Dossier
«Pro patria»: Höhere Weihen und Giftgas
Minderheiten, Revolutionäre, Liberale, Terroristen: Sie alle beanspruchten und beanspruchen den Begriff des «Vaterlands» für sich. Es ist ein arg strapaziertes Wort mit langer Geschichte. In der Antike war Vaterlandsliebe ein Zeichen persönlicher Integrität – eine Bedeutung, die es bis heute haben kann. Allerdings ist nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts Vorsicht geboten, und in der Postmoderne hat die Identifikation mit dem Vaterland an Bedeutung verloren.
Thomas Müller
Süss und ehrenvoll» sei es, «fürs Vaterland zu sterben».
Die Formel geht zurück auf den römischen Autor Horaz (65–8
v. Chr). Den Krieg zu verherrlichen lag aber nicht in seiner
Absicht. Vielmehr wollte er aufzeigen, wie sich der Dienst
unter den Waffen mit der epikureischen und der stoischen
Lehre vereinbaren lässt. Es ging nicht um Propaganda,
sondern um eine philosophische Fragestellung. Jahrhunderte
später, 1916, sollte der Schüler Bertolt Brecht einen
Aufsatz zu diesem Thema verfassen. Er kritisierte den Mythos
vom Heldentod und wurde deshalb um ein Haar von der Schule
verwiesen. Dieser Vorfall zeigt zwei Dinge, die vom Begriff
des «Vaterlandes » nicht zu trennen sind. Da ist zum einen
eine Tradition, die von der Antike bis heute reicht. Und da
ist zum andern die Gefahr, dass mit dem hehren Begriff
Schindluder getrieben, Menschen manipuliert, ja in den Tod
getrieben werden.
Ein Begriff, viele Bedeutungen
Berühmt wurde er dank dem römischen Staatsmann,
Philosophen und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero (106–43
v. Chr.). In seinen Reden gegen den Verschwörer Catilina
führt er mehrmals den Vaterlandsbegriff ins Feld. Das
kulminiert in der Aussage, die «patria» sei ihm «teurer als
sein Leben». Der Senat zeichnete ihn für seine Verdienste
mit dem Titel «pater patriae» aus: «Vater des Vaterlandes».
Im deutschsprachigen Raum geht der Begriff des «Vaterlands »
ins 11. Jahrhundert zurück.
Er gehörte zum mittelhochdeutschen Vokabular.
Ursprünglich bezeichnete das Wort das vom Vater stammende
bebaubare Land. Die Semantik des Begriffs schien in immer
neuen Varianten auf. In den Reformationskriegen des 16. Jhs.
Bezeichneten sich die Hugenotten als «bon patriote». Sie
versuchten so, sich gegenüber heftigen Anfeindungen zu
legitimieren. Im 80jährigen Krieg (1568–1648) definierten
sich die Kräfte um Wilhelm von Oranien als Widerpart gegen
die spanische Fremdherrschaft. Als «Macht von unten»
begriffen sich die Revolutionäre 1776 in den Vereinigten
Staaten und 1789 in Frankreich: An die Stelle
feudalistischer Strukturen traten demokratisch verfasste
Nationalstaaten. Der «Code civil» von 1804 kam im Zuge der
napoleonischen Kriege in die bürgerlichen Schichten anderer
Länder. Nach dem Wiener Kongress von 1815 unterdrückten die
reaktionären Fürstentümer das liberale Gedankengut. In der
Schweiz allerdings war die Bundesverfassung von 1848 stark
von einem liberalen Vaterlandsgedanken geprägt. Dabei waren
auch Brüder Freimaurer beteiligt wie Jonas Furrer, der erste
Bundespräsident. Ab ca. 1932 und bis in die 1960er Jahre
lebte hier mit der «Geistigen Landesverteidigung» ein
Vaterlandsverständnis auf, das auch eine Komponente
mythischer Überhöhung mit einbegriff, im Kontext seiner Zeit
aber nachvollziehbar ist.
Zweifelhafte Glorie
Die Menschheitsgeschichte verzeichnet mit der
Sesshaftigkeit auch das Anlegen von Gräbern. In den
kultischen Handlungen ergab sich eine Verbindung zwischen
Boden und Transzendenz, die mit starker Emotionalität
einherging. Das heimatliche Territorium wurde zu einem
wichtigen, metaphysisch aufgeladenen Wert. Der Gefühlsaspekt
begegnet über die Jahrhunderte immer wieder, so z. B. bei
Heinrich Heine (1797–1856). Er schrieb: «Als ich das
Vaterland aus den Augen verloren hatte, fand ich es im
Herzen wieder.» Und von Heinrich von Kleist (1777– 1811)
stammt die Aussage: «O welch herrliches Geschenk des Himmels
ist ein schönes Vaterland!» Diese Überhöhung des
Vaterland-Begriffs kann dazu führen, dass zivilisatorische
Werte zweitrangig werden. Das zeigt sich gut in einer
Formulierung des deutschen Theologen und Verlegers Ernst
Moritz Arndt (1769–1860): «Wenn die letzten und höchsten
Güter von Volk und Vaterland auf dem Spiele stehen, versagen
die juristischen Formen und Formeln, die auf Erden gemacht
sind; wer zum letzten Kampf fürs Vaterland geht, holt sein
Recht vom Himmel.» Man sieht: Da wird heikles Terrain
betreten.
Mit diesem Gedankengut geht die Glorifizierung einher. Es
kommt zur Beschönigung des Kriegs, z. B. in der
«Hurra-Mentalität» des Wilhelminismus. Die Vergangenheit
wird romantisiert. Mythische Muster treten an die Stelle der
Fakten, es kommt zur Geschichtsklitterung. Vermeintliches
oder tatsächlich erfahrenes Unrecht in der Vergangenheit,
Gründungsakte, Heldengeschichten und andere Elemente
verdichten sich zu einem explosiven Gemisch.
Aber es gab immer wieder Gegenstimmen. So griff der
britische Dichter Wilfred Owen, Offizier im Ersten
Weltkrieg, das Horaz-Zitat wieder auf. Ende 1917 verfasste
er ein Gedicht mit dem Titel «Dulce et decorum est». Dieses
beschreibt einen Gasangriff und den dadurch verursachten
qualvollen Tod eines Soldaten. Veröffentlicht wurde das Werk
erst postum, 1920. Die letzten Zeilen lauten: «Wenn du hören
könntest, wie bei jedem Stoss das Blut / Gurgelnd aus seinen
schaumgefüllten Lungen läuft, / Ekelerregend wie der Krebs,
bitter wie das Wiederkäuen / von Auswurf, unheilbare Wunden
auf unschuldigen Zungen, / Mein Freund, du erzähltest nicht
mit so großer Lust / Kindern, die nach einem verzweifelten
Ruhmesglanz dürsten, / Die alte Lüge: Dulce et decorum est /
Pro patria mori.» Doch die Anklage gegen den Krieg hat es
nicht leicht. Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues»
(1929) landete auf den Scheiterhaufen der
Nationalsozialisten ebenso wie Bruno Vogels Werk, dessen
Titel den Widersinn des Kriegs auf makabre Weise wiedergibt:
«Es lebe der Tod» (1924).
Patriotismus – Nationalismus – Postmoderne
Der Vaterlandsgedanke wirkt sowohl nach innen wie nach
aussen. Beides deckt menschliche Grundbedürfnisse ab. Im
Innern kommt es zum Schulterschluss, zur Identifikation, zur
Heimat. Man ist unter Gleichgesinnten, mit denen man
Herkunft, Boden und Werte teilt. Andrerseits definiert man
sich über die Abgrenzung nach aussen. Der – positiv
verstandene – Patriotismus lässt sich auf die
selbstbewusste, wirtschaftlich und kulturell führende
Stadtbürgerschaft zurückführen. Diese sogenannte
«republikanische» Tradition hielt an bis zur Entstehung der
grossen Nationalstaaten. Venedig und Florenz sind ebenso
Beispiele wie Frankfurt, Nürnberg und die Hansestädte. Doch
im 19. Jahrhundert kam es zur Überlagerung durch
nationalistisches Denken. Der Patriot liebt sein Vaterland;
der Nationalist verachtet das Vaterland der andern. Er
versteht sich als anderen Nationen überlegen. Nicht selten
kommt es zu einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein. Es
werden die eigenen Interessen gegenüber jenen von Menschen
aus andern Ländern als höherwertig eingestuft – man denke an
das NS-Gedankengut des «Lebensraums im Osten» und der
slawischjüdischen «Untermenschen».
Wer sich die heutigen Länder Westeuropas vor Augen hält,
findet kaum mehr einen sich alles unterordnenden
Nationalismus. Gewisse chauvinistische Muster begegnen zwar
immer noch, man denke an den Sport oder das
Selbstbewusstsein gewisser Länder. Doch es hat sich etwas
Wesentliches geändert: Die Menschen schauen selten mehr über
den Horizont ihres Individualismus hinaus. Es hat – freilich
immer mit Ausnahmen gerade in den älteren Generationen oder
in ländlichen Gegenden – ein Paradigmenwechsel
stattgefunden. An die Stelle verbindlicher Werte ist das
postmoderne «Anything goes»getreten. Statt des Idealismus
herrscht das Denken in den Kategorien der «zwei M» vor – «money
and me». Die Zeit der sogenannten «grossen Erzählungen » ist
vorbei; man will nicht mehr viel vom «Vaterland» hören, ja
ist im Gegenteil bestrebt, den Wert als Mythos zu
dekonstruieren. Identität kann auch über das Konsumverhalten
definiert werden, konkret in der «community» dieser oder
jener Marke. Zugehörigkeit vermitteln die social media. Das
postheroische Zeitalter ist angebrochen; der Held, der das
Vaterland unter Einsatz seines Lebens verteidigt, ist in
breiten Kreisen keine Identifikationsfigur mehr.Hier aber
eine Klage über den Gang der Welt anstimmen? Die Erfahrung
zeigt, dass «alte» Werte durchaus wieder aktuell werden
können. Wenn das der Fall sein sollte, dann hoffentlich im
Sinn eines engagierten, reflektierten und weltoffenen
Patriotismus. Welch grauenvolle Konsequenzen ein
übersteigerter Nationalismus haben kann, sollten wir wissen.