Ist die Freimaurerei wirklich spekulativ?
Spekulative oder konstruktive Freimaurerei?
«Ich sag es dir: – Ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein
Tier, auf dürrer Heide, von einem bösen Geist im Kreis herum geführt – und
rings umher liegt schöne grüne Weide» J.W. Goethe: Faust I (im
Studierzimmer)
Ernst Peter, Loge Modestia cum Libertate, Zürich
(Schweizer Freimaurer-Rundschau: Mai 2008)
Unser Bruderbund wird in Vorträgen und Schriften immer
wieder als «spekulative Freimaurerei» bezeichnet. Ist die Freimaurerei
wirklich spekulativ? Die Antwort lautet: Nein – sie ist es nicht! Und dies
obwohl das Bild, welches Goethe zeichnet, uns sehr berührt und nachdenklich
stimmen muss. Die Loge darf keine dürre Heide sein, wo sich die Freimaurer
von einem bösen Geist, der Spekulation, im Kreis herum führen lassen. Sie
ist die schöne grüne Weide, auf der das Leben stattfindet.
Im Forum Freimaurerei werden – im aufklärenden Sinn,
sachverständig die Fragen und Probleme des Lebens, des Menschseins und der
Menschlichkeit erörtert, mit dem Anspruch für eine bessere Welt zu wirken.
Ein symbolisches, geistiges Bauwerk soll die Idee und die Erkenntnissen der
Freimaurerei darstellen und erklären. Wir nennen es «Tempel der Humanität»,
oder deutlicher umschrieben «Tempel des Lebens, des Menschseins und der
Menschlichkeit». Freimaurerische Arbeit beginnt immer mit dem Hammerschlag
und den Worten des Meisters vom Stuhl: «Zur Ordnung meine Brüder». Dies gilt
als Aufforderung, sich voll und ganz auf die Arbeit zu konzentrieren, sich
zu lösen von Gewohnheiten und Vorurteilen. Trägheit und Selbstgenügsamkeit
zu überwinden, sich von Scheinwelten zu trennen und Ballast abzuwerfen – um
ein freier Maurer, ein Freimaurer zu sein.
Nur diese Läuterung ermöglicht es, objektiv zu denken,
kritisch zu hinterfragen, verständnisvoll und tolerant Lösungen zu suchen,
kreativ und aufbauend zu handeln.
Sich selbst, auch im Alltag, immer wieder «zur Ordnung» zu
rufen, ist ein wesentlicher Schritt zur Verwirklichung des freimaurerischen
Bemühens. Das mehrdeutige Wort « spekulativ» führt, als Beschreibung einer
Gemeinschaft zu Missverständnissen und wirkt abwertend. Das Spekulative ist
kaum konsensfähig, schafft kein Vertrauen. Die Verantwortlichkeit beschränkt
sich auf den subjektiven Privatbereich.
Was ist konstruktive Freimaurerei?
Das Wort «konstruktiv» beschreibt die Planung und die
Erarbeitung eines gültigen Leitbildes, das jedes Bauwerk bedarf. Das
Konstruktive und die Werkzeuge der Konstruktion «Winkelmass und Zirkel» sind
tragende Elemente der freimaurerischen Bausymbolik.
Konstruktiv heisst sinnvoll, aufbauend, fördernd,
entwickelnd und mitarbeitend. Spekulativ dagegen ist hypothetisch, über die
erfahrene Wirklichkeit hinausragende (metaphysische Gedankenführung.
Spekulativ beruht auf Annahmen, Mutmassungen und auf Erwartungen.
Die «schöne grüne Wiese», auf welcher sich der Bauplatz
unseres Tempels befindet, ist nicht das Paradies, aber sie gibt allem
Lebendigen die Daseins- Grundlage und die Daseinsberechtigung. Für uns
Menschen, für uns Freimaurer beinhaltet sie zudem eine sinnvolle
Lebensaufgabe.
Das Bauen, das Planen und die Ausführung eines
anspruchsvollen «geistigen Tempels für das Leben, das Menschsein und die
Menschlichkeit» erfordern konstruktives und operatives Wissen und Können.
Nachfolgend sei versucht, das Reale und das Sinnbildliche zu vereinen.
Das Lebewesen Mensch ist ebenso wie alle anderen Lebewesen
Natur und Körperlichkeit. Es besteht und lebt von der Natur. Es ist den
Gesetzen der Natur unterworfen. Verdeutlicht wird dies durch die Elemente.
In unserer Wahrnehmung bietet die Erde als statisches Element die Grundlage,
das Fundament, den Nährboden. Die dynamischen Elemente,Wasser, Feuer Luft,
erzeugen die Energie, die Bewegung, die Erneuerung. Es ist das Fliessende,
das Durchdringende, Umfassende, das Licht und das Klima, den Atem haben –
welches das Leben erwachen lässt. Wir sind abhängig vom Zusammenwirken, wie
auch von der Reinheit und der Funktionsfähigkeit der Elemente.Wer die Natur
schützt und pflegt, schützt und pflegt sich selbst!
Freimaurerei ist Denkkultur
Der Mensch unterscheidet sich von den andern Lebewesen durch
den Intellekt. Er kann denken und wissen – er hat Verstand. Er kann abwägen
und urteilen – er ist fähig zur Vernunft. Er hat einen aufrechten Gang – er
hat Übersicht und Weitsicht und die Hände frei zum Tätigsein, zum
Eingreifen. Durch diese Fähigkeiten erforscht, nutzt und beherrscht der
Mensch alle Wesen der Schöpfung. Er greift ein in die Abläufe des
weltlichen, natürlichen Geschehens. Verstand und Vernunft, Ehrfurcht und
Verantwortungsbewusstsein müssen dabei das Mass bestimmen.
Der Intellekt, das Denken und die Triebkraft für das
Menschenmögliche und das Machbare – und dies sowohl im positiven wie auch im
negativen Sinn. Es ist eine menschlich freimaurerische Aufgabe,
konstruktives Denken und Handeln in die Lebens- und Gesellschaftsgestaltung
einzubringen. – Freimaurerei ist Denkkultur!
Die Gefühlte, die Emotionalität und das Gewissen sind
mitbestimmend für unser Befinden und unser Verhalten. Unser Sein wird von
Stimmungen, von Sehnsüchten und Leidenschaften, von Kräften der Freude, der
Liebe und des Glücks, wie auch von Kräften des Leids und der Angst
beeinflusst. Zuneigung und Liebe, Geborgenheit und Zuversicht, Herzens- und
Charakterbildung, sowie die ständige Suche nach dem Guten und Wahren helfen,
Emotionen zu kultivieren. Das Wohlbefinden, der innere Friede und die
Lebenskraft ergeben sich aus dem ausgleichenden und aufbauenden
Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele.
Das Subjekt und das Objekt
Der Freimaurer arbeitet am rauen Stein, das heisst, an sich
selbst. Er bemüht sich, sich selbst bewusst zu werden. Dabei wird er auch
wahr nehmen, dass sein Selbst, sein Ich nur ein Teil der Wirklichkeit ist.
Der Logentempel, als Sinnbild des Kosmos, gliedert uns ein ins übergreifende
Zusammenwirken des grossen Ganzen. Nichts ist absolut eigenständig. – Warum
sollte der Mensch es sein? Der Mensch ist nur unter Menschen ein Mensch.
«Ich – das sind auch die anderen» sagt ein Philosoph. Dies
lässt uns erkennen, dass die erstrebenswerte, persönliche Freiheit eng mit
der Anerkennung des Anderen sowie mit Klugheit und Respekt,
Selbstverpflichtung und Selbstdisziplin verbunden ist.
Die Wirksamkeit und die Verbundenheit eines Bruderbundes
erwachsen aus dem gegenseitigen Vertrauen und der Vertrautheit der Brüder in
ihrer gemeinsamen Arbeit am Bau. Vertrauen und Vertrautheit ist das
Geheimnis der Freimaurerei. Der gemeinsame Weg, der zum Vertrauen führt,
wird erleuchtet durch die symbolischen Lichter – Bibel, Winkelmass und
Zirkel – welche einerseits die Besinnlichkeit und anderseits die Kreativität
und die operative Tätigkeit initiieren.
Die Bibel versinnbildlicht die Tugenden und die
Brüderlichkeit. Sie ist zudem der Inbegriff des unfassbar Göttlichen, das in
uns angelegt ist. Wir Freimaurer nennen es «allmächtiger Baumeister aller
Welten». Es ist das Wissen um die Kräfte des Gegensätzlichen – des
Rationalen und des Irrationalen, des Positiven und des Negativen, des
Himmels und der Hölle, des Schöpferischen und des Zerstörenden, des Lebens
und des Todes – die uns Zeit unseres Lebens bewegen und die, bei all unserem
Tun und Lassen von uns Antworten verlangen auf die wichtigen Fragen:Was ist
das Gute? Was ist das Wahre? Was ist das Richtige? Dies bedingt unser
Wachsein. Es vermittelt uns aber auch Einsichten, welche eine abgeklärte,
befreiende Gelassenheit ermöglichen, Mit dem Winkelmass und dem Zirkel sind
uns Werkzeuge des Schöpferischen, der Planung, der Konstruktion und des
Aufbauenden in die Hände gelegt – verbunden mit dem Auftrag, ein
wahrnehmbares Bauwerk für das Gute und Wahre zu errichten.
Die Anforderungen, die Pflichten und Verpflichtungen, welche
wir für das Gelingen unseres Bauwerkes als wichtig erachten, lassen sich
etwa wie folgt umschreiben:
Erste Pflicht und Verpflichtung ist das Leben, das
Menschsein und die Menschlichkeit. Sie ist verbunden mit der Pflicht, nach
dem Guten und Wahren zu streben.
Zu den Pflichten gehört es, seine Begabungen und seine
Kräfte konstruktiv einzusetzen. Dazu sind Offenheit und Aufmerksamkeit, die
Klarheit im Wort, das Wohlwollen und die Toleranz, das Mitgefühl und die
Hilfsbereitschaft notwendig und unumgänglich. Qualität, Sorgfalt und
Zuverlässigkeit gehören ebenfalls dazu.
Pflicht ist den Mut und die Beharrlichkeit einzusetzen für
Menschenwürde, Freiheit und Frieden. Dazu kommt der Widerstand gegen
Willkür, Entmündigung und Fundamentalismus.
Und es ist ebenso Pflicht eines Freimaurers, die
Geselligkeit zu pflegen und all das Schöne, die Freude, die Liebe, das
Glück, die diese Welt und das Leben uns bieten, anzunehmen, zu geniessen und
zu verbreiten. Die freimaurerische Macht des Beispiels stützt sich ab auf
Leistungen, welche Werte und Nutzen für das Leben, das Menschsein und die
Menschlichkeit erbringen. Diese Macht ist wehrhaft, wirkungsbestimmt und
öffentlich. Dafür verantwortlich sein, diese Verantwortung zu tragen, ist
Meisterschaft.
Weisheit, verbunden mit Stärke und Schönheit – die drei
kleinen Lichter der Freimaurerei – bilden die Grundlage, welche jedem
Menschen die gestalterische Fähigkeit für den Aufbau und die ausstrahlende
Kraft seines persönlichen und unseres gemeinsamen Bauwerks geben.