Thema
Vielfalt in Einheit
Ritualen begegnen wir täglich in unserem Leben. Rituale sind dabei aber nicht etwa nur als religiöse oder esoterische Handlungsabläufe zu verstehen, sondern vielmehr als wiederkehrende, in ihren Inhalten gleich bleibende Strukturen. Sie geben uns eine Ordnung. In der Freimaurerei indes sind Rituale ein dynamisches Symbol des grossen kosmischen Geschehens oder wie Oskar Ruf es nennt «Symbol des täglichen Sonnenlaufes von Mittag zu Mitternacht». In der Schweizerischen Grossloge Alpina (SGLA) herrscht Ritualfreiheit, was mit sich bringt, dass in der Schweiz verschiedene Ritualsysteme praktiziert werden – ein Grund mehr, wieder einmal einen Logenbesuch ins Auge zu fassen.
Adrian Bayard – Humanitas in Libertate, St. Gallen
Wir leben in Ritualen – täglich und
nicht immer bewusst. Dies beginnt mit der morgentlichen
Dusche, dem Gang zur Morgenpost-Lektüre und endet
beispielsweise mit der Tagesschau im Fernseher oder dem
Guetnachgschichtli oder mit der Bettlektüre vor dem
Einschlafen. Eines ist allen gemeinsam: sie wiederholen sich
in der selben Form und bilden dadurch einen erkennbaren
Rahmen – eine Struktur im Alltag.
Etymologisch gehört dieses lateinische
Wort «ritus» zum Wortstamm «rta», der im Sanskrit das
Konzept von Ordnung (zu jeder Zeit und überall) ausdrückt
und das Leben eines jeden Individuums, einer Gruppe oder gar
einer Gesellschaft regelt. Rituale sind für uns insbesondere
wichtig, als dass wir uns täglich mit neuen Informationen,
Unsicherheiten und Entscheidungen konfrontiert sehen. Da ist
ein Ausblenden dieser Fülle manchmal wichtig und ordnend.
Rituale schenken uns die Zeit wieder, die wir uns selbst
genommen haben. Ich denke dabei an eine Teezeremonie oder an
einen fast schon rituellen Saunagang.
Besonders für Kinder sind Rituale gut,
damit sie in dieser lauten, unruhigen Zeit Gelegenheit
haben, sich selbst zu entdecken und die Umwelt zu ergründen.
Ruhe und Ordnung sind wohl hierfür die zentralen Bedingungen
für ein förderliches Umfeld – um sich selbst in die Familie,
Gesellschaft und letztlich in den Kosmos einzuordnen.
Wir hetzen viel zu oft in der Welt
herum (und dies nicht nur geografisch) und verlieren
dannzumal den Fokus aufs Wesentliche. Ich schätze, dass
einige Fehlleitungen der heutigen Zeit und zahlreiche
burn-outs verhindert werden könnten, würden die Menschen
wieder etwas mehr Rituale praktizieren. Sie helfen, den
Menschen zu erden und zurückzubringen auf die Arbeitsstätte
zum eigenen Ich.
Ritual und Macht
Anthropologen haben mit ihren
Forschungen nachgewiesen, dass beim Bedienen von Riten der
Zweck erfüllt wird, unter anderem, eine mehr oder weniger
grosse Gruppe von Menschen zu strukturieren und zu
organisieren. Was auch bedeutet, Vorschriften zu erzwingen
und den Respekt einer Minderheit über eine Mehrheit
durchzusetzen. Mehr noch: ein anderer weitverbreiteter
Faktor unter den Völkern bestand darin, dass die Riten
durchwegs von Menschen in Machtpositionen ausgeübt wurden.
Dies ebenso für Familienrituale, an denen immer der
Familienvorsteher die Riten durchführte, wie auch anlässlich
der offiziellen Riten eines Klans, wo dessen Führer, der oft
auch die Funktion eines Heilers/ Schamanen innehatte, die
Riten leitete.
Ursprünge der Vielfalt
In der Freimaurerei haben sich über die
Jahrhunderte zahlreiche Systeme herausgebildet, wobei nach
Lennhoff, Binder und Posner festzuhalten ist, dass «soweit
der Aufbau der drei Grade der symbolischen Freimaurerei
(Lehrling, Geselle und Meister) in Betracht kommt, das
Grundsätzliche, das Fundament und Ziel der Bauarbeit, in
allen Systemen dasselbe ist» (S. 824). Neue Systeme
kristallisierten sich im 18. Jahrhundert schon recht früh
nach der Entstehung der ersten Grossloge in England heraus;
zunächst wohl in Frankreich. Dabei waren Änderungen in den
Systemen den Einflüssen der geistigen Umbrüche des 18.
Jahrhunderts unterworfen. Lennhoff et al. Schreiben hierzu:
«Die Ritualistik der ersten drei Grade wurde mancherorts
reicher gestaltet, vieles, was nüchtern erschien,
phantasievoller ausgestaltet, manches hinzu-getan» (ebd). Im
letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzte dann eine
Bereinigung der freimaurerischen Ritualistik ein, womit
viele Riten wieder verschwanden.
Ritualfreiheit in der SGLA
Während einige Grosslogen ihren
angeschlossenen Bauhütten die Arbeit nach einem bestimmten
Ritus, einem bestimmten System vorschreiben, gibt es auch
solche, die ihren Logen diesbezüglich keinen Zwang
auferlegen. in diesen Obedienzen werden daher häufig
verschiedene Riten gepflegt. Ein Beispiel dafür ist die SGLA
(Lennhoff et al., S. 711). Um einen Überblick über die
verschiedenen Ritual-Systeme zu gewinnen, werden im
Folgenden einzelne kurz skizziert. Diese Ausbreitung will
sich jedoch nicht als vertiefende Abhandlung verstehen,
sondern lediglich einen Überblick vermitteln. Die
Ausführungen sind dem Buch von Alec Mellor «Logen, Rituale,
Hochgrade » entnommen.
Das Ritual des sogenannten Emulation-
Ritus, welchen die englischen und die meisten Logen der GLNF
pflegen, ist von einer nüchternen Schönheit und trägt einen
deutlichen religiösen Akzent. Nach Ansicht der Angelsachsen
steht er dem Ritus der ehemaligen Werkmaurer wohl am
nächsten.
Der Alte und Angenommene Schottische
Ritus ist der bei weitem farbigste und symbolträchtigste.
Die Kritiken, welche das Grand College des Rites an seinen
Kommentatoren, Oswald Wirth, gerichtet hatte, waren irrig,
weil sie auf unrichtigen Mitteilungen über das im18.
Jahrhundert gepflegte Ritual beruhten. Es ist auch sicher,
daß das Ritual nicht aus der Zeit des I. Kaiserreiches
stammt und daß es die »Signatur« hermetischer Einflüsse
trägt, die allerdings auch nicht weiter zurückverfolgt
werden können als bis in das 18. Jahrhundert, wo sie schon
zur Zeit Ludwigs XIV. feststellbar sind.
Der Rektifizierte Schottische Ritus ist
christlich. In der heute geübten Form stammt er aus der Zeit
des Kongresses von Wilhelmsbad (1782). Manche Riten, wie
Memphis, Misraim oder Cerneau, sind heute so gut wie
erloschen. In der Schweiz praktiziert als einzige Bauhütte
die Loge «Les Frères Inconnus » in Lausanne diesen Ritus.
Sie feiert am 10.November dieses Jahres ihr 225 jähriges
Bestehen – ein Grund mehr, wieder einmal einen Logenbesuch
in einer anderen Bauhütte ins Auge zu fassen! Zu erwähnen
verdient, dass viele Logen mit rationalistischer Tendenz die
Rituale wesentlich vereinfacht haben. Im französischen Midi
gibt es sogar Logen, welche das gesamte Ritual auf einen
einzigen Hammerschlag, mit welchem der Suchende aufgenommen
wird, eingeschränkt haben, was in der Auffassung der
Anhänger der »magischen« Richtung auf die Preisgabe jedes
freimaurerischen Charakters dieser Zeremonie hinausläuft (Mellor,
S. 123).
Symbolik des Rituals
Rituale basieren auf der
Ausstrahlungsund Aussagekraft der in ihr enthaltenen
Symbole. Wolfgang Scherpe schreibt in seinem Buch «das
Unbekannte im Ritual»: «Die Symbolik ist eine Bildersprache,
der es um die Erschliessung der seelischen Bereiche geht, an
die Worte und Begriffe nicht mehr heranreichen. [Unser
Tempel] ist ein Symbol desWeltall; ein Ort, an dem geistige
Bestrebungen gepflegt werden, die auch über den Bereich des
Irdisch- Materiellen hinausgehen. Das Ritual ist
gewissermassen ein dynamisches Symbol des grossen kosmischen
Geschehens» (S. 64 f.).
Oskar Ruf geht in seinem Bauriss
«Spiritualität im Ritual» auf die zeitliche Dimension der
Arbeit ein.
«Unser Ritual operiert mit der
symbolischen Zeitangabe Mittag und Mitternacht und billigt
diesen eine bestimmte Höhe zu, indem wir sie Hochmittag und
Hochmitternacht nennen. Unsere Versammlungen im Tempel zum
Zwecke der Durchführung von Zeremonien haben für deren
symbolischen zeitlichen Rahmen den Abschnitt des täglichen
Sonnenlaufes von Mittag zu Mitternacht gewählt». Damit ist
der Sonnenlauf überhaupt der symbolische Rahmen für den
zeitlichen Ablauf der zeremoniellen Handlung. Diese
Feststellung hat Konsequenzen. Nun geht es zuerst darum, die
Bedeutung des Arbeitsbeginnes um Hochmittag zu verstehen.
Den höchsten Stand der Sonne während ihres täglichen Laufes
ist gewählt. Das hat manchen Bruder auch schon überrascht,
weil er dachte, wir hätten doch besser als symbolische
Zeitangabe für unseren rituellen Arbeitsbeginn den
Sonnenaufgang wählen können. Oder man könnte auch symbolisch
um Mitternacht beginnen, um die Arbeit dann um Mittag zu
beenden. An dieser Stelle gilt es, darauf aufmerksam zu
machen, dass zu den symbolischen Rahmenbedingungen unseres
Rituals nicht nur diese Zeitangabe vom Anfang und vom Ende,
sondern auch die Koordinaten des Raumes gehören, nämlich
Osten und Westen und Norden und Süden (ebd.). Im
symbolischen Osten thront der Meister vom Stuhl, der Leiter
der Zeremonien. Diese räumlichen Koordinaten vereinigen sich
mit den zeitlichen insofern, als der Osten der Ort des
Sonnenaufganges, also des Morgens, der Westen der Ort des
Sonnenunterganges, also des Abends darstellt. Entsprechend
vergegenwärtigt der Meister vom Stuhl die wieder
neuaufgegangene oder die wieder neugeborene Sonne. Oskar Ruf
fragt sich in seinen Ausführungen ferner, weshalb wir hier
eigentlich von Arbeit und nicht vielmehr von Feier sprechen?
Worin besteht dann die Arbeit? Von welcher Arbeit ist hier
die Rede? Er kommt dabei zur Einsicht, dass der Beginn der
rituellen Arbeit am Mittag einen wesentlichen Teil der
spirituellen Lehre der Freimaurerei enthalte. Es gibt immer
wieder Brüder, die sagen und schreiben – auch in der
Zeitschrift Alpina – es gebe die Freimaurerei nicht, es gebe
nur den Freimaurer, den einzelnen Bruder, der dann eben ein
wirklicher Freimaurer sei oder auch nicht. Ruf vertritt die
Auffassung, dass dies nicht ganz richtig sei. Es gebe die
Freimaurerei als Ideengut. Es gebe die Freimaurerei als
ideelle Gemeinschaft von Männern, die ihre Ideen zu Idealen
erhoben hätten. Richtig sei: Es gebe die Freimaurerei nicht,
wenn wir damit eine festgeschriebene Lehre meinten, die als
Argument gegen andere Lehren eingesetzt werden könnte. Genau
so richtig sei aber: «Es gibt eine freimaurerische Lehre
über unsere Entwicklung. Sie ist im Ritual niedergelegt».
Um der Weisheit, die in diesem Zeitablauf von Mittag zu
Mitternacht herrscht, auf die Spur zu kommen, zieht Bruder
Oskar einen Spruch des griechischen Philosophen Heraklit
heran: «Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, im
Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu».
Damit ist gemeint, dass wir während des
Tageslaufes der Sonne wach sind, also in der
gemeinsamenWeltmit allen anderen Menschen. Ruf meint dazu
weiter: «Beginnt nun die rituelle Arbeit der Freimaurer am
Hochmittag, so beginnt sie in der gemeinsamen Welt, welche
wir Freimaurer die profane Welt nennen und endet in der
eigenen Welt, die für alle Menschen und in der Regel im
Schlaf oder in der Nacht erreichbar ist, nämlich dann, wenn
die physikalische Sonne untergegangen ist. Somit endet also
auch das maurerische Tempel-Ritual um Hochmitternacht, also
genau dann, wann die eigene Welt jedes Menschen erreicht
ist, denn die gemeinsame Welt fällt natürlicherweise in der
Nacht weg. Sie fällt dann nicht weg, wenn wir mit unseren
künstlichen Beleuchtungen den Tag in die Nacht hinein
verlängern. Durch die Elektrizität kann die Nacht in den
Innenräumen unseres Lebens- und Tätigkeitsbereiches taghell
erleuchtet werden». Gehen wir also von der natürlichen Nacht
aus.
Die Nacht ist gekennzeichnet durch die
Abwesenheit der Sonne. In der Zeit der Abwesenheit der Sonne
ist in unserem Leben nicht mehr das äussere Licht wirksam –
eben die physikalische Sonne – sondern das innere Licht, das
sich in unseren Träumen manifestieren kann. Das innere Licht
von uns Menschen nennen wir die Phantasie. Bei den alten
Griechen war sie eine Göttin. Die Phantasie ist die
Herrscherin über die eigene Welt. Fassen wir einmal kurz
zusammen, so lautet der Befund: Das Ritual der Freimaurerei
führt die am Ritual beteiligten Freimaurer-Brüder von Mittag
zu Mitternacht, von der gemeinsamen Welt in die eigene. Das
ist der Entwicklungsweg: Hin zum inneren Licht.