Thema
Philosophische Gedanken für den Alltag
Nach Franz Carl Endres, www.internetloge.de (bearbeitet von Adrian Bayard) (Schweizer Freimaurer-Rundschau:
Februar 2011)
Vielleicht wird eine Philosophie der
Zukunft wieder zu den ältesten Quellen
philosophischer Tätigkeit zurückfinden,
um wirklich Philosophie zu sein und um
den Menschen helfen zu können. Unsere
Zeit hat unendliche Massen von Wissenschaft
angehäuft, sie ist tatsächlich viel
wissenschaftlicher geworden, als andere
Zeiten es waren, aber sie ist deshalb nicht
weiser geworden. Im Gegenteil: sie ist
erschreckend unweise geworden.
Weisheit und Bewertung
Was aber ist Weisheit? Weisheit ist die
Fähigkeit der richtigen Bewertung. Und
darum kann ein Hirte weiser sein als ein
Philosophieprofessor und ein Ureinwohner
ohne Zivilisation weiser als ein mit
Zivilisation überfütterter Europäer. Ein
Träumender kann weiser sein als ein
Wacher, ein Glaubender weiser als ein
Wissender. Unser menschliches Wissen ist
eng mit dem Intellekt verbunden, der, seinerseits
eine körperliche Funktion, nicht
über sehr enge Grenzen hinaus kann.
Weisheit aber ist unbegrenzt. Niemand
kann ihre Grenzen bestimmen. Sie hat
ausser dem Intellekt noch andere, höhere
Mitarbeiter.
Ich verstehe unter dem Begriff Bewertung
sowohl etwas ganz Allgemeines als auch
dessen wörtlichste Bedeutung. Um
zunächst bei dieser zu bleiben: Wir sehen
es alle Tage, dass unsere Zeit falsche Werte
hat. Siebewertet das Materielle, Geld, Gut,
Besitz, Macht, viel höher als alles andere.
Daher entstehen die heissen Kämpfe um
diese Werte, die keine Werte sind. Daher
formiert sich der Begriff Glück und
Unglück um die Tatsache des Besitzes oder
Nichtbesitzes dieser sogenannten Werte.
Daher wird auch der Mensch von heute
nach diesen Dingen in erster Linie bewertet,
anstatt nach den wirklichen menschlichen
Werten, die im Charakterlichen liegen.
Es ist ein grosser Kampf auf der Welt
zwischen Interesse und Gesinnung und die
lauten, dröhnenden Warfen des Interesses
siegen mehr und mehr über die stille Waffenlosigkeit
der Gesinnung. Daran leiden
wir, da liegen die tiefsten Wurzeln aller
und jeder Krisis der Völker und der
Gesamtmenschheit. Der Mensch ist im
Begriffe, alle Güter der Erde zu gewinnen,
stolz nennt er sich, der ewige Sklave des
Interesses, einen Herrn der Natur. Aber er
hat dabei Schaden an seiner Seele genommen,
und dieser Schaden ist ein viel grösserer
Verlust als aller übriger Gewinn.
Und so wird der Begriff Bewertung auch
zu einem ganz allgemeinen. Die Weisheit
bewertet nicht nur im üblichen Sinne des
Wortes, sondern sie schafft vor allem jene
seelischen Beziehungen, die notwendig
sind, um bewerten zu können; sie richtet
die Warte auf, von der aus die Umschau,
erhaben über die Niederungen des Interesses
und der Leidenschaften, allein zu
bedeutsamen Ergebnissen gelangen kann.
Sie schafft endlich in jedem einzelnen
Menschen das Fundament, auf dem er das
Gebäude seines Ichs errichten kann.
Der Mensch ist alleine
Der Mensch ist meist, wenn er ganz allein
ist, keinen Lauscher, keinen Zuschauer,
niemanden hat, vor dessen Urteil er Furcht
oder Respekt haben müsste, ganz anders,
als in der Öffentlichkeit. Wer sehr mutig
auftritt, gern mit der Faust auf den Tisch
schlägt, gerne seine Macht den Untergebenen
zeigt, ist doch oft, wenn er allein ist,
ein ganz feiger Mensch, und jener Franzose
hatte psychologisch etwas sehr Richtiges
ausgesprochen, als er versicherte, er
liesse sich ganz gerne hinrichten, wenn hunderttausend Menschen zugegen
wären und seine Tapferkeit bewundern
würden. Der wirkliche Mut, die wirkliche
Standhaftigkeit wird erst geprüft, wenn
der Mensch ganz allein ist. Mit andern
Worten, erst im kleinsten Kreise, wenn
kein anderer Mensch zugegen ist, zeigt
sich die wahre Gestalt des Menschen. Hier,
im vollendeten Alleinsein tritt nur der
eigene Gedanke vor den Menschen, und
der ist ganz anders, als das Wort oder die
Tat vor Zeugen. Allein mit seinen Gedanken
ist der Mensch aller Verbrechen fähig
und es gibt viele, die den verbrecherischen
Gedanken in der Öffentlichkeit nur deshalb
nicht ausüben, weil sie die mit seiner
Ausübung verbundenen Gefahren fürchten.
Das furchtbarste Gespenst ist das des
eigenen Ich, aller Lüge vor sich selbst entkleidet.
Wer aber an sich arbeiten will,
muss den Mut haben, seine eigene
menschliche Erbärmlichkeit zu sehen, zu
beurteilen und wenigstens mit sich selbst
aufrichtig zu sein. Denn in Wirklichkeit
kann ja kein Mensch über den andern, den
er niemals in vollendeter Nacktheit seines
Wesens sieht, ein richtiges Urteil abgeben.
Auch der berufsmässige Richter kann das
nicht. Alle Urteile über einen anderen sind
stets einseitig und oberflächlich. Man
bewertet etwa die Klugheit, die Verwendbarkeit,
die Verlässigkeit im Geschäft, man
urteilt über Vorsatz und Absicht, Fahrlässigkeit
oder paragraphenmässig sich ergebende
Unschuld. Alles das sind Bewertungen
und Urteile, die für den beschränkten
Zweck, dem sie dienen, ja schliesslich
genügen mögen, aber es sind nicht Bewertungen
des wirklichen Wertes. Da gibt es
nur einen, der bewerten kann, und das ist
der einzelne Mensch gegenüber sich
selbst.
Körperliche und geistige Reinheit
Wer nur einmal über die furchtbare Verantwortung
nachgedacht hat, die sich hier
für jeden Einzelnen ergibt, wird die ungeheure
Bedeutung erkennen, die in dem
liegt, was ich den kleinsten Kreis genannt
habe, das Verhalten des Menschen sich
selbst gegenüber. Aus der Unsumme der
hier in Frage kommenden Einzelprobleme
seien nur als Beispiele einige ganz wenige
herausgegriffen. Da ist zunächst einmal
der Körper des Menschen. Warum säubern
sich wohl die Menschen bevor sie ein Fest
besuchen, warum legen sie schöne Kleider
an? Offenbar, weil sie in den Augen der
andern nicht schmutzig erscheinen wollen.
Das bedeutet aber keineswegs, dass
sie nicht doch schmutzig sind. Nur der ist
reinlich (auch seelisch gilt das), der ganz
allein für sich und aus Achtung vor sich
selbst reinlich ist, der sich wäscht und seinen
Körper pflegt, auch wenn gar keine
Möglichkeit besteht, das Produkt dieser
Bestrebungen dem schmeichelhaften
Urteil anderer zu unterbreiten. Der
Mensch aber kann seine Seele nur dann
rein halten, wenn er den Mut hat, ihre
Flecken, ihre Unreinheiten zusehen und in
einem sehr heftigen Kampfe, der ihm ganz
allein überlassen bleiben muss, auszumerzen.
Die Erziehung, die wir anderen Menschen
in dieser Richtung zuteil werden
lassen, gleicht in vielem der Tätigkeit eines
Arztes. Wir dürfen nicht, wie das noch die
Ärzte vor wenigen Generationen glaubten,
vermeinen, dass die Medizin heile. Sie
heilt nicht, ebenso wie unsere Erziehung
nicht heilt. Nur die Heilungskraft des Körpers
heilt den Körper und die Heilungskraft der
Seele heilt die Seele. Und Medizin
und Erziehung können nie etwas anderes
sein, als Anreger und Unterstützer dieser
in uns selbst wirkenden Heilungskraft.
Daher ist es Kindern oder Erwachsenen
gegenüber von entscheidender pädagogischer
Bedeutung, moralische oder seelische
Einwirkung darauf hinzielen zu lassen,
dass der zu Erziehende vor sich selbst
gestellt wird, und die Anregung erhält, die
Selbsterziehung und die seelische Selbstreinigung
nun mit Freude und Zuversicht
vorzunehmen. Immer wieder machen
Erziehung und seelische Einwirkung auf
die Menschen den alten Fehler, zu glauben,
dass sie direkt wirken können, dass sie
also Medizinen sind, die selbst Heilungskraft
in sich tragen. Das ist ein verhängnisvoller
Grundfehler, der nicht nur in der
Kindererziehung sein Unwesen treibt,
sondern auch beispielsweise in
der Ehe immer und immer wieder
versagt und versagen muss.
Kein Mensch kann einen anderen
Menschen verändern. Er
kann ihn nur veranlassen, sich
selbst zu betrachten und kann in
ihm den Wunsch rege machen,
sich in Richtung des als besser
Erkannten selbst zu verändern.
Daher die ewige Bedeutung
jener griechischen Worte im
Tempel von Delphi: gnoti seauton,
erkenne dich selbst. Die
Gleichung „Du bist Ich" wird erst dann ein
wenig erkannt, wenn zwei gewaltige Täuschungen,
denen wir Menschen ausgeliefert
sind, überwunden werden.
Einseitige Wahrnehmung
Die erste Täuschung möchte ich eine optische
nennen. Stellen wir uns irgendwo in
der Welt auf den Boden der Erde, so sehen
wir stets uns selbst im Mittelpunkt eines
Kreises, dessen äussere Begrenzung wir
den Horizont nennen. Wo immer wir auch
sind, immer sind wir im scheinbaren Mittelpunkt der
Erde, und dieser Eindruck, den
unser Sehapparat uns vermittelt, ist der
denkbar gefährlichste. Denn aus ihm
erwächst in uns schon von frühester Kindheit
an das Gefühl einer Zweiteilung der
Welt: in das, was Ich bin, und in das, was
Ich nicht bin. Diese Gegenüberstellung des
eigenen Ich zur gesamten Umwelt erzeugt
ihrerseits ganz selbstverständlich eine
gewaltige Überschätzung des eigenen
Ichs, dann aber auch das Gefühl, etwas
anderes zu sein, als die Umwelt, und aus
diesem letzteren Gefühl wieder baut sich
das Fundament der Feindschaft gegen die Umwelt auf. Eine zweite Täuschung aber
ergibt sich aus der Natur unseres Denkens.
Der Mensch hat nur Bewusstsein von sich
selbst, er kennt nur seine eigenen Gedanken;
ja, alles was er von der Umwelt wahrnimmt,
sei es durch Gesicht oder Gehör
oder irgend einen anderen seiner fünf
Sinne, alles das tritt keineswegs direkt,
also so wie es wirklich ist, vor sein
Bewusstsein. Im Gegenteil, alles was ausser
dem Menschen ist, muss den ganzen
Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und
Urteilsapparat, der sich in unserm eigenen
Körper befindet, durchlaufen, bevor es
bewusst gewertet werden kann. Wer diesen
Gedanken lediglich mit der Kraft
menschlichen Intellektes durchdenkt,
kommt zu philosophischem Pessimismus,
zu jenem Gefühl trostloser Einsamkeit und
zu jener Empfindung der Feindschaft
gegen alles, was fremd, angeblich anders,
kurz, was nicht Ich ist.
Liebe als «Hilfsmittel»
Dieses Gefühl drängt nach Überwindung
der durch den Intellekt festgestellten Einsamkeit
des Ich, es sucht Verbindung, es
sucht Hilfe, es sucht Bestätigung seiner
selbst im Gefühl eines andern. Es widerspricht
hierbei ganz entschieden dem
egoistischen Bewusstsein des alleinstehenden
Ich. Man denke etwa an die Liebe
eines Menschen zu einem anderen. Nicht
an jene „Liebe", die nur Besitz ergreifen
will, sondern an jene, die der Vernunft des
Egoismus widersprechend schenken will,
statt zu nehmen, opfern will, statt zu triumphieren,
Leiden auf sich nehmen will,
statt Leiden zu erzeugen. Was ist diese
Liebe vor dem Richterstuhl des Intellektes
doch für ein dummes Ding! Und trotzdem
ist sie der ewigen Weisheit unendlich viel
näher als der nur Vorteil und Nachteil
berechnende Intellekt.
In dieser Liebe dämmert jenes wunderbare
Gefühl von der Lebensgemeinschaft auf,
die wie ein hochgewölbter Bogen über
Allem steht, was lebendig ist. Ebenso wie
in der Liebe der Geschlechter das Ich und
das Du aus ihren Einsamkeiten heraus die
Zweisamkeit, als eine höhere Einheit
suchen und wie in der weisen Werkstatt
der Natur die Fortsetzung der Generationenkette
im Kinde erst aus dieser körperlichen
Zweisamkeit entstehen kann,
genau ebenso drängt die hohe Weisheit
eines Gefühls den Menschen zu allem, was
lebt. Warum zieht der nicht vollkommen
verbildete Mensch eine einfache lebende
Blume den pompösesten künstlichen Blumenvor?
Warum hält sich ein Mensch, der
kaum selbst genug zu essen hat, einen
Hund? Warum pflegt ein Mensch in einer
Behausung, in der er selbst kaum Platz hat,
irgendeinen Blumenstock? Wenn man sich
Mühe gibt, über diese Dinge nachzudenken,
an denen man leider Tag für Tagachtlos
vorbeigeht, so wird eine erste Ahnung
vor dem auftauchen, was man das Gefühl
von der heiligen Lebensgemeinschaft
nennt. Im Augenblick, in dem dieses
Gefühl vom Menschen Besitz ergreift, ist
er nicht mehr allein. Das Bewusstsein seines
einsamen Ich löst sich auf in dem wundervollen
Gefühl, nicht einsam zu sein,
sondern zu einer geheimnisvollen
Gemeinschaft zu gehören, die ihn umgibt,
die mit ihm lebt und mit ihm ewig geheimen
Gesetzen folgt, die wunderbar sind
und von einer alle menschliche Vorstellung
übersteigenden Weisheit zeugen.
Wir beklagen uns alle über die Herrschaft
des Materialismus, des Egoismus, der Habgier,
der Gewinnsucht der Menschen. Alles
das sind nur Zeichen dafür, dass die gewaltige
Idee von der Lebensgemeinschaft in
den Menschen noch gar nicht lebt. Wenn
ich Weisheit als die rechte Kunst der
Bewertung bezeichnet habe, so ist diese
Erklärung auch hier verwendbar. Alle die
genannten schlechten Eigenschaften der
Menschen, die zu sichtbarer Herrschaft
gelangt sind, entspringen nicht der Weisheit,
sondern einer falschen Bewertung
der Welt und ihrer Erscheinungen.
Schön wäre es, wenn die Menschen schon
alle soweit seelisch fortgeschritten wären,
dass man ohne Staatsgewalt und ohne
Gesetze leben könnte. Dieser Zustand aber,
der wahrscheinlich nie erreicht werden
wird, ist jedenfalls heute noch nicht im
entferntesten gegeben. Und es ist Irrsinn,
einfach zu sagen: der Mensch ist gut und
auf dieser Behauptung dann soziale und
politische Gebäude aufzurichten, die in
praxi sofort zusammenbrechen müssen.
Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis das „Du bist Ich" eine selbstverständliche
Überzeugung aller Einzelmenschen
und aller menschlichen Gemeinschaften
geworden ist.