Thema
Bruder und ABAW
Als Aufgabenstellung und Denkanstoss formulierte die Grossloge die Frage: „Der ABAW – Dogma oder freie Interpretation?“ Diese Frage geht davon aus, dass wir Freimaurer die Wahl haben zwischen dem Dogma und der freien Interpretation. Aber haben wir sie wirklich?
Loge Bauplani O St. Gallen
Ja, wir haben sie. Diese Ansicht lässt
sich mit einer wunderschönen Episode aus dem Roman „Also
sprach Bellavista“ des italienischen Autors Luciano de
Crescenzo veranschaulichen. Ein pensionierter
Philosophieprofessor hält in seinem Studierzimmer
regelmässig Vorlesungen für seine Freunde aus dem Quartier:
den Hauswart, den Coiffeur, den Betreiber einer Bar u. a.
Eine seiner Vorlesungen beginnt er damit, dass er ein
Fragezeichen an die Tafel schreibt und ein Ausrufezeichen.
Das Fragezeichen, sagt er, ist das gute Zeichen, das
menschliche, das zugleich Bescheidenheit und gesunde Distanz
bedeute. Das Ausrufezeichen sei das Gegenteil: Es entspreche
nicht dem Menschen, zeuge von einer fragwürdigen
Entschiedenheit, ja von Hybris.
Bescheidenheit und Anmassung
Die Lehre des pensionierten
Philosophieprofessors hat ihre Wurzeln in der Antike. In der
Antike unterschied man zwischen dem Philosophen, also dem
Freund und Erforscher der Wahrheit, und dem Philodox, der
von sich beansprucht, im Besitz der Wahrheit zu sein. Der
Philosoph bewegt sich innerhalb der Grenzen, die ihm als
Menschen gezogen sind; der Philodox beansprucht Dinge für
sich, die ihm nicht zustehen. Der Philosoph liebt die
Diskussion; der Philodox versteift sich auf Diktat und
Doktrin, er denkt rein dogmatisch.
Unter einem Dogma versteht man eine
Definition oder eine (Lehr-)Meinung, deren Wahrheitsanspruch
als unumstösslich gilt. Werden mehrere Dogmen
zusammengefasst, so spricht man von einer Doktrin. In der
christlichen Theologie geschieht das unter Berufung auf die
göttliche Offenbarung, die Autorität der kirchlichen
Gemeinschaft bzw. des kirchlichen Lehramts oder auf
besondere Erkenntnisse. Dogmatismus begegnet freilich auch
andernorts. In kommunistischen Regimes wurden Dogmen oft
gewaltsam durchgesetzt: Panzer gegen Demonstranten,
Straflager für religiös orientierte Menschen,
Zwangspsychiatrie für Andersdenkende. Der Kern dieser Dogmen
war der Glaube an den historischen Materialismus, die
ökonomisch geprägte Sicht der Geschichte und der Zukunft.
Bis in die Gegenwart begegnen
fundamentalistisch ausgerichtete Gruppierungen
unterschiedlichster Couleur. So kann in streng islamischen
Ländern ein Verstoss gegen die religiöse Dogmenlehre, die
Schari'a, mit der Todesstrafe geahndet werden. Oder man
denke an all die Kreise, die sich zwar auf Christus berufen,
für Toleranz und Relativierung der eigenen Position –
„Demut“, um ein altes christliches Wort zu verwenden – kein
Gehör haben. Im Gegenteil: Mit ungeheurer Vehemenz werden
die Ideale der Aufklärung bekämpft, also das Gedankengut,
dem sich auch die Freimaurerei verdankt. Fundamentalismus
ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass er über die
Realitäten hinweg verfährt. Ja, diese müssen so
zurechtgebogen und -geschlagen werden, dass sie der Theorie
entsprechen. Und dies ist meist mit Gewalt verbunden. Jemand
hat einmal treffend formuliert: „Jedes Mal, wenn der Mensch
auf der Erde ein Paradies schaffen will, errichtet er eine
Hölle.“
Der ABAW: Präsenz in der
Werklehre
Wie sieht das nun bei uns Freimaurern
aus? Der ABAW ist zwar in jeder Tempelarbeit präsent: als
Zeichen im Osten; als Instanz, vor welcher der
Zeremonienmeister seinen Hut zieht; in der einen oder andern
Formulierung. Der Kandidat hat sich in der Kammer des
stillen Nachdenkens zu ihm zu bekennen. Und in der Trias von
Wahrheit, Stärke und Schönheit scheint der ABAW ebenfalls
auf. Aber er ist nicht in einer Weise gegenwärtig, die alles
andere erdrücken würde; vielmehr ist er ein solides,
vertrauenswürdiges Fundament. Die königliche Kunst, die auf
diesem Fundament aufbaut, ist keine abschliessende oder
abgeschlossene, sie entspricht vielmehr einem lebenslangen
Prozess. Sie ist also weit mehr philosophisch als philodox.
In diesem Sinne hat Anderson in den Alten Pflichten von 1723
dem Thema „Von Gott und der Religion“ gleich das erste
Kapitel gewidmet. Wer vom ABAW spricht, begreift den
Menschen immer mit ein. Und wer vom Menschen spricht, kann
den ABAW nicht ausser Acht lassen. Das eine lässt sich ohne
das andere nicht denken, es besteht eine tiefe Verbindung.
In der Abgrenzung des menschlichen Bereichs gegenüber jenem
des ABAW gelangt der Mensch zu seiner Definition. Das lässt
sich mit ein paar Gegenüberstellungen aufzeigen:
Dem Vollständigen des ABAW steht das
Fragmentarische des Menschen gegenüber; dem Unbegrenzten das
Begrenzte; dem Sein das Werden; der Ruhe in sich selbst der
Prozess und die Suche; dem Ewigen das Zeitliche; dem reinen
Licht das Diffuse; und schliesslich, von besonderer
Anschaulichkeit, der ideellen Geometrie jene sinnliche
Geometrie, die den ideellen Definitionen beispielsweise von
Punkt und Linie nie gerecht werden kann. Wichtig ist durch
all die Gegenüberstellungen hindurch dies: Es gibt ein
Prinzip, das über dem Menschen steht und ihm doch nicht
völlig fremd ist. Das ermöglicht auch einen menschlichen
Platz in der Schöpfung.
Kaum Dogmen in der Freimaurerei
Es wird deutlich, dass sich der Mensch
nicht zuletzt über das definieren lässt, was er n i c h t
ist. Der Kontrast zum ABAW lässt ihn zu sich selbst kommen.
Friedrich Dürrenmatt hat diese Ansicht ins Burleske
umgeformt. Er sagte: Mir tun die Götter leid, die ewig leben
müssen – da haben wir sterblichen Menschen es schon besser,
auch wenn wir in der Begrenztheit unserer Existenz viel
Unfug produzieren. Dürrenmatts Auffassung ist nicht nur hoch
philosophisch, sie zeugt auch von Selbstironie und tiefer
Liebe zum unvollkommenen Geschöpf, das wir alle sind.
Wenn wir uns also über den Gegensatz
zum ABAW definieren können, stellt sich freilich auch die
Frage, ob und wie e r sich denn definieren lässt. In der
abstrakten Form ist das eben geschehen. Wie aber steht es um
die konkrete? Der ABAW wird in der Freimaurerei nicht näher
umschrieben. Er ist kein alter Mann mit Bart, der über den
Wolken thront; er ist keine metaphysische task force, die
man für seine Zwecke einspannen kann; der ganze theologische
Überbau, der im Abendland mitunter bunte Blüten getrieben
hat, fehlt. Das hat zur Folge, dass die FM gerade von
kirchlicher Seite immer wieder angegriffen wurde und
teilweise noch immer angegriffen wird. Der ABAW der
königlichen Kunst entzieht sich jeder eingrenzenden
Definition, er ist aber stets präsent. Es gibt Logen, deren
im Osten aufliegende Bibel lauter weisse, unbeschriebene
Blätter aufweist – ein gutes Beispiel für die Schlichtheit
und Prägnanz maurerischer Symbolik.
Der ABAW wird nicht über Dogmen so und
nicht anders aufoktroyiert, vielmehr überlässt es die
Freimaurerei jedem Bruder, im Rahmen der königlichen Kunst
seinen eigenen Zugang zu ihm zu finden. Der Begriff des ABAW
ist sozusagen eine „Leerformel“, die den einzelnen Bruder
zur Reflexion bringt und dazu hinführt, sie mit Inhalt zu
füllen. Dem biblischen „Du sollst dir kein Bild machen“
entspricht so die Aufforderung: „Mache dir ein Bild, und
zwar ein ganz persönliches!“ Das entspricht dem
Prozesshaften und – bei aller Verpflichtung gegenüber den
maurerischen Werten – jenem Quäntchen Individualität, welche
die Freimaurerei den Brüdern für ihre persönlichen
Erkenntnis- und Lebensmöglichkeiten zugesteht. Dieses
Prozesshafte und Individuelle ist m. E. von tiefer
Menschlichkeit. Wenn hier von Individualität gesprochen
wird, so nicht in dem Sinne, dass damit ein Freipass für
irgendwelche Amokläufe der Subjektivität gegeben ist,
sondern in jenem, dass ein verantworteter Bezug des Kleinen
zum Grossen, des Besonderen zum Allgemeinen aufgezeigt wird.
Und wenn man seine individuelle Auffassung des ABAW
formulieren müsste, so könnte man den einen oder andern
Ansatz formulieren, ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit. dazu
gehörten drei Überzeugungen:
-
Mein ABAW erlaubt keinen
Fatalismus. Ich bin gefordert, meinen Beitrag zu einer
glückenden Welt zu leisten.
-
Mein ABAW ist kein deus absconditus,
der die Welt wie ein Uhrwerk geschaffen hat und nun
selbständig vor sich hin laufen lässt. Vielmehr ist er
in unzähligen Formen präsent, auch wenn ich nicht alle
exakt erfassen und benennen kann.
-
Und schliesslich ist mein ABAW eine
Energie, die zwar empfangen, aber nie eingefangen oder
konserviert werden kann. Die Spiritualität bringt
hierfür das Bild des Wassers, das man mit
unterschiedlichsten Gefässen oder mit der blossen Hand
auffangen kann, aber nicht mehr. Und das darf wohl auch
so sein.
Das klingt wunderbar. Nur kommt hier
eine tiefgreifende Problematik ins Spiel: Viele Menschen
sind heute nicht mehr religiös. Seit den 70er Jahren des
letzten Jahrhunderts verlieren die traditionellen Kirchen an
Zulauf, büssen Sakramente wie die Ehe ihre Verbindlichkeit
ein, orientiert sich der Mensch rein materialistisch.
Vorwürfe? Nicht unbedingt. In dieser
philosophisch-theologischen „Grosswetterlage“ ist das
Urvertrauen – also ganz wörtlich übersetzt: die „re-ligio“ –
über weite Strecken verloren gegangen. Doch zurück zur
Fragestellung. Der ABWA: Dogma? Gewiss n i c h t ! Freie
Interpretation: e h e r. Eine Interpretation, dies ich eng
an das maurerische Verständnis des Menschen und der Welt
hält und die weder den ABAW noch den Menschen gegeneinander
ausspielt? Ja, gewiss.