Den Weg nach innen gehen … auf der Suche nach sich selbst.
Das Labyrinth, ein uraltes Symbol
Das Labyrinth ist ein uraltes Menschheitssymbol, seit
über 5000 Jahren bekannt, quer durch alle Kulturen
und Religionen. Beim vertieften Betrachten stellt man
fest, dass sich beim Labyrinth viele Gemeinsamkeiten
mit der spekulativen Freimaurerei finden. Hat also die
Erkenntnis von Lessing «Freimaurerei war immer!» viel
ältere Wurzeln?
Hans Fischer – St. Johann am Rhein, Schaffhausen
(Schweizer Freimaurer-Rundschau: Dezember 2008)
In den Jahren 1717 bis 1723 hatte die spekulative Maurerei noch einen
beschränkten rituellen Inhalt. Erst danach wurden die Inhalte mit Elementen
der griechischen Philosophien «angereichert» und später mit biblischen und
neuplatonischen Inhalten synthetisiert. Die meisten maurerischen Riten wurden
erst Anfang des 19. Jahrhunderts festgesetzt. Dies belegt, dass sich die
Freimaurerei laufend geistig erweitert und vertieft hat.
Mythologie
Aus der griechischen, insbesondere der kretischen Mythologie ist die
Sage von Theseus, einem der berühmtesten Helden aus dieser Zeit, bekannt.
Theseus machte sich zunächst um das Land verdient, als er den marathonischen Stier erlegte. Als wenig später König Minos seinen alljährlichen
Tribut von sieben Jünglingen und sieben Jungfrauen als Menschenopfer
für den Minotaurus im Labyrinth forderte, liess sich Theseus
unter die Zahl der ausersehenen Opfer aufnehmen. Nachdem er den Minotaurus,
das stierköpfige Ungeheuer, getötet hatte, konnte er mit Hilfe
des Fadens das Labyrinth wieder verlassen («den Faden nicht verlieren»).
Der Ariadnefaden war zufolge der griechischen Mythologie ein Geschenk
der Prinzessin Ariadne - Tochter des Königs Minos - an Theseus. Der
Hinweis für die Verwendung des Fadens («Ariadnefaden») stammte von
Daidalos (= Dädalus, der Vater von Ikarus), der das Labyrinth entworfen
hatte. Wie versprochen nahm Theseus Prinzessin Ariadne als seine Verlobte
mit sich, liess sie dann aber auf Befehl von Dionysos, dem Weingott,
auf der Insel Naxos zurück, damit dieser sie heiraten konnte.
Eine erste selbstkritische Frage sei gestattet: Ist es für einen Mann leichter,
eine Heldentat zu vollbringen als ein Liebender zu sein?
Labyrinthe und Irrgärten
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Labyrinthen, oder besser: Labyrinthe
und Irrgärten. Die klassischen oder kretischen Labyrinthe (siehe Abbildung
1) haben mehrere Umgänge bis zur Mitte, sind nicht verzweigt und
führen eindeutig und unbeirrbar auf ein verborgenes Zentrum hin. Es ist
ein- und derselbe Weg, der wieder aus der Mitte herausführt. In einem
solchen Labyrinth ist es nicht möglich, sich zu verirren.
Erst später, etwa um 400 v. Chr. wurden auch Irrgärten dargestellt und
gebaut. Irrgärten bestehen aus Netzstrukturen von Wegen, von denen in
der Regel alle bis auf einen nicht zum Ziel führen, sondern in Sackgassen
enden oder als Schleifen in sich zurückkehren. Hier müssen beim Begehen
immer wieder Entscheidungen getroffen werden, und ein Verirren ist
möglich: man kann sich beliebig lange im System umher bewegen, ohne
zum Ziel oder zum Ausgang zu gelangen.
Das klassische Labyrinth hat sieben Umgänge bis zur Mitte und stellt
eine organische Ganzheit dar. Das Labyrinth, das Dädalus als Versteck für
den Minotaurus auf Kreta gebaut hat, wurde nie als Irrgarten dargestellt,
sondern immer als Labyrinth, das einen Weg zur Mitte hat und denselben
Weg zurück zum Ausgang. Es ist daher bis heute unklar, weshalb Theseus
gemäss der Sage den Ariadnefaden benötigte, um aus dem Labyrinth
herauszufinden. Könnte es symbolisch gemeint sein? Der Faden als
Symbol der Liebe, damit der Mann nach vollbrachter Heldentat zu seiner
Frau zurückfindet?
Der Eingang ist unten rechts der Mitte. Die Linien bilden die Begrenzungen
des Weges und der Weg ist die freie Fläche dazwischen.
Held vs. Liebender
«Glaube, Liebe, Hoffnung, aber die Liebe ist die grösste unter ihnen»
mit diesen Worten eröffnet der Meister vom Stuhl in vielen Logen die
Tempelarbeit bei der Platzierung der drei grossen Lichter. Liebe ist das
höhere Ziel, das kostbarste Gut und das Einzige für das sich alles lohnt!
Dem Helden Theseus fiel aber der Weg nach innen zu seiner Heldentat
- dem Töten des Minotaurus - leichter als die Rolle des Liebenden. Der
Weg zurück, nach aussen fiel ihm schwerer. Trotz seinem Versprechen,
Ariadne mitzunehmen, war seine Liebe nicht stark genug, dem Befehl
von Dionysos zu widerstehen. Alles nur eine Sage und hat doch mit der
Realität nichts zu tun! Stimmt das? Die Frage «Sind Helden keine guten
Liebhaber?» möchte ich offen lassen.
Der Suchende im Labyrinth
Als Suchender bin ich gewissermassen in meinem Labyrinth unterwegs.
Als Suchender habe ich viele Fragen. Das Labyrinth gibt mir aber keine
Antworten. Dies ist gut so. Denn wenn ich Antworten erhielte, gäbe ich
mich damit zufrieden und suchte nicht mehr weiter. Und wenn ich nicht
suche, finde ich auch nichts!
Daher stelle ich mir Fragen:
- Wie wird der Weg sein?
- Was erwartet mich in der Mitte, am Ziel?
- Was bringt mir die Anstrengung?
- Werde ich glücklicher?
- Was will ich?
- Was ist meine Aufgabe?
- Was ist wichtig im Leben?
Kann der Weg zur Mitte auch zum Spiegel führen, im Sinne «Erkenne
Dich selbst?» Im Leben müssen wir viele Wendungen, Wandlungen und
Umwege nehmen, bevor wir die Lebensaufgabe gefunden haben.
Indem ich zur Mitte gehe, gehe ich nach innen. Um in die Mitte zu gelangen,
nähere ich mich im Labyrinth noch oftmals dem Zentrum um mich
wieder davon zu entfernen. Aber der Weg im Labyrinth ist immer richtig,
auch wenn die Wendung mehrmals von der Mitte wegführt. Eine Wendung
ist kein Ende, im Gegenteil: nur viele Wendungen führen zur Mitte. Erst
nach vielen Anstrengungen und grosser Geduld erreiche ich das Ziel. So
wie Theseus vom Jüngling zum König viele Stufen einer Treppe erklimmen
musste, müssen wir während unserem Erwachsenwerden, während unserem
maurerischen Weg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister bestimmte
Ereignisse erleben und notwendige Stationen durchlaufen. Gehen
wir diesen Weg aktiv und bewusst, erhalten wir hie und da aber auch Antworten
von Brüdern, die unserem Weg eine Wende geben, im besten Fall
eine entscheidende Wende! Manchmal muss man im Leben eine solche
Wende machen um weiterzukommen. In einem Labyrinth verirrt man sich
nicht, sondern man findet trotz den vielen Wendungen zu sich selbst.
Das Labyrinth bringt viele Aspekte des Lebens zum Ausdruck, die mit
Worten schlecht ausgedrückt werden können. Das Labyrinth ist ein starkes
Bild, eine starke Botschaft, ein starkes Symbol. Vieles im Leben lässt
sich nicht in Worten ausdrücken; für bestimmte Dinge ist die Sprache
kein ideales Kommunikationsmittel, um das zu äussern, was wir im Innersten
spüren.
Dies bestätigt auch Hermann Hesse in seiner indischen Dichtung. Er lässt
Siddhartha folgendes zu Govinda sagen: «Die Worte tun dem geheimen
Sinn nicht gut, es wird immer alles gleich ein wenig anders, wenn man
es ausspricht, ein wenig verfälscht …»
Somit ist es letztlich nur die Stimme des Herzens, die ohne Worte auskommt
und nur die ist verlässlich. Das Symbol Labyrinth ist wie eine
geheime Universalsprache, die von jedem Menschen verstanden wird.
Friedrich Nietzsche hat es so formuliert:
«Es gibt auf der Welt einen einzigen Weg,
welchen niemand gehen kann außer dir.
Wohin er führt, frage nicht! Gehe ihn!»
In der Mitte begegnen wir uns selbst
Das Ziel ist die Suche nach der geheimnisvollen Mitte. Obwohl das klassische
Labyrinth keine Sackgassen und Irrwege aufweist, ist der Weg zur
Mitte und wieder hinaus schwierig genug. Es findet ihn nur derjenige,
der den Weg auch geht: Man kann das Labyrinth nicht verstehen, nur
ergehen! In der Mitte findet nicht die Begegnung mit dem Minotaurus
statt, sondern die Auseinandersetzung mit sich selbst.
Wie sagte doch Martin Luther King treffend: «Bevor wir in uns nicht unser
moralisches Zentrum finden, werden wir nie ein Ganzes werden!»
Das Labyrinth ist ein Ort der Selbstbegegnung, es stellt eine Orientierungs-
und Initiationsfigur dar. Initiation bedeutet symbolischer Tod und
symbolische Wiedergeburt. Die vielen Wendungen auf dem Weg zum Ziel
kann man sich gut als initiatorische Prüfungssituation vorstellen. In der
Mitte, am Ziel und letzten Wendepunkt angekommen, muss man sich
radikal von der Vergangenheit lösen um quasi als Wiedergeborener aus
dem Labyrinth herausgehen zu können. Das Labyrinth als meisterliches
Werkzeug der Selbsterkenntnis.
Das Labyrinth: Ein Gleichnis des Lebens, eine universelle Wahrheit
Den Weg nach innen gehen, sich selbst erkennen, viele Wendungen
nehmen, den Spiegel der Seele erfahren, sich dem Ziel nähern aber
sich auf dem Weg dorthin oftmals wieder davon entfernen, den Sinn
des Lebens erkennen, seine Lebensaufgabe suchen: Sind dies nicht
alles universelle Wahrheiten? Stellt das Labyrinth nicht ein Gleichnis
des Lebens dar? Fragen über Fragen! Die Antwort überlasse ich jedem
Bruder selbst!