlreiche Ausstellungen im ganzen Land und
durch die Herausgabe einer Sonder-Briefmarke anlässlich der 275-Jahr-Feier
der französischen Freimaurerei. Staatspräsident Chirac empfing die
Grossmeister aller nationalen Grosslogen. In den grossen Blättern, von
Paris-Match bis Le Monde und Figaro erschienen von hoher Wertschätzung
zeugende Beilagen. In Frankreich stellt sich die Freimaurerei in der
Öffentlichkeit völlig entkrampft dar. Sie meidet die Aura der Exklusivität
und des distanziert Geheimnisvollen. Dafür bemüht sie sich um grösstmögliche
Sachlichkeit.
Die österreichische Post hat einen wunderbaren Sonderblock zum Thema
«Mozart und die Freimaurerei» herausgegeben. Dazu kommen Sonder- Briefmarken
und Sonderstempel zum Mozart-Jubiläum. Vor allem Mozarts 250. Geburtstag ist
ein Aufhänger, um sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren und darauf
hinzuweisen, dass Mozart ein begeisterter Freimaurer war. Deshalb
veranstalten die Zürcher Logen ein grossartiges Konzert mit einem
hervorragenden Orchester, einem bekannten Chor von 60 Sängern und
herausragenden Solisten unter dem Titel «Mozart, der Freimaurer und
Musiker».
Wir müssen unverkrampft der Öffentlichkeit gegenüber treten
Für uns Freimaurer in der Schweiz bedeutet das, dass wir ebenfalls vom
Geheimnisvollen wegkommen und uns unverkrampft der Öffentlichkeit darstellen
müssen. Hier bietet sich das Internet als ideale Plattform geradezu an. Die
Loge Catena Humanitatis unterhält – wie viele andere Logen – eine Homepage,
die beachtet wird. Die Loge konnte in den letzten zwei Jahren zwanzig neue
Lehrlinge aufnehmen, die sich grösstenteils über das Internet gemeldet
haben. Diese Lehrlinge brachten eine willkommene Blutauffrischung und vor
allem eine deutliche Herabsetzung des Durchschnittsalters.
Träger dieser Aktivitäten für die Öffentlichkeit ist die einzelne Loge.
Das kann die Grossloge nicht selbst übernehmen. Dazu gehören die Tage der
Offenen Tür, an denen man der Öffentlichkeit die Logenräume zeigt, oder
öffentliche Informationsveranstaltungen, Ausstellungen über die Freimaurerei
oder einen Zyklus von Vorträgen in Zusammenarbeit beispielsweise mit der
Hochschule oder mit der Volkshochschule. Die Kreativität jeder einzelnen
Loge ist gefragt.
Wir müssen unsere Aufgaben überprüfen und neu formulieren
Wenn Freimaurerei für heutige Menschen attraktiv sein soll, muss sie
nicht nur einen realen Bezug zur Gegenwart und ihren Problemen haben,
sondern auch konkret zu deren Lösung beitragen. Unsere Aufgaben müssen
überprüft, konkretisiert und falls nötig, neu formuliert werden.
Damit die Freimaurerei überleben kann, soll sie den Angehörigen einen
sinnstiftenden und authentischen Weg in die Zukunft weisen. Als ethisch
moralische Vereinigung darf sie nicht länger zu Missständen und
Gegenwartsfragen schweigen, die unsere Überzeugungen verletzen.
Glaubwürdigkeit erreichen wir nur, wenn wir auch in der Öffentlichkeit
engagiert zur Freimaurerei und ihren humanen Grundsätzen stehen.
Die Freimaurerei kann sich jederzeit auf unsere gute schweizerische
Verfassung berufen, die alle Grundsätze enthält, die auch die unsrigen sind.
Es ist dringend notwendig, dass unser Selbstverständnis als Staatsbürger und
auch als Freimaurer positiv aufgebaut wird und zur Wirkung gelangt. Die
Fragen, denen wir uns in Zukunft stellen müssen, erfordern dies von uns. –
Meine lieben Brüder. Wir sind gefordert – packen wir es an!
(Ansprache gehalten anlässlich der Tempelarbeit der Schweizerischen
Grossloge Alpina am Grosslogentag in Martigny am 11.Juni 2006)