Thema
Vom Wert des Menschen
Leben heisst: Wir müssen aus mannigfaltigen
Möglichkeiten wählen. Dieses
sich Entscheiden-Müssen ist nicht konfliktfrei.
Dies fordert uns unmissverständlich
auf, Situationen, Ereignisse,
Dinge und Mitmenschen zu bewerten!
Die Zuversicht entspringt der Ethik als
Suche nach der Tiefe des Menschseins, –
als Bindung an die Mitmenschlichkeit.
Louis Ribaux –
Humanitas in Libertate, St. Gallen
(Schweizer Freimaurer-Rundschau: März 2009)
Leben ist das Wertvollste, was ich mit
auf den Weg bekommen habe. Ich bin
Teil der Schöpfung, damit Teilnehmer an
einem Prozess, der stetigen Wandel
bedeutet. Meine Existenz ist eine doppelte:
Einerseits bin ich als Individuum
auf mich selbst gestellt, anderseits Mitglied
der Menschheit.
Einige grundsätzliche Ueberlegungen
Wenn ich über die Wunder der Schöpfung
meditiere, wird mir klar, dass jede Kreatur,
ob Pflanze, Tier oder Mensch, das Recht
auf Leben hat. Namentlich hat jeder
Mensch das Recht, Mensch zu sein. „Die
Würde des Menschen ist unantastbar“.
Leben heisst auch: Wir müssen aus seinen
mannigfaltigen Möglichkeiten wählen.
Dieses sich Entscheiden-Müssen ist nicht
konfliktfrei. Tagtäglich bin ich gezwungen,
das Bessere zu wählen, z.B. mich zwischen
gut und bös zu entscheiden, statt
Gift gesunde Nahrungsmittel zu mir zu
nehmen, meine Kinder vor Gefahren zu
schützen usw. Ich urteile und nehme Partei.
Dies kann mich in heikle Situationen
bringen, denn mit der Fähigkeit zu urteilen
habe ich ein messerscharfes Werkzeug
bekommen. Es fordert uns unmissverständlich
auf, Situationen, Ereignisse,
Dinge und Mitmenschen zu bewerten!
Ohne die Bildung von Werten komme ich
nicht durchs Leben. Kurz formuliert:
Werte sind Urteile. Daran sind Emotionen
und Vernunft gleichermassen beteiligt.
Mehrere Faktoren beinflussen diesen
schicksalshaften Prozess:
1). Die Tatsache, dass wir als Geschöpfe
von einer Schöpfungskraft, die über
Leben und Tod, über Vergänglichkeit und
Ewigkeit entscheidet, abhängig sind.
2). Die Erkenntnis, dass ich als Individuum
existentiell auf meine Mitmenschen
angewiesen bin.
3). Dritte Tatsache: Macht spielt mit.
Inwieweit bin ich ein Spielball von Mächten,
von Gewalt? Wann und wie übe ich
Macht aus? In welchen Lebenssituationen
bin ich unterlegen, Untergebener,
wann überlegen? Wie stark, ja wie
gewalttätig ist die Macht des Staates, der
Wirtschaft, der Medizin? Oder die Macht
der Liebe?
Die Geschichte der Menschheit ist immer
auch eine Geschichte der sie prägenden
Mächte. Wie erleben wir Gerechtigkeit
und Ungerechtigkeit, Gerichte über uns,
körperliche und seelische Verletzungen,
Glück und Scheitern? Wie kompetent sind
Urteile, Bewertungen, Benotungen,
denen wir uns unterziehen müssen? Wie
steht es um Vorurteile, wie mit der Toleranz?
Was sind Werte? Eine prägnante
Definition lautet: Werte sind „das, was
uns verbindet“. Dass die Frage nach dem
Wert des Menschen heute wieder gestellt
wir, ist wohl nicht zufällig. Der Mensch
steht auf dem Spiel. Mächte (z.B.absolut
auftretende Religionen, Staaten und die
Wirtschaft) verstehen die Menschheit als
beliebig manipulierbare Masse. Der Einzelne
ist ihr untergeordnet und grundsätzlich
ersetzbar. Arbeitsplätze werden
per Computer gestrichen. Von Menschenrechten,
der Würde des Individuums, von
Tugenden wird zwar viel gesprochen;
doch es hapert mit der Umsetzung der
Ideen in die Taten. Wir müssen uns entscheiden:
entweder messen wir den Wert
des Menschen an seinem wirtschaftlichen
Möglichkeiten , seinem materiellen
Erfolg, oder an seinem Wesen, nämlich
dem Recht, ein Mensch zu sein. Wenn
dieser zweite Schritt gelingt, dann werden
Werte wirklich zu dem, was uns verbindet.
Werte sind Aufgaben, denen wir
uns zu stellen haben, Tugenden, die mit
Hilfe der Klugheit die Mitte zwischen
Extrempositionen finden – letztlich eine
Qualität des Geistes. Dies ist ein Masstab,
der uns auch bei Entscheidungen des Alltags
präsent sein könnte; quasi ein Vorbild!„
Bewahrt im Gewühl des Lebens diejenigen
Tugenden, die ihr hier lerntet“:
Mit diesem Satz werden wir Freimaurer
jeweils aus der Tempelarbeit entlassen.
Freimaurerei ist ein JA zum ganzen, zum
„runden“ Menschen.
Pascals Ringen um ein Menschenbild
Wer über den Wert des Menschen nachzudenken
beginnt, wird bald mit den Gedanken
des französischen Philosophen Blaise
Pascal (1623-1662) konfrontiert, wie kaum
ein anderer hat er mit seinem Engel um die
Misere und die Grösse des Menschen
gerungen. In seinem Schrecken über
unsere Verlorenheit und in seinem Staunen
über die Widersprüche des Daseins äussert
sich der wahre Kontrapunkt der menschlichen
Existenz. Seine Sätze sind am ergreifendsten
im Augenblick, da seine Trauer ins
Staunen übergeht. Einige seiner Sätze hielten
den Jahrhunderten bis heute stand:
„L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible
de la nature; mais c’est un roseau pensant.
Il ne faut pas que l’univers entier s’arme
pour l’écraser: une vapeur, une goutte
d’eau suffit pour le tuer. Mais, quand l’univers
l’écraserait, l’homme serait encore plus
noble (...). Der Mensch ist ein Schilfrohr im
Wind, zerbrechlich, doch denkend. Und dies
liess Pascal den entscheidenden Satz aufschreiben:
„Pensée fait la grandeur de
l’homme... travaillons donc à bien penser:
voilà le principe de la morale“. Uebertragen
heiss das: Das Denken gibt dem Menschen
seine Würde. Dies lässt den Schluss zu: Der
Wert des Menschen ergibt sich aus seiner
Würde! Ist diese Würde heute gefährdet?
Wird mit dem erschreckenden Bevölkerungswachstum
das Leben des Einzelnen
überhaupt noch estimiert? Die Philosophen,
Soziologen und Theologen sind
beunruhigt. So befürchtet Franz Josef Wetz
in seinem Buch „Illusion Menschenwürde
– Aufstieg und Fall eines Grundwertes“,
dass es sich um „ein Wort für Sonntagsreden“
handle. Die Charta der Vereinigten
Nationen und die Verfassungen einzelner
Staaten sprechen wohl von der „unantastbaren
Würde des Menschen“; leider aber
klaffen in der Praxis Abgründe zwischen
Anspruch und Wirklichkeit. Menschenrechte
werden dauernd verletzt. Auch der
Israeli Avishai Margalit diagnostiziert
Demütigungen anstelle der geforderten
Achtung vor dem Menschen und des
Anstandes vn Mensch zu Mensch. Die
Schweizer Hans Ruh und Thomas Gröbly
bringen die Ethik ins Spiel. In ihrem Buch
„Die Zukunft ist ethisch – oder gar nicht“
stellen sie fest, dass „die eigentlichen
Fragen, um die es heute geht, geistigmoralische
Fragen“ sind. Und deshalb
sehen wir in der Ethik das Instrument,
diese Fragen anzugehen. Die Zukunft ist
ethisch (...) Ethik als Suche nach der Tiefe
des Menschseins, als Bindung an die Mitmenschlichkeit“.
Dem stimmt auch der
Amerikaner Thomas L. Friedman („Was zu
tun ist, eine Agenda für das 2. Jahrhundert“)
zu; er hofft indessen, dass dank der
uns allen bewusst gewordenen Krise „ein
Aufbruch eines neuen Zeitalters“ möglich
wird - Fürwahr: ein weites Feld –
gerade für uns Freimaurer.