Dossier
Die Wanderung: Symbol mit reicher Tradition
Der Geselle hat den zweiten Schritt in seinem maurerischen Leben in Angriff genommen. Er geht auf Wanderschaft, und das in doppeltem Sinn. Einmal physisch, indem er andere Logen besucht und damit unterschiedliche Kulturen kennenlernt. Das ist gut so, denn es öffnet den Horizont. Dann macht er sich aber auch im symbolischen Sinn auf Wanderschaft. Er hat an sich gearbeitet und begibt sich nun auf eine zweite Stufe der maurerischen Arbeit am grossen Werk der Humanität. Er tritt nach aussen. Er wird tätig. Er exponiert sich. Als Lehrling zählte er ganze drei Jahre, als Geselle hat er deren fünf. Er sieht: Es liegt noch ein langer Weg vor ihm.
Thomas Müller
Das Leben wird von alters her mit einer Wanderschaft
verglichen. Ja, man darf von einem Archetyp sprechen, der in
allen Kulturen begegnet. Parzival ist wörtlich übersetzt
einer, der das Tal durchmisst. Wandermönche setzen ihre
Spiritualität physisch um. Die australischen Ureinwohner
haben ihre «songlines», eine unsichtbare, mythische
Landkarte, die per Gesang über alle Generationen tradiert
wird und die Grundlage ihrer Wanderungen bildet. Die Hadsch
der Muslime nach Mekka, die christliche Pilgerfahrt auf dem
Jakobsweg nach Santiago de Compostela gelten als Erfüllung
eines frommen Lebens. Den Bogen zur Transzendenz schlägt
bereits Paulus, der schreibt: «So lange wir leben, wandern
wir zu Gott.» Die Hindus sprechen von der Seelenwanderung:
Nach dem Tod verlässt die Seele eines Menschen den Körper
und tritt in ein anderes Lebewesen ein. Und zeitgenössische
Philosophen sprechen vom «nomadisierenden Denken», das sich
zwischen den unterschiedlichsten Disziplinen bewegt, sich
jeglichem Diktat entzieht und sich unorthodoxe Spuren bahnt.
Die Wanderung des Lebens ist nicht immer einfach. Aber
sie ist im Menschen angelegt. Ebenso wenig, wie Schiffe für
den Hafen gebaut werden, ist der Mensch dazu berufen, sich
sein Leben lang in einer komfortablen Ecke zu
verbarrikadieren. Ich bin überzeugt: Wer Freimaurer wird,
hat diesen Gedanken ganz ausgeprägt in sich. Kein Wunder,
vollziehen die Brüder auch im Gesellengrad ihre symbolischen
Reisen.
Dante: «Im dunklen Wald»
Wer sich auf den Weg begibt, muss auch mit Ängsten
Zweifeln, Verunsicherung, Verlust der Orientierung rechnen.
Die gehören dazu, ob man das will oder nicht. Eine der
grossartigsten Passagen der Weltliteratur spricht davon. Es
sind die ersten drei Zeilen aus der «Divina Commedia » des
italienischen Dichters und Philosophen Dante Alighieri
(1265– 1321). Sie lauten wie folgt:
« Nel mezzo del cammin di nostra vita / mi ritrovai per
una selva oscura, / ché la diritta via era smarrita. »
Zu deutsch: «In der Mitte unseres Lebens / fand ich mich
in einem dunklen Wald wieder / abgekommen vom richtigen
Weg.»
Die Wanderung in der «Divina Commedia », die von der
Hölle über das Purgatorium ins Paradies führt, beginnt
damit, dass sich einer schmerzlich bewusst wird, wohin ihn
seine Wanderschaft geführt hat: an einen Un-Ort. Darin liegt
eine tiefe Symbolik. Freimaurer wird man ja oft auch
deshalb, weil einen das im profanen Leben Erreichte nicht
mehr zufrieden stellt, weil es nicht mehr so viel Reiz und
Sinn in sich hat wie z. B. in den Anfängen einer beruflichen
Karriere. Wie in Trance hat man die Jahre zugebracht und
sich kaum je aus dem Ganzen hinaus begeben. Der bisherige
Lebensabschnitt hat seine Berechtigung, das steht ausser
Frage. Aber es ist Zeit, innezuhalten und sich zu fragen: Wo
bin ich gelandet? Und wie soll es weitergehen?
Wer sich auf eine Wanderung macht, braucht Orientierung.
In unseren Symbolen und Ritualen ist viel davon greifbar.
Sie bilden ein Vokabular, das den Dialog unter Brüdern
vereinfacht und vertieft. Das ist nicht zu unterschätzen.
Erlebnisse kann man dann mit anderen Menschen teilen, wenn
eine gemeinsame Sprache besteht. Bleibt dies Gemeinsame
unter dem Verschluss des Schweigens nach aussen, verstärkt
sich diese Wirkung noch.
Mit der Beförderung werden dem Gesellen auch Mittel in
die Hand gegeben, seine Lebens-Wanderung mit Mut und
Zuversicht fortzusetzen und Schwierigkeiten als Teil dieses
Unterfangens zu verstehen. Diese sprechen nicht gegen den
maurerischen Weg, sondern vielmehr für seine Eignung zur
Individuation, zu einem Ganz-Werden, das uns nicht zuletzt
zum Wirken in der profanen Welt befähigt.
Petrarca: «und vergessen sich selbst»
Eine der berühmtesten Wanderungen der Geistesgeschichte
ist die eines andern Autoren des Trecento, Francesco
Petrarca (1304–1374). Der italienische Humanist bestieg 1336
zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux in der Provence
und formulierte seine Erlebnisse in einem Brief. Dieses «document
humain» zeugt vom Übergang des Mittelalters in die
Renaissance. Die Schlüsselszene spielt sich auf dem Gipfel
ab. Petrarca geniesst die Aussicht als solche, ohne die
mittelalterliche Auffassung, welche die Natur lediglich als
Verweis auf Gott versteht. Für ihn hat sie durchaus ihren
eigenen Wert. Er schlägt die «Bekenntnisse» des
Kirchenvaters Augustinus auf, ein Buch, das er immer mit
sich trägt. Er schlägt sie auf und trifft zufällig auf einen
Passus, der ihn direkt anspricht. Die Stelle lautet:
«Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen
der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit
dahinfliessenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen
der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.» (Confessiones
X, 8)
Das Erleben der Natur – ein ästhetischer Akt – und die
Rückbesinnung auf sich selbst – ein kontemplativer,
reflektierender Akt – ergeben zusammen ein durchschlagendes
Erlebnis. Über dieses ist schon viel geschrieben worden. So
wird auf das Bekehrungsmotiv bei Augustinus und Paulus
hingewiesen oder auf die aufkommende Landschaftsmalerei der
Renaissance. In unserem Fall geht es darum, einen Bezug zur
Freimaurerei herzustellen, der Petrarcas Brief weniger in
wissenschaftlicher Exegese denn als Ausgangspunkt
masonischer Überlegungen zu verstehen sucht. Das geschieht
im Folgenden unter drei Aspekten: der Aufbruch ins
Unvertraute, das dialogische Prinzip und die Dialektik der
beiden Grade des Lehrlings und des Gesellen.
Wie schon bei Dante ist auch bei Petrarca die Natur eine
Szenerie für zutiefst existentielle Vorgänge. Ist es beim
Ersten der dunkle Wald, in den es den Wanderer verschlagen
hat, so ist es beim Zweiten ein Berg, den zu besteigen dem
Menschen der damaligen Zeit fern lag. Was soll man dort
oben? Ein alter Mann, dem Petrarca und sein Bruder begegnen,
schildert den Aufstieg als schreckliches Unterfangen. Und in
der Tat begegnen die Brüder heiklen Stellen und müssen immer
aufpassen, sich im Gelände nicht zu verlieren. Sie nehmen
Mühen auf sich, um etwas zu tun, was andern nicht einmal in
den Sinn kommt. Sie bewegen sich aus der komfortablen Zone
des «Selbstverständlichen» hinaus und betreten Neuland. Sie
wagen, riskieren, kämpfen, nicht zuletzt mit sich selbst,
beweisen Mut. In dieser Hinsicht lassen sie sich mit uns
Freimaurern vergleichen. Auch wir lassen die Komfortzone
hinter uns und begeben uns auf eine anspruchsvolle
Wanderung. Auch wir wissen nicht genau, was uns in unserer
masonischen Entwicklung begegnen wird. Auch wir stecken
unsere Ziele hoch und werden dabei nicht von allen Menschen
verstanden.
Petrarca lässt sich auf die Landschaft ein. Aber er tritt
auch in den Dialog mit seinem ständigen Begleiter:
Augustinus und dessen «Bekenntnissen». Böse Zungen könnten
ergänzen: Und er weiss das bestens zu inszenieren. Es kommt
zu einem Moment des Erkennens, ja man könnte sagen: des
Ertappt-Werdens. Petrarca wird unvermittelt auf sich selbst
zurückverwiesen. Die Szene erinnert an ein Phänomen, das wir
aus dem Alltag kennen. Man befasst sich intensiv mit einem
Thema und staunt dann, wenn man just zu diesem eine
Zeitungsmeldung, ein Buch im Schaufenster, einen Menschen
antrifft, die damit zu tun haben. Die Symbolisten des 19.
Jahrhunderts nannten dies «correspondances». Der Grund für
diese «Entsprechungen» liegt wohl darin, dass wir besonders
empfänglich sind, mit der Umwelt in einen Dialog treten.
Petrarca lässt die Augustinus-Stelle auf sich wirken. Er
lässt sich auf sie ein. Wir Freimaurer stellen derlei bei
unseren Tempelarbeiten fest. Öffnen wir uns den Ritualen und
Symbolen, kann es zu Aha-Erlebnissen kommen, zu
Denkanstössen, neuen Blickwinkeln, Betroffenheit. Das ist
aber nur möglich, wenn wir zu den Ritualen und Symbolen in
einen Dialog treten. Sind wir in uns selbst befangen, kann
dieser Dialog nicht stattfinden. Entsprechend geht es im
Ritual darum, den «Lärm des Tages» hinter sich zu lassen.Und
hier sind wir beim dritten Punkt, der Dialektik der beiden
Grade des Lehrlings und des Gesellen. Der erste Grad ist
stark vom Selbstbezug geprägt, von der intensiven
Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln und
davon abgeleitet von der Arbeit am rauen Stein. Der Blick
ist nach innen gerichtet. Der zweite Grad weist in die
umgekehrte Richtung, nach aussen. Die Introversion des
Lehrlings und die Extroversion des Gesellen stehen in engem
Verhältnis. Dem einen Bruder liegt vielleicht der Bezug nach
innen mehr als jener nach aussen oder umgekehrt. Wichtig
ist, dass man seine Persönlichkeit gerade dort stärkt, wo
sie noch schwach ist. Die Versuchung, Stärken noch zu
fördern und Schwächen zu vernachlässigen, ist gross. Dass
wir ein Leben lang Lehrlinge bleiben, bedeutet nicht
zuletzt, die Introversion nie zu vernachlässigen. Was zählt,
ist die Balance. Nur sie ermöglicht es, dem maurerischen
Menschenbild gerecht zu werden.