Thema
Lesen als Ereignis oder der Geschmack des Lebens
„Il y a des auteurs
qui vous rafraîchissent l’esprit“
Es gibt Autoren,
die euren Geist erfrischen“ />
Samuel Brussel
Louis Ribaux – Humanitas in Libertate, St. Gallen
Z um Lesen gehören beide: das Buch und ich; es gilt das
Gesetz von Ruf und Echo. Man ruft sowohl als Leser wie als
Text, und man nimmt im Glücksfall ein Echo wahr. Jorge Luis
Borges, der grosse argentinische Dichter und Philosoph, hat
sich in zahlreichen Schriften immer wieder mit diesem
Phänomen befasst. «Eine Bibliothek ist ein magisches
Kabinett, in dem sich verzauberte Geister befinden. Sie
erwachen, wenn wir sie rufen; so lange wir ein Buch nicht
öffnen, ist dieses Buchnichts als ein Volumen, ein Ding
unter andern Dingen. Wenn wir es jedoch öffnen, wenn ein
Buch seinem Leser begegnet, geschieht Begegnung. Unter den
verschiedenen Werkzeugen des Menschen ist das erstaunlichste
zweifellos das Buch».
Die Chance der Begegnung: gilt sie nur mir, nur dem
einzelnen einsamen Leser oder allen? Ein Text hat viele
Hindernisse des Autors zu überwinden, bevor er bei mir –
genauer in meinem Herzen und in meinem Verstand anlangt (und
sogar meine Bequemlichkeit überwunden hat). Ist das, was
sich beim Lesen ereignen kann, nur subjektiv zu deuten?
Bücher haben Auflagen; ist eine erste Auflage vergriffen,
d.h. beim Verlag ausverkauft, muss nachgedruckt werden. Darf
man annehmen, dass wenigstens ein Teil der gedruckten Texte
bei lesenden Menschen «angekommen» ist? Wird die «Klangfarbe
» einer Dichtung von Mensch zu Mensch verschieden erfahren,
so wie die Melodien eines Musikstückes von jedem und jeder
anders gehört werden? Wie kann ich erfahren, was jemand
anders mit dem gleichen Buch erlebt hat? (für mich als
Buchhändler ist diese Frage besonders interessant; wie ist
es dem von mir empfohlenen Buch ergangen? Selten erfahre ich
etwas über das Schicksal «meiner» Bücher). Ich stelle
immerhin fest, dass es doch auch objektive Aspekte dessen,
was beim Lesen passiert, gibt, z.B.
- Die Geschichte der Schrift, ihre Entdekkung, ihre
Veränderungen, ihre Ausbreitung.
- Die Überlieferung der Texte – fürwahr eine grandiose
Geschichte: das Fragilste der Kultur - Papyrus,
Tonscherben, Papier – hat überlebt.
- Die Beteiligung des Körpers beim Lesen: Die
Geschichte des Lesevergnügens beginnt vielleicht beim
Spuren-Lesen auf der Jagd. Auf jetzt müssen einige
Voraussetzungen zum guten Lesen gegeben sein: Gute
Augen, ein „heller“ Kopf, das richtige Licht, der
bequeme Stuhl und Tisch und - nicht zuletzteinen
abgeschirmten Raum, der zuweilen verteidigt werden muss.
Wo das Fernsehen dominiert, wird das Lesen schwieriger.
Zum objektiven Umfeld des Lesens gehören schliesslich die
Probleme der Kulturtechnik Lesen (eine Aufgabe der
Erziehungswissenschaft) und des Büchermarktes. Das Buch ist
Teil des Weltmarktes geworden und seinen Gesetzen
unterworfen. Die Einsicht, dass Bücher nicht einfach
Konsumgut wie etwa Schokolade ist, lässt sich nur schwer
erreichen. (Beispiel: CH-Politik und fester Ladenpreis).
Von der Schriftrolle zum Bildschirm; von der
Buchkultur zum Büchermarkt
Gleichsam mit einem Paukenschlag begann das Zeitalter des
Buchdrucks: mit dem Erscheinen der Gutenberg-Bibel. Und am
Ende des 20. Jahrhunderts war es wiederum die Buchbranche,
welche sich vielleicht als erste konsequent die
elektronischen Techniken aneignete! Als der Philosoph Vilém
Flusser am 28. März 1988 in einer Rede mit dem Titel die
«Krise der Linearität» visionär das Ende des «Gutenberg-
Zeitalters» ausrief, mochte man nicht so recht daran
glauben. Unerhört, ja unheimlich war das Tempo, mit dem
dieses «Geschenk» des ausklingenden 20. Jahrhunderts die
Bücherwelt umgestaltete - und auch das Leseverhalten.
Übrigens hatte sich schon im Spätmittelalter eine
entscheidend-effiziente Lesetechnik durchgesetzt, nämlich
als der Mensch leise zu lesen begann; vorher hatte man in
derRegel mit lauter Stimme (vor)gelesen).
Das stille Lesen – nicht immer, nicht überall
selbstverständlich
Das stille Lesen ist ein bedeutsamer Schritt in Richtung
Aufklärung, hatte sich doch damit der Lesende einen Raum der
persönlichen Freiheit geschaffen. Emanzipation: Nun konnte
der Leser gefahrlos selbst bestimmen, was er bei der Lektüre
dachte und empfand! Die Mächtigen aber sahen darin die
Gefahr einer Subversion. Beim Lautlesen eines Textes war die
Zensur einfach; jetzt musste man neue Methoden entwickeln,
um allfällig ketzerisches «Gedankengut», getragen von der
Literatur, überhaupt der gesamten Buchkultur zu beherrschen.
Lesen wurde zu einem Politikum. Herrscher misstrauen bis in
die neueste Zeit der Literatur. Heute ist «lesen» nicht
einfach «lesen»: Nützliches Lesen (im Beruf, in der Politik,
usw.) bedient sich vor allem der elektronischen Mitteln; das
«kulturelle», Sprache und Gehalt gleichermassen geniessende
Lesen wird weiterhin in Büchern stöbern und lesen. Man
geniesst die Körperlichkeit eines Buches, seinen speziellen
Geruch, das Anfühlen des Papiers; man würdigt die Qualität
einer sorgfältigen Typographie und das Handwerk der
Gestaltung. Alle diese Elemente fördern Leselust und
Leserlebnis und verhelfen dem gelesenen Text zur Resonanz in
Herz, Gemüt und Verstand im lesenden Menschen. Und es
geschieht nichts ohne unsere Mitwirkung! Möglicherweise ist
das nomadische Lesen die zukünftige Form des Leseaktes (beim
«Surfen» im Internet tut man ja nichts anderes). Der lesende
Nomade sammelt, was er auf seinem Weg durch die Welt und das
Leben vorfindet, er verknüpft frühere Erkenntnisse mit den
neuen, und daraus baut er sich seine eigene bewegliche
Weltanschauung. Bücher als «Knotenpunkte»? Lesen als Akte
der Vernetzung? Ist das wirklich so neu? Auch früher bildete
das einzelne Buch seinen bestimmten Knoten in seinem
persönlichen Lebenshintergrund Lebensnetz. Dank diesem Netz
konnte er seine Identität mit der (bürgerlichen)
Gesellschaft finden.
Lust am Text
Mit seinem Buch «Die Lust am Text» hatte der französische
Philosoph Roland Barthes seinerzeit schockiert. Warum? Man
merkte plötzlich, dass man dem Aspekt «Lesen als Lust»
peinlicherweise ausgewichen war. Literatur hatte ernst zu
sein. Dann aber hat der Diogenes-Verlag mit seinem Slogan
(nach Volaire) «Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur die
langweilige nicht» Welterfolge erzielt. Tatsächlich liest
die Mehrheit der Menschen zum Vergnügen, und sie liebt
«Geschichten». In allen guten Texten steckt ein sinnliches
Potential, und die Trennung von «gut» und «unterhaltsam»
interessiert uns nicht mehr so sehr.
Die unantastbaren Rechte des Lesers
Überhaupt: moderne Leser sind lesend souverän! Sie
bewahren gegenüber der Literatur eigene Rechte: So darf mir
ein Buch(vielleicht von der Kritik vielgerühmt) durchaus
missfallen! Und niemand kann mir befehlen: lies! «Das Wort
«lies» duldet - wie das Verb «lieben» keinen Imperativ»,
schreibt Daniel Pennac, und er zählt gleich ein Dutzend
«unantastbare Rechte» auf: das Recht nicht zu lesen; das
Recht, Seiten zu überspringen; das Recht, ein Buch nicht zu
ende zu lesen; das Recht, ein Buch noch einmal zu lesen; das
echt, irgendwo zu lesen; das Recht, einen Roman als das
echte Leben zu betrachten (wahre Geschichten!); das Recht,
laut zu lesen; das Recht, zu schweigen; das Recht über einem
Buch einzuschlafen; das Recht, im Buch Notizen und
Ausrufzeichen anzubringen; Seitenheraus zu reissen... Ich
füge ein weiteres Recht bei: ein Buch von hinten nach vorne
zu lesen.
Literatur: das ganze Leben
Manch einer erzählt (und er ist noch stolz darauf!): «Ich
lese keine Romane, geschweige denn Poesie». Schade, verpasst
er doch eine grosse Chance der sogenannten «Schönen
Literatur». Romane ,wenn sie gelingen, können tiefere
Einblicke in das Wesen eines Menschen, der Gesellschaft, der
Natur, der Geschichte vermitteln als Reportagen. Auch wenn
sie das Leiden, Trauer und das Sterben einschliesst, so kann
uns ihre Kraft helfen, ja uns heiter stimmen. Dies gilt auch
für das Poetische in der Literatur. Man nimmt leichthin an,
die Prosa sei der Realität näher als das Gedicht. Das sei
ein Irrtum, schreibt Borges, und Peter von Matt widmet sein
Buch «Die verdächtige Pracht» der Lyrik. «Sie sei im
Verdacht». «Niemand weiss, was ein Gedicht ist. Aber alle
wissen ganz genau, warum keine mehr geschrieben (und
gedruckt) werden dürften. Und da sie trotzdem noch
geschrieben werden, wird bekanntgegeben, wann sie noch
zulässig sind und worüber. Keinen falls über Bäume, oder
über Bäume erst recht. Keinen falls über die Liebe, oder
über die Liebe erst recht ... Gedichte wollen zweierlei:
siewollen schön sein, und sie wollen Vollkommenheit». «Ist
Schönheit ein Ärgernis?» Auch H.M. Enzensberger plagt sich
mit der Frage: «darf Weisheit elegant sein?» (er setzt
voraus, dass Gedichte weise sein können/ sollen/müssen. Er
wünscht sich denkende Leser. Nobelpreisträger Joseph Brodsky
verlieh der Poesie den höchsten Rang. «Bekanntlich gibt es
drei Arten der Erkenntnis: die analytische, die intuitive,
und das, was von den biblischen Propheten als Offenbarung
bezeichnet wurde. Der Unterschied der Poesie zu anderen
Formen der Literatur liegt darin, dass sie alle drei
Erkennnisarten zugleich benutzt. ... Da wir alle sterblich
sind und Bücherlesen zeitraubend ist, müssen wir uns ein
System ausdenken, das uns einen Anschein von Ökonomie
gestattet. … Lyrik ist die grosse Zuchtmeisterin der Prosa».
Noch einmal: Gelingende Literatur will das ganze Leben!
Vom Besten, was die Welt zu bieten hat
Die Literatur lebt – auch heute. Und wir brauchen sie,
gerade in Zeiten der Krisen und einer scheinbaren
Ausweglosigkeit. «In einer Zeit des zunehmenden Zugriffs von
Technik und Ökonomie auf das Humanum möchte die Stiftung
Forum humanum an die Bedeutung des geistigen und religiösen
Erbes der Weltkulturen erinnern. Sie geht davon aus, dass
die weitere Entwicklung der Menschen entscheidend davon
abhängen wird, ob und wie es gelingt, die reichhaltigen
Potentiale dieser Traditionen für die Zukunft fruchtbar
zumachen» (Motto der Bücher im Verlag der Weltreligionen).
Es gibt ihn, diesen Hunger nach Literatur! Wir ahnen,
dass es Menscheitswege jenseits der sich als absolut gültig
betrachtenden Ökonomie gibt. So wie die Musik, wie die
Malerei alte und zugleich neue, helle Räume aufschliesst, so
wirkt auch die Literatur. Auch sie schenkt uns die clarté de
l’esprit, auch sie beglückt. Und sie macht uns souverän,
weil wir dank Literatur zeitlose Zusammenhänge der Welt
erahnen dürfen. Zum Schluss noch zwei Notate, während
nächtlicher Lektüre zu Papier gebracht:
«Literatur lebt, auch wenn sie zuweilen in neue Gewänder
schlüpft»
«In meiner Bibliothek gestöbert – Ein beglückender Abend».