Über Stille zu reden ist zu wenig, man muss sie erleben

Der Weg zur Meisterschaft führt durch die Stille

Die Stille spielt in der Freimaurerei eine wichtige Rolle. Dies beginnt schon vor der Initiation. Der Suchende wird zuerst in die Kammer des Stillen Nachdenkens geführt, in der er über sich und über die Welt seine Gedanken machen soll.

F. Anton Fessler, Loge Bauplan, St. Gallen (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Oktober 2007)

«Die einzig wirksame und machtvolle Waffe gegen die Mächte, welche die Welt sowohl physisch wie geistig zerstören wollen, ist die Stille. Die Stille, die aus der Überzeugung kommt, dass da ein Etwas ist, das unser Weltall erschuf und es bis in alle Ewigkeit erhalten wird – es ist die Fähigkeit, uns in diese Stille hinein zu begeben und jenes Etwas seine Aufgabe erfüllen zu lassen. In dieser Stille finden wir die Allheit. In dieser Ruhe und diesem Vertrauen finden wir unsere Kraft und unseren Frieden.» Diese Worte stammen von Joel S. Goldsmith in seinem Aufsatz «Der Donner der Stille». In lautloser Stille sitzt ein Suchender in der Kammer der Vorbereitung – in stilles Nachdenken versunken. Vor ihm stehen drei Lichter und ein Schädel – lenken seine Gedanken hin zum Tod – vom Leben zum Tod – vom Tod zum Leben – und seine Gedanken beginnen zu kreisen: Ein steter Wandel der Formen nur? – Beim Menschen – beim Tier – bei der Pflanze – beim Mineral – beim Planeten – den Sonnen und Sternen im Kosmos?

Was hat sich die Wissenschaft mit dem Stoff geplagt, um dem Geheimnis des Lebens nahe zu kommen und es zu ergründen. Aber es ist ihr nicht einmal gelungen, den rätseltiefen Abgrund in einem Sandkorn zu ergründen! Dieses Sandkorn wird seit Jahrhunderten von der Wissenschaft studiert. Sie hat es gewendet und wieder gewendet. Sie hat es geteilt und wieder geteilt und weiter geteilt. Sie hat es mit ihren Experimenten gequält, um ihm das letzte Wort über seine verborgene Zusammensetzung zu erpressen – und sein Geheimnis zu erfassen.

Sie hat es mit unersättlicher Neugier gefragt: Wie weit lässt du dich teilen und wieder teilen, denn wir wollen zum Grunde des Lebens kommen. Aber die Natur gab ihr Geheimnis nicht preis.

Erst in neueren Tagen – nach Jahrtausenden mühevollen Ringens – liess sie mit dem Auge der Elektronenmikroskope über das Molekül in die unsichtbare Welt der Atome vordringen, hineintreten in die göttliche Werkstatt dieses zehnmillionsten Teils eines Millimeters.

Mit staunender Fassungslosigkeit sahen und erlebten sie, dass dieses bis dahin ungekannte und unvorstellbare Nichts der fundamentale Baustein der ganzen sichtbaren Schöpfung ist, der mit dem Geheimnis, das er vor ihren verblüfften Sinnen auftat – ihr ganzes materialistisches Weltbild zertrümmerte.

Denn sie schauten und fanden, dass dieser winzigste Teil der stofflichen Welt nicht – wie sie meinten – ein in sich geschlossenes Ur-Stoffteilchen war, sondern sich als ein Sonnensystem offenbarte, in welchem noch tausendmal winzigere Teilchen – die Elektronen, Neutronen und Protonen – genau so um einen Atom-Kern kreisen, wie die Planeten um unsere Sonne. Und dass in diesem winzigen Sonnensystem eine Kraft herrschen muss, welche diese unvorstellbaren Ur-Teilchen des Atoms in ewiger Bewegung hält, die obendrein (sowohl in ihren Bahnen, wie in ihren Zeitumläuften), sich in gleichem weisen mikrokosmischen Rhythmus abspielt, wie der Weg der Planeten um unsere Sonne.

Sie stehen in diesem mikrokosmischen Sonnensystem des Atoms also vor dem Wunder und Rätsel des Perpetuum mobile, jener ewigen Kraft, die es in Wirklichkeit auf der ganzen Erde nicht gibt! Denn jede Kraft ist chaotisch, unbewusst, willenlos und begrenzt.

In diesen Atomsplittern aber sehen sie eine bewusste, lenkende und ewige Kraft. Nachdem aber auch Kraft weder Weisheit noch Ewigkeit in sich tragen kann, kamen die Atomforscher zwingend zu der Erkenntnis, dass hinter dieser ewigen und weisen Kraft eine bewusste, denkende, wollende und lenkende Intelligenz stecken muss, welche sie – wie die Frühdenker aller Völker – Geist nennen.

Und so stieg das ewige Urwissen vor den Augen der heutigen Atomforscher wieder auf, dass der letzte Urgrund der Materie weder der Stoff ist noch die Kraft, sondern jener ewige, unsichtbare Geist.

Denn wenn der Geist die Bahnen der Atompartikel und auch des Atoms selbst nicht mehr wollte, und seinen Willen aus der Kraft zöge, würde die im Atom wirkende Kraft aufhören – dann würden seine Teilchen nicht mehr kreisen und das winzige Sonnensystem des Atomgefüges würde zerfallen und sich in Nichts auflösen.

Mit diesem Zerfallen des Atoms aber würden alle Geschöpfe der Erde, ja die Erde selber – die ja auch nur aus lauter Atomen besteht – sich ebenfalls in Nichts auflösen. Und somit würden alle Geschöpfe und alle Gestirne, mit einem Wort – das ganze Weltall – spurlos verschwinden. – Also ist der unsichtbare Geist der Urgrund und Inhalt der gesamten sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung.

Nun stürmt so vieles auf ihn ein

Hier wird die beschauliche Stille des Neophyten in der Kammer unterbrochen. Zwei Brüder treten ein, legen eine Binde vor seine Augen und führen ihn in einen Raum, den sie ihren Tempel nennen. Nun stürmt so vieles auf ihn ein – manches bleibt hängen, vieles sinkt hinab ins Unterbewusste. In diesen heil’gen Hallen .... hört er, wo Mensch den Menschen liebt, hört er. Das klingt gut.

Sei getreu!
Sei uns ein wahrer Freund!
Sei verschwiegen wie der Tod!

Schon wieder der Tod! Er sei Lehrling wird ihm gesagt. Selbsterkenntnis sei die Aufgabe des Lehrlingsgrades! Grosse Freude herrscht im Bruderkreis beim anschliessenden Festmahl und eine Welle von Freundschaft wogt ihm entgegen. – Schön! Aber den jungen Bruder drängt es heim – heim in die Stille seiner Kammer, um all das Erlebte Revue passieren zu lassen und all die tiefen Eindrücke nachzuvollziehen und zu verdauen.

Erkenne dich selbst!

Selbsterkenntnis ist die Aufgabe des Lehrlingsgrades! wird ihm gesagt. Der Lehrling betrachtet sich im Spiegel. Ist das mein Selbst? Gewissermassen Ja. Denn jedes Atom lebt und besteht aus dem und in dem Geiste des Göttlichen Seins. Aber die Idee zu dieser Form und die Absicht, die Aufgabe und der Sinn dieses Geschöpfes – meiner Wesenheit – beruht allein auf einem Impuls des Schöpfers. Mit diesen Betrachtungen legt sich der neue Freimaurer- Lehrling zur Ruhe. Und in die Stille dieses Augenblicks drängt sich aus der Erinnerung eine Passage auf, die er einmal irgendwo gelesen hat:

Wenn ein Neophyt in den Apollo-Tempel in Delphi – im alten Griechenland – eintrat, sah er über dem Portal die Inschrift «Erkenne dich selbst…». Und wenn er nach vollzogener Initiation den Tempel verliess, dann las er auf der Innenseite des Torbogens den zweiten Halbsatz: «…dann erkennst du Gott». Mit diesen Gedanken sinkt der neue Freimaurer-Lehrling hinab in die Stille des Schlafes.

Meisterschaft

Die Natur entschleiert sich selbst, nicht wir entschleiern sie. Wir müssen nur immer wieder eintauchen in jene erhabene Stille, die uns in meditativer Schau die Grösse und Herrlichkeit der Schöpfung bewusst werden lässt und uns bewegt, unseren Mitgeschöpfen aller Seinsebenen mit dem ihnen gebührenden Respekt zu begegnen.

Der Weg zur Meisterschaft führt durch die Stille. Die Stille ist die einzig wirksame und machtvolle Waffe gegen die Mächte, welche die Welt sowohl physisch wie geistig zerstören wollen. Die Stille, die zu der Erkenntnis führt, dass da ein Etwas ist, das unser Weltall erschuf und es bis in alle Ewigkeit erhalten wird.