Seneca und Epiktet sind auch heute noch aktuell und lebendig
Die Stoa – oder die Lehre der steten Arbeit an sich selbst
Die Stoiker haben sehr viel Gemeinsames mit der Freimaurerei. Ihre
Philosophie hat in der freimaurerischen Lehre tiefe Spuren hinterlassen.
Deshalb plädiert der Autor dafür, sich wieder mit der Stoa, der Lehre der
Stoiker, zu befassen.
Kurt Scheibler, Loge Akazia, Winterthur (Schweizer
Freimaurer-Rundschau: Mai 2007)
Kürzlich blätterte ich zufälligerweise unter anderem in einer 1968 von
mir für das damalige Rechtsphilosophische Seminar der Universität Zürich
verfassten Arbeit zur Stoa der römischen Kaiserzeit, in welcher ich den Satz
fand, die Stoa sehe «die eigentliche Lebensaufgabe in der unablässigen
Arbeit an sich selbst». Damit wurde mir, wovon ich 1968 als Nichtfreimaurer
noch keine Ahnung hatte, klar, dass der Kerngehalt der Lehre der Freimaurer
mit dem der Stoiker wörtlich übereinstimmt. Diese nunmehr gewonnene neue
Erkenntnis veranlasste mich, über diese ausserordentlich bedeutsame, die
Antike während eines halben Jahrtausends beherrschende, philosophische
Richtung zu schreiben und auch Parallelen zu suchen zwischen dem Stoizismus
und den Freimaurern.
Es kann mit Fug gesagt werden, dass die bedeutungsvollste und reichste
der philosophischen Richtungen der so genannten nachklassischen Zeit der
alten Griechen, welche im 4. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen ist, die Stoa
ist. Sie wurde so genannt nach jener mit Fresken geschmückten Säulenhalle in
Athen, in welcher Zenon, der Gründer der Stoa, etwa um 300 v. Ch. seine
Schüler um sich versammelte. In der im Verlauf von Jahrhunderten mindestens
bis 200 n. Chr. waltenden stoischen Schule dürfte als die nachhaltigste, bis
in die heutige Zeit wirkende, diejenige der frühen römischen Kaiserzeit
sein, also im 1. und 2. Jahrhundert nach Christi Geburt, und zwar auch dann,
wenn sie im wesentlichen Trägerin der alten Gedanken ist. Unter ihren
Verkündern sind so bedeutende Männer wie Lucius Annaeus Seneca, der
ursprüngliche Sklave und später freigelassene Epiktet sowie Kaiser Marc
Aurel zu finden. Seneca ist heute so lebendig wie eh und je und wird es wohl
noch während Jahrhunderten, wenn nicht während Jahrtausenden bleiben. Ich
erinnere unter anderem nur an das erstmals 1970 im Artemis Verlag
erschienenen Kompendiums «Seneca für Manager», welches mittlerweile in der
5. Auflage publiziert wurde.
Die oberste Vorschrift der Stoa: «Lebe gemäss der Natur»
Die oberste Vorschrift für die Stoiker lautete: «Lebe gemäss der Natur».
Die Auffassung eines das All beherrschenden Naturgesetzes führte dazu, dass
für die Stoiker die staatlichen Grenzen fallen und der Mensch sich als
Kosmopolit, als Weltbürger fühlt. Auch dies könnte aus einem Werk über die
Freimaurer entstammen. Daraus folgt, dass der auch heute immer wieder
gehörte Begriff des Naturrechts nicht neueren Ursprungs ist, sondern seine
Wurzeln im Stoizismus hat. Aus dieser philosophischen Richtung entwickelte
sich in der Folge die römische Lehre vom Naturrecht, das durch die Vernunft
selbst für alle Menschen festgelegt wird. Ich erinnere nebenbei daran, dass
wesentliche Teile unserer heutigen Gesetzgebung (Obligationenrecht und
Sachenrecht) mit dem des römischen Rechts identisch sind, weshalb auch heute
noch jeder werdende Jurist das römische Recht, das von der Stoa wesentlich
mitgeprägt wurde, erlernen soll.
Im Gegensatz zur Lehre des bedeutenden, ebenfalls um 300 v. Chr.
wirkenden Philosophen Epikur, dessen faszinierende, immer wieder falsch
verstandene, ein eigenes abendfüllendes Programm ergebende Lehre, die eine
etwas andere Stellung einnahm. – Epikur wird bis heute fälschlicherweise
unterstellt, er habe Schlemmerei und Wohllust verkündet – pochten die
Stoiker auf ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft und
betrachteten den Dienst an ihr als ihre Pflicht, wie sie auch dem Freimaurer
geboten ist.
Der Stoizismus verkündet eine Freiheit, die durch keine äussere
Unterdrückung aufgehoben werden kann. Sie beruht auf der Besiegung der
Leidenschaften. Die Stoa lehrt, dass Sklave seiner Leidenschaft nur der ist,
welcher sich selber zum Knecht seiner Begierden der Aussendinge macht und
nur derjenige frei ist, der seine innere Unabhängigkeit wahrt und dadurch
imstande ist, sein Leben nach eigenem Ermessen zu führen. Darüber
entscheiden nicht irgendwelche äusseren Lebensumstände, sondern allein die
seelische Haltung, die innere Einstellung des Menschen zu seiner Umwelt.
Insbesondere in der späten Stoa, nämlich der der bereits erwähnten
römischen Kaiserzeit, sieht man die eigentliche Lebensaufgabe in der
ebenfalls zitierten unablässigen Arbeit an sich selbst. Seneca lehrt in
seinem Werk «De ira» (vom Zorn): «Wir müssen an uns arbeiten; wir sind alle
fehlbar.Was man bei anderen tadelt, findet ein jeder in der eigenen Brust
und: ist jemand zornig auf Dich, fordere du ihn heraus durch Wohltaten».
Dieser Ratschlag mutet christlich an. Seneca hat denn auch die christliche
Lehre erheblich beeinflusst. Die Hinwendung auf das eigene Innere führt
dazu, dass sich die ehrlich Ringenden ihre Haltung nach ihrem eigenen Wissen
und Gewissen ausgestalten.
Die faszinierendste und zeitweise vielleicht auch schillerndste
Persönlichkeit der späten Stoa war die des bereits erwähnten Lucius Annaeus
Seneca, welcher auch unter den Freimaurern gelegentlich erwähnt wird.Wenn
wir seine philosophische Lehre wirklich verstehen wollen, kommen wir nicht
umhin, uns kurz seinem bewegten Leben und seinem wechselvollen Schicksal
zuzuwenden.
Seneca: Erzieher von Nero
Kurz vor der Zeitenwende in Südspanien als Sohn eines römischen Ritters
geboren, verbrachte er seine Jugend in Rom, wo ihn sein Vater zum Redner und
Anwalt schulen liess. Verhältnismässig spät trat er die übliche politische
Laufbahn eines jeden bedeutenden Römers an. Unter Kaiser Caligula war er
Quästor und zeichnete sich als Redner so sehr aus, dass ihm die ser seinen
Ruhm neidete und ihn töten lassen wollte. Nur das Gerücht von einer schweren
Krankheit, die seinen baldigen Tod erwarten lasse, rettete ihm damals das
Leben. Nach der Ermordung Caligulas wurde er auf Betreiben Messalinas, der
Gattin des nachfolgenden römischen Kaisers Claudius, nach Korsika verbannt.
Die Ausweisung auf diese damals unwirtliche Insel, fern aller Kultur, war
ein furchtbarer Schlag für einen Mann, der in der Blüte seines Lebens stand.
Acht Jahre musste Seneca auf Korsika verweilen. Erst nach Messalinas Tod
wurde er nach Rom zurückberufen. Auf Verlangen Agrippinas, der zweiten
Gemahlin des Claudius, wurde er Erzieher ihres Sohnes, des nachmaligen
Kaisers Nero.
Als dieser nach Claudius´ Tod zur Herrschaft gelangt war, übernahm Seneca
für den noch nicht volljährigen Thronfolger die Leitung der Staatsgeschäfte
des römischen Imperiums, mithin eines Reiches, welches damals das absolut
dominierendste rund um die Erde war. Kaiser Traian, selbst einer der besten
Kaiser, hat Seneca das Zeugnis ausgestellt, dass die ersten fünf Jahre unter
Nero, tatsächlich unter Seneca, die glücklichste Zeit des römischen Reiches
in jenem Jahrhundert gewesen seien. Ab dem Jahre 59 n. Chr. ging dann
allerdings Senecas Macht und Einfluss auf den jungen Kaiser Nero immer mehr
zurück und es nahmen in gleichem Masse dessen Herrscherwahn und Grausamkeit
zu. Im Jahr 62 sah Seneca keine Möglichkeit mehr, das Unheil abzuwenden und
zog sich vom Staatsleben zurück.
Seine letzten Lebensjahre verwendete er zu einer erstaunlich reichen und
vielseitigen philosophischen und anderweitigen Schriftstellerei. Es darf
darauf hingewiesen werden, dass wir heute noch Tragödien von Seneca in
Schauspielhäusern aufgeführt erhalten; allerdings ist schmerzlich zu
vermerken, dass ein Teil seiner Schriften für immer verloren ging. Der
Rückzug von den Staatsgeschäften bewahrte Seneca dann allerdings nicht
davor, ein Opfer der Blutherrschaft Neros zu werden. Er wurde im Jahr 65 von
Nero der Verbindung zu Verschwörern beschuldigt und zum Freitod gezwungen.
Seinen Tod hatte Seneca mit dem Mut des römischen Mannes und der
Gelassenheit des Stoikers auf sich genommen.
Wenden wir uns nun einigen der von Seneca verfassten Werke zu, wobei wir
uns bei der bestehenden Vielzahl auf wenige beschränken müssen. In seiner
Schrift «Vom glückseligen Leben» (De vita beata) führt er aus, wir werden
gerettet, sobald wir uns vom grossen Haufen absondern. Zur Erreichung ihres
Zieles wollen die Freimaurer genau dasselbe, geht es doch anders eben nicht.
Denn die Menge steht tatsächlich, wie Seneca ausführt, der Vernunft
feindlich gegenüber. Treffend führt er an, was uns denn hindere, zu
erkennen, dass ein glückseliges Leben darin bestehe, einen freien, hoch
gesinnten, unerschrockenen und standhaften über Furcht und Begierden
erhabenen Geist zu haben, für den es nur ein Gut gebe, Sittlichkeit, und nur
ein Übel, Unsittlichkeit. Glückselig ist, wer mit dem Bestehenden, wie es
auch immer sei, zufrieden und mit seinen Verhältnissen befreundet ist. Nicht
der ist arm, der wenig besitzt, sondern wer nach mehr verlangt.
In seinem Werk «Von der Gemütsruhe» (De tranquillitate animi) führt er
bezüglich des auch für die Freimaurer so wichtigen Freundeskreises, aus,
nichts erquicke den Geist so sehr wie treue und herzliche Freundschaft.Welch
ein Segen ist es, führt er aus, treue Seelen um dich zu haben, denen du
jedes Geheimnis sicher anvertrauen kannst, deren Mitwissen du weniger zu
fürchten brauchst, als dein eigenes, deren Wort deinen Kummer lindert, deren
Urteil dir Rat bringt, deren Heiterkeit deine Traurigkeit verscheucht, deren
blosse Gegenwart dich schon erfreut. Dazu, fährt Seneca weiter, wollen wir
solche als Freunde wählen, die, soviel wie nur irgend möglich, frei von
Leidenschaften sind. Die letzte Aussage ist wieder typisch für die Stoiker,
welche über den Leidenschaften stehen wollen. Er verlangt, dass man sich bei
der Wahl der Freunde Mühe zu geben habe, und nur solche nehme, die so wenig
wie möglich mit Lastern behaftet sind. Schliesslich hält Seneca nüchtern
fest: «So sind Freundschaften geartet, die das Volk opportunistisch
nennt.Wer um seiner Nützlichkeit Willen zum Freund gewählt wird, ist nur
gerade so lange genehm, als er von Nutzen ist».
In einer weiteren Schrift «Von der Kürze des Lebens» (De brevitate vitae)
hält Seneca fest, wir haben nicht zu wenig Zeit, aber wir verschwenden
zuviel davon, und weiter: «Wie lange ich lebe, liegt nicht in meiner Macht;
dass ich aber, so lange ich lebe, wirklich lebe, das hängt von mir ab». Wir
können da auch bei uns anknüpfen und anführen: «Wirke solange es Tag ist,
denn es kommt die Nacht, wo niemand mehr wirken kann». Im Anschluss daran
führt Seneca aus, auch zur Vollbringung der grössten Dinge ist das Leben
lang genug, wenn es nur gut angewendet wird. Fliesst es dagegen in Üppigkeit
und Nachlässigkeit dahin, ohne dass es zu irgendetwas Gutem verwendet wird,
so merken wir erst, fügt er an, wenn die letzte Not drängt, dass es vorüber
ist. Während es dahin fliesst, merken wir nichts. Mahnend erwähnt Seneca,
die meisten jagen, kein sicheres Ziel verfolgend, in unsteter, sich selbst
missfallender Unbeständigkeit von einem Vorhaben zum anderen. Einigen, fährt
er fort, gefalle nichts, worauf sie ihre Lebensweise richten könnten. Matt
und gähnend überfalle sie der Tod analog zum Orakelspruch: «Wir leben nur
des Lebens kleinsten Teil; denn freilich, unsere ganze übrige Dauer ist
nicht Leben, sondern Zeit».
Für ein besseres Leben erteilt Seneca den Ratschlag: «Das Hinausschieben ist
der grösste Verlust fürs Leben; es verzettelt immer den nächsten Tag, es
entreisst die Gegenwart, indem es auf die Zukunft verweist. Das grösste
Hindernis des Lebens ist die Erwartung, die vom Morgen abhängt. Du verlierst den
heutigen Tag; was in der Hand des Schicksals liegt, ordnest du, was in der
deinigen liegt, lässt du fahren». Nachdrücklich hält er schliesslich fest:
«Während man es aufschiebt, geht das Leben vorüber».
124 Briefe an Lucilius: «Arbeite an Dir selbst»
In seinem Spätwerk, den 124 Briefen an Lucilius, den damaligen Verwalter der
kaiserlichen Finanzen auf Sizilien, schrieb Seneca zum Thema Liebe: «Ich will
dir ein Liebesmittel zeigen, das ohne Zaubertränke, ohne Kräuter, oder Sprüche
auskommt: Willst du geliebt werden, so liebe». Bezüglich der Vernunft, führt er
aus: «Wenige sind es, die sich und ihr Leben mit Vernunft lenken. Die übrigen
gleichen Schwimmern in einem Fluss: sie bestimmen ihren Kurs nicht, sie lassen
sich treiben». Ebenfalls in den Briefen an Lucilius finden wir eine Bemerkung,
die uns wieder zur ewig freimaurerischen Thematik führt. Er hält fest: «Das ist
das Haupthindernis, dass wir zu schnell mit uns zufrieden sind». Damit ermahnt
uns Seneca einmal mehr, uns nicht auf den Lorbeeren auszuruhen, sondern laufend
an uns weiterzuarbeiten.
Zu der bei uns so oft zitierten und auch diskutierten Toleranz gegenüber den
Menschen oder Brüdern fordert uns der antike Philosoph und Staatsmann auf, immer
wieder auf den Lippen zu haben: «Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches achte
ich mir fremd». Er fügt an: «Halten wir fest zusammen; für die Gemeinschaft sind
wir geboren. Die menschliche Gesellschaft gleicht einem Gewölbe, das
zusammenstürzen würde, wenn sich nicht die einzelnen Steine gegenseitig stützten
– gerade die Tendenz zum Einsturz hält den Bogen».
Diese schöne symbolische Darstellung erinnert an das Aufnahmeritual der
Freimaurer. Je nach Loge fragt der Meister den ersten Vorsteher bezüglich des
salomonischen Tempelbaus, welche Bausteine hierzu gebraucht würden. Dieser
antwortet, «die Bausteine, deren wir bedürfen, sind die Menschen». Auf die
weitere Frage des Meisters, welcher Mörtel nötig sei, um die Bausteine zu
verbinden, antwortet der Vorsteher, «die schöne, reine Menschenliebe, die
Brüderlichkeit aller, das ist der Mörtel zum Tempelbau». Die Stoa lehrte, im
eigenen Innern die letzte Autorität für das Denken und Tun zu sehen. Von jeher
war dem Stoiker die sittliche Bildung, die damit beginnt, dass der Mensch sich
seiner Unzulänglichkeit bewusst wird und die Notwendigkeit einer festen
Zielsetzung für das Leben erkennt, wesentliches Stück der praktischen Ethik
gewesen. Wie beim Freimaurer kann dieses Ziel nur durch eigene Anstrengung und
Selbsterziehung erreicht werden. Der entscheidende Faktor bei der
Selbsterziehung war für Seneca der Wille. Dieser ist zu bündeln, damit man sich
nicht in Unwichtigem verliert. Denn, so Seneca, «wer überall ist, ist
nirgendwo».
Epiktet – vom Sklaven zum Philosophen
Die zweite wichtige Persönlichkeit der Stoiker der römischen Kaiserzeit war
Epiktet. Dieser wurde ca. 50 n. Chr. in Hierapolis in Phrygien geboren und kam
als Sklave nach Rom, wo ihm die bürgerliche Freiheit geschenkt wurde. Auf Befehl
des Kaisers Domitian musste er allerdings hernach, wie damals alle Philosophen,
Rom und Italien verlassen. In Nikopolis in Epirus lehrte er von da ab unter
grossem Zulauf und Beifall bis an sein Lebensende. Wenn wir noch beifügen, dass
Epiktet lahm, infolge Misshandlung als Sklave durch seinen damaligen Herrn, und
unverheiratet war, so ist das in etwa alles, was wir von seinem äusseren Leben
wissen. Von seinen acht Büchern der «Unterredungen» sind uns vier erhalten
geblieben. Epiktets Lehre hat das frühe Christentum – und damit auch die
Freimaurerei – massgeblich beeinflusst.
Noch mehr als bei den anderen Stoikern konzentriert sich bei Epiktet die
Philosophie auf die praktische Ethik. Er imponiert durch grossartige
Einheitlichkeit und Geschlossenheit seines Gedankensystems. Erste Aufgabe ist
die Regelung unserer Begierden, da sie die Voraussetzung für das rechte Handeln
und die Erfüllung der Pflichten gegenüber den Mitmenschen ist, die das weite
Gebiet unseres sittlichen Verhaltens bildet. Ein Durchschnittlicher erwartet
keinen Nutzen oder Schaden von sich selber, sondern alles von aussen. Der
Philosoph hingegen erwartet allen Nutzen und allen Schaden von sich selber.
Epiktet beginnt seine Bücher mit den pragmatischen Sätzen: «Von den Dingen
stehen die einen in unserer Gewalt, die anderen nicht. In unserer Gewalt steht
unsere Meinung, unser Handeln, unser Begehren und Meiden – kurz: all unser Tun,
das von uns ausgeht. Nicht in unserer Gewalt stehen unser Leib, unser Besitz,
das Ansehen und die äussere Stellung – mit einem Wort: alles, was nicht unser
Tun ist.Was in unserer Gewalt steht, ist von Natur frei, kann nicht gehindert
oder gehemmt werden; was aber nicht in unserer Gewalt steht, ist hinfällig,
unfrei, kann gehindert werden und steht unter dem Einfluss anderer.». Merke,
fügt er an: «Wenn du das von Natur Unfreie für frei, das Fremde dagegen für dein
Eigentum hältst, dann wirst du nur Unannehmlichkeiten haben, wirst klagen, dich
aufregen, wirst mit Gott und der Welt hadern. Hältst du aber das für dein
Eigentum, was wirklich dein ist, das Fremde dagegen für fremd, dann kann kein
Mensch einen Zwang auf dich ausüben, niemand dir etwas in den Weg legen, du
wirst niemandem Vorwürfe machen, niemand die Schuld geben, wirst nichts gegen
deinen Willen tun, niemand kann dir dann schaden, du wirst keinen Feind haben,
du wirst überhaupt keinen Schaden erleiden».
Unzählige Male wiederholt Epiktet, nicht die Dinge selbst erregen uns und
bestimmen unser Handeln, sondern das Urteil, die Vorstellung, durch die wir
ihnen subjektiv Wert beilegen oder nicht. Die Vorstellung lässt uns vor Dingen
zittern, vor denen das Kind keine Angst hat. Und weiter: gewöhne dich, bei jedem
unangenehmen Ereignis zu sagen, du bist nicht das, was du scheinst, sondern nur
eine Vorstellung.
Wie Seneca drängt auch Epiktet auf dauernde Selbsterziehung. Mehr als andere
Stoiker betont er, dass der Anfang allen Philosophierens in der Erkenntnis der
eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit liegt. Er empfiehlt die regelmässige
Selbstprüfung und will sie sogar nicht nur in der Abendstunde, sondern nach
jeder Handlung vorgenommen wissen. Er schätzt auch die einsame Selbstbesinnung
und warnt vor schlechtem Umgang. Er schärft ein, dass ständige Übung notwendig
ist, wenn sittliche Fortschritte gemacht werden wollen. Die Tugend beruht ganz
und gar auf dem richtigen Wissen, das, wie Epiktet oft bemerkt, nicht leichthin
und nebenher, sondern nur durch methodisches Studium und praktische Übung
wirklich angeeignet werden kann.
Die von den Stoikern ganz besonders betonte und ausgebildete Lehre, dass der
Mensch zur Geselligkeit und Gemeinschaftsbildung und zu gemeinnützigem Wirken
von Natur aus veranlagt und geneigt sei, tritt auch bei Epiktet bedeutsam
hervor. «Die Natur des Menschen ist Wohl tun und Helfen», spricht er an einer
Stelle seines Werkes. Am liebsten möchte Epiktet vom Tod getroffen werden in der
Ausübung einer edlen gemeinnützigen Tat.
Epiktet wäre heute ein Freimaurer – mit oder ohne Schurz
Ich bin überzeugt, wäre Epiktet 17 Jahrhunderte später geboren, er wäre
Freimaurer – mit oder ohne Schürze – geworden. War der Werdegang beim ebenso
genialen wie brillanten Seneca der von ihm beschriebenen Philosophie teilweise –
allerdings ungewollt – klar entgegengesetzt, so war Epiktet der wahrhaftigste
und glaubwürdigste der Stoiker, der so lebte, wie er seinen Hörern empfahl.
Epiktet blieb im normalen bürgerlichen Leben und dachte nicht daran, sich vor
seinen Hörern als vollkommener Mensch aufzuspielen. Er fühlte die Schwere der
sittlichen Aufgabe und spornte umso leidenschaftlicher zur vollen Anspannung der
Kräfte an.
An einer für ihn besonders bezeichnenden Stelle, mit welcher ich meinen
Bauriss schliessen möchte, erwähnt Epiktet: «Zeigt mir doch nur einen Menschen,
der wirklich ernst macht! Zeigt mir einen Stoiker, der nicht bloss stoische
Sätzchen im Munde führt! Bei Gott, ich sehne mich darnach, einen Stoiker zu
sehen!» Wenn wir nun die Bezeichnung «Stoiker» durch das Wort «Freimaurer»
ersetzen, erkennen wir, dass wir heute die gleiche Situation wie damals
vorfinden.