Dossier
Mitgliederzahlen: Die Sicht des Grossmeisters
«Neue Brüder – wo sind sie?» Diese Frage stellt sich mancher Loge. Doch so unterschiedlich die Bauhütten, so unterschiedlich die Perspektiven. Der Grossmeister der Schweizerischen Grossloge Alpina, Br. Jean-Michel Mascherpa, erklärt in einem Interview seine Sicht. Von alarmierenden Zuständen könne für die SGLA insgesamt keine Rede sein. Doch gerade kleinere Logen sollten ihre Strategien überdenken. Das Thema Nachwuchs müsse in grösseren Zusammenhängen gesehen werden, will man es begreifen und angehen.
Thomas Müller
Thomas Müller: S. erw. Grossmeister, lieber Br.
Jean-Michel, dein Amt bringt mit sich, dass du gerade durch
persönliche Besuche einen Überblick über die Schweizer Logen
hast. Hinzu kommen alle die Kontakte zu den Grossmeistern
anderer Länder. Es ist also von grossem Interesse, wie du
die Umfrage von der strategischen Warte aus interpretierst.
Erlaube mir die Frage gleich vorweg: Sind unsere Bestände
alarmierend?
Jean-Michel Mascherpa: Das trifft für das Gesamt der
Schweizer Logen nicht zu. Ein Alarm wäre fehl am Platz. Aber
es besteht gerade bei kleineren Logen Handlungsbedarf. Deren
Selbständigkeit darf allerdings nicht angetastet werden.
Unser Logensystem ist typisch schweizerisch, es lebt vom
Gedanken des Föderalismus. Die einzelnen Logen haben sich im
Sinn einer Willenskundgebung zu einer Allianz
zusammengeschlossen, welche die Individualität ihrer
Mitglieder widerspiegelt, ja auf ihr beruht.
T. M.: Und wie sieht es im internationalen
Vergleich aus?
J.-M. M.: Betrachtet man die Logen in den vergleichbaren
Ländern, so sind die Bestände stabil. Man darf sich
allerdings nicht an den absoluten Zahlen orientieren.
Vielmehr müssen die Bestände in Relation zur
Bevölkerungsziffer gesehen werden. Ein Blick über die
Landesgrenzen hinaus zeigt, dass die Schweizer Grossloge den
Vergleich mit den umliegenden Ländern, aber auch mit dem UK,
nicht zu scheuen braucht. Mit 3’500 in der SGLA
organisierten Brüdern stehen wir gut da. Die Zahlen haben
sich in den letzten zehn Jahren immer um diesen Wert herum
bewegt. Es könnten freilich gern auch 4’000 sein. Doch
Wachstum in Ehren: Mehr als 8’000 Brüder wären schlicht zu
viele. Ein Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass sich rund
500 Brüder im Grand Orient der Schweiz organisiert haben. In
ihren Augen sind die Bauhütten der SGLA zu spirituell
ausgerichtet; sie bevorzugen einen agnostischen Denkansatz.
T. M.: Ich würde gern auf die Aspekte der
Rekrutierung zu sprechen kommen. Wie beurteilst du die
Altersdurchmischung?
J.-M. M.: Erlaube mir eine Bemerkung zum Wort
«Rekrutierung ». Im französischen Sprachraum klingt das sehr
nach Zwang, und das trifft so ja nicht zu – im Gegenteil.
Was die Altersdurchmischung betrifft, müssen wir einen
Faktor berücksichtigen, den wir kaum beeinflussen können. Im
Alter zwischen zwanzig und 35, 40 sind die Männer voll
engagiert, im Berufsleben und in der Familie. Sie hätten
nicht den freien Kopf, sich in die Freimaurerei
einzubringen. Ab 40, 45 sieht das dann anders aus. Man darf
den Fokus also nicht einfach auf die jungen Männer legen,
wenn man die Frage nach dem Nachwuchs stellt.
T. M.: Und wie beurteilst du die Logengrössen?
J.-M. M.: Ursprünglich setzte man für Logengründungen das
Minimum an Brüdern bei sieben an. Die Verfassung der SGLA
indessen schreibt im Artikel 6.1 vor, dass eine Loge
mindestens 14 Brüder zählen muss. Dahinter steht die
Absicht, keine zu kleinen Logen zu haben. Es gibt welche,
die schlichtweg zu klein sind, um überhaupt gewisse
statutarische Vorschriften einzuhalten. So können es
Unterbestände mit sich bringen, dass für eine Erhebung das
Soll von sieben Meistern nicht erbracht werden kann. Dann
muss man sich etwas einfallen lassen, z. B. den Einbezug von
Gästen. Hinzu kommt der finanzielle Aspekt. Kleine Logen
haben hier häufig Schwierigkeiten. Eine Fusion läge in
vielen Fällen nahe, aber die kann ihnen niemand
vorschreiben. Die grossen Logen wiederum haben in der Regel
solide Finanzen. Doch eigentlich wäre es ihre Aufgabe, von
sich aus neue Logen zu gründen. Dem wird nicht immer
nachgekommen, obgleich das eine gute Sache wäre. Beide
Grössenordnungen haben Vor- und Nachteile. In einer kleinen
Loge ist man enger mit den Mitbrüdern verbunden, kann aber
niemandem ausweichen, wenn es zu Konflikten kommt. In einer
grösseren besteht die Gefahr, dass sich Untergruppen bilden;
dafür kann man sich eher aus dem Weg gehen.
T. M.: Die Frage nach dem Nachwuchs berührt ja
mehrere Aspekte. Ich würde gern von dir erfahren, welche in
deinen Augen massgeblich sind.
J.-M. M.: Ganz wichtig ist der Grundsatz, der auch klar
aus der Umfrage hervorgeht: Qualität vor Quantität.
Vielleicht klingt das elitär, wenn ich sage: Nicht jeder
kann Freimaurer werden. Das hat aber mit Arroganz nichts zu
tun. Vielmehr muss man sich jenen zuwenden, die aufgrund
ihre Persönlichkeit für den maurerischen Weg in Frage
kommen. Auch gilt es zu fragen: Passt ein Kandidat mehr in
diese oder mehr in jene Loge?
T. M.: Und wenn jemand nicht das Erwartete
antrifft, nachdem er sich einer Loge angeschlossen hat? Die
Umfrage zeigt ja, dass das ein Thema ist.
J.-M. M.: Dann müssen sich die Vorbereiter den Vorwurf
gefallen lassen, ihre Aufgabe nicht wahrgenommen zu haben.
Dazu gehörte auch die Überprüfung, was ein Kandidat der Loge
zu bieten hat. Es geht ja um ein Geben und Nehmen. In diesem
Zusammenhang ist eine Funktion sehr wichtig: die des Paten.
Dieser streut in Gesellschaft möglicher Kandidaten die eine
oder andere Frage oder Bemerkung und stellt dann fest, ob
Männer mit maurerischem Potential zugegen sind. Er erwähnt
die Freimaurerei nicht von Beginn weg, sondern erst im Lauf
der Zeit. Ich verwende hier gern das Bild, dass jemand
Fischen nach und nach Futter gibt und schaut, welche
dabeibleiben. Vom Unverbindlichen geht es so nach und nach
zum Verbindlichen, vom Profanen zum Maurerischen. In diesem
Zusammenhang möchte ich nochmals die Bedeutung des
Individuums ansprechen. Die Freimaurerei lebt davon, dass
jeder einzelne Bruder in seinem Umfeld Gutes tut. Es ist
meine feste Überzeugung, dass der Einzelne die Gesellschaft
besser machen soll, und ich lehne die Denkart entschieden
ab, dass die Gesellschaftbessere Menschen zu machen hat. Der
Mensch verändert die Gesellschaft und nicht umgekehrt.
T. M.: Gibt es auch externe Gründe, weshalb sich
die einzelnen Logen stark unterscheiden können?
J.-M. M.: Ja. Einer ist der Unterschied zwischen
städtischen und ländlichen Verhältnissen. In der Grossstadt
leben tendenziell mehr Leute aus intellektuellen und
finanziell erfolgreichen Kreisen. Zudem geht es hier mehr
oder minder anonym zu und her. Nimmt man aber einen
Schreinermeister aus einem Dorf, so könnte dessen
Mitgliedschaft in einer Loge zu erheblichen Problemen führen
– bis zur Bedrohung seiner wirtschaftlichen Existenz.
Konkret: Zwischen Genf und Islikon liegen Welten.
T. M.: Ein Punkt, der in der Umfrage deutlich zu
Tage tritt, besteht in der Öffnung der Freimaurerei nach
aussen. Wie beurteilst du ihn?
J.-M. M.: Auf jeden Fall ist die Öffnung nach aussen
unumgänglich. Das heisst freilich nicht, dass man mit «hard-selling»-Methoden
Nachwuchsleute anwirbt. Es soll aber der profanen Welt
gezeigt werden, dass die Freimaurerei ein Weg der
Selbstveredelung ist. Das ist ein Argument, das auch heute
greift. Was die Kanäle betrifft, über welche die Logen mit
Erfolg aktiv werden, stehen gemäss der Umfrage das Internet,
die Empfehlung durch einen Bruder und, wenn man das so
nennen will, Public Relations in unterschiedlicher Form
zuvorderst. Dass das Internet als vergleichsweise junges
Medium für uns derart wichtig geworden ist, zeigt, dass wir
mit der Zeit gehen.
T. M.: Inwiefern passt die Freimaurerei in unsere
Zeit?
J.-M. M.: Viele Menschen haben heute das Vertrauen in die
traditionellen Kirchen verloren. Das heisst aber nicht, dass
ihnen Transzendenz an sich gleichgültig ist. Im Gegenteil:
Viele Menschen sind auf der Suche. Die Freimaurerei gibt
ihre spezifischen Antworten auf entsprechende Fragen,
allerdings ohne für sich den Begriff der Religion zu
reklamieren. In der Brüderlichkeit, der «fraternité », setzt
sie ihr Gedankengut um.
T. M.: In der Umfrage geht es auch darum, welche
Rolle die Grossloge übernehmen soll. Die einen Stuhlmeister
äussern sich zufrieden mit dem heutigen Zustand: Die „Alpina“
soll sich nicht in das Leben der einzelnen Logen einmischen.
Die andern wünschen indessen eine vermehrte Kommunikation
von seiten der Grossloge. – Wie siehst du das?
J.-M. M.: Ich denke, dass je nach dem die eine oder die
andere Seite unglücklich ist. Die Grossloge soll auf dem
heutigen Kurs weitermachen. Es kommen immer wieder Brüder
auf mich zu mit der Frage, ob man nicht auf der Stufe der
Grossloge zu gewissen Themen Stellung beziehen soll, z. B.
zu Vorgängen in der Türkei oder zu den antisemitischen
Äusserungen des französischen Komikers Dieudonné. Ich lehne
das ab, nicht zuletzt deshalb, weil grosse Gesten nicht
unserer Schweizer Art entsprechen.
T.M.: Eine letzte Frage. Wie siehst du die
Zukunft unserer Logen? Chancen, Risiken?
J.-M. M.: Risiken sehe ich keine, wir sind auf gutem Weg.
Die SGLA verpflichtet sich der Regularität, die auf den
Landmarken in Andersons Alten Pflichten beruht. Wichtig ist
in diesem Zusammenhang, dass sich jeder Bruder als
Botschafter der Freimaurerei versteht und gegenüber der
profanen Welt als Vorbild auftritt.
T. M.: S. erw. Grossmeister, lieber Br.
Jean-Michel, ich danke dir für das Gespräch.