Dossier

Der Archetyp des Aufbruchs

Was haben das Gilgamesh-Opus und Harry Potter, Homers «Odyssee» und Kinoschlager wie «Star Wars» gemeinsam? Sie weisen dasselbe archetypische Muster auf. In diesem Fall ist es die Heldengeschichte, die einer bestimmten Dramaturgie folgt. Der Aufbruch spielt dabei eine zentrale Rolle.

Thomas Müller

C. G. Jung wandte als erster den Begriff des Archetyps auf die Literatur an. Er hatte erkannt, dass es in allen Geschichten und Mythologien universelle Muster gibt, ungeachtet der Kultur oder der geschichtlichen Epoche. Seine These besagt, dass unser Geist einen allen Menschen gemeinsamen und damit «kollektiven » unbewussten Teil enthält. Er vergleicht den Archetyp mit einer Art universellem, ursprünglichem Gedächtnis.

Es kann darum gehen, Wissen zu erlangen, um Busse oder die Suche nach dem heiligen Gral.

Der Begriff «Archetyp» bedeutet «Urform». Diese «Urformen » sind nicht konkret fassbar, und sie sind unbewusst. Zudem sind sie stark emotional besetzt und können damit eine bestimmte Dynamik entwickeln. Sie finden unterschiedlichsten Ausdruck. Umgangssprachlich werden diese Ausdrucksformen ebenfalls als Archetypen bezeichnet. Ein Beispiel sind die Sonne und ihr Licht, die auch für uns Freimaurer zentrale Bedeutung haben. Nach Jung begegnen Archetypen u. a. in Träumen, künstlerischen Werken und Märchen. Auch Urerfahrungen wie Geburt und Tod oder Männlich und Weiblich gehören in diesen Zusammenhang. Eine letztgültige Definition und eine Beschränkung auf eine bestimmte Anzahl versagte sich Jung. Die Reise ist ein archetypischer Vorgang. Es kann um die Suche nach der eigenen Identität gehen, um den Weg zum versprochenen Land oder um Rache. Der Krieger macht sich auf, um sein Volk zu retten. Der Mann sucht seine Liebe, häufig um die Prinzessin oder die Dame seines Herzens zu befreien. Es kann darum gehen, Wissen zu erlangen, um Busse oder die Suche nach dem heiligen Gral.

Auf seinem Weg kann der Reisende unterschiedlichen archetypischen Gestalten begegnen. Beispiele sind der Herold, der neue Elemente ins Spiel bringt und so den Helden zum Handeln veranlasst, oder der helfende Mentor. Des weiteren gibt es den Schelm, der Witz und Humor in die Geschichte bringt, den Torwächter, den sogenannten «Formwandler», der immer neue Identitäten annimmt, oder den Widersacher des Helden, den «Schatten». Diese Figuren sind Teile einer elementaren Dramaturgie.

In dieser Dramaturgie macht sich der Held auf ins Ungewisse. Franz Kafka hat das in seiner Parabel «Der Aufbruch » zum Ausdruck gebracht. Der Text lautet wie folgt:

«Ich befahl, mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: ‹Wohin reitet ihr, Herr?› ‹Ich weiss es nicht›, sagte ich, ‹nur weg von hier, immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.› ‹Du kennst also dein Ziel›, fragte er. Ja, antwortete ich, ich sagte es doch, ‹Weg von hier – das ist mein Ziel.› ‹Du hast keinen Essensvorrat mit›, sagte er. ‹Ich brauche keinen›, sagte ich, ‹die Reise ist so lang, dass ich verhungern muss, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Essensvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.›»

Vom Aufruf zur göttlichen Hilfe

In einer Form begegnet der Archetyp der Reise besonders deutlich: in der Heldenfahrt, dem sogenannten «Quest». Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell (1904–1987) untersuchte unterschiedlichste Formen des «Quest» und prägte in seiner 1949 erschienenen Untersuchung «The Heroe with a Thousand Faces» ein bis heute gängiges Modell der Heldengeschichte. In Anlehnung an den irischen Schriftsteller James Joyce (1882–1941) und dessen Werk «Finnegans Wake» verwendete er den Begriff «monomyth», deutsch «Monomythos». Campbell gliedert die Heldengeschichte in drei Phasen mit insgesamt 17 Schritten: den Aufbruch, die Initiation und die Rückkehr. Ob es sich um Osiris, Prometheus oder Jesus handelt – ihre Wege folgen im grossen Ganzen diesem Schema. Allerdings darf man nicht erwarten, dass all diese Plots bis ins Detail mit ihm übereinstimmen. So enthalten gewisse Handlungen viele der einzelnen Schritte, während andere nur wenige aufweisen. Der Fokus kann auf eine einzige Phase beschränkt sein, oder die Geschichten haben eine andere Abfolge.

Im ersten Schritt erfolgt der Aufruf zur Heldenfahrt, der aus der Alltagswelt ins Ungewisse weist. Campbell schreibt dazu: «… ein Wald; ein Königreich unter der Erde, zwischen den Wellen, im Himmel; eine geheime Insel, ein Berggipfel, ein geträumter Staat – stets geht es um einen

«Allerdings weicht die Gefahr für den, der Befähigung und Mut beweist.»

fremdartigen, vielgestaltigen Ort (…). Eine Erscheinung (…) lockt von den gewohnten Pfaden weg.» Bei Homer wird Odysseus von Agamemnon aufgefordert, sich dem Kampf um Troja anzuschliessen.

Als zweiter Schritt folgt die Verweigerung. Das kann an Verpflichtungen liegen, an Furcht, Unentschiedenheit, am Eindruck, das Neue sei nicht angemessen – oder an einer ganzen Zahl weiterer Gründe, in den bestehenden Verhältnissen zu verharren. In Campbells Worten: «Das Verweigern der Aufforderung verkehrt das Abenteuer ins Negative. In Langeweile, Arbeit oder ‹Kultur› befangen, verliert das Subjekt die Kraft, eine Veränderung zu bejahen.» Odysseus lehnt Agamemnons Aufforderung ab. Gründe könnten die Geburt seines Sohns Telemachos oder die erst kurze Zeit der Regentschaft sein.

Nach dem Aufruf und dessen Verweigerung stellt sich eine übernatürliche Hilfe ein. Hat sich der Held bewusst oder unbewusst zur Reise entschlossen, betritt sein Führer oder magischer Helfer die Bühne. Häufig gibt ihm dieser übernatürliche Mentor ein Geschenk im Form eines Talismans oder Gegenstands, die ihm später auf seiner Reise von Nutzen sein werden. Campbell führt aus: «Man muss nur wissen und darauf vertrauen, und der alterslose Wächter erscheint. Hat er sich dem Aufruf verpflichtet und setzt seine Reise mutig fort, so findet der Held alle Kräfte des Unbewussten auf seiner Seite. Ja, Mutter Natur selbst unterstützt seine enorme Aufgabe.» Nachdem Odysseus sieben Jahre lang von der Nymphe Kalypso festgehalten worden ist, setzt sich neben Hermes die Göttin Athene für ihn ein. Ihr strategisches Geschick verbindet sich mit der Cleverness ihres Schützlings.

In den Bauch des Wals

Als vierten Schritt enthält Campbells Modell das «Durchschreiten des ersten Tors». Der Held lässt die Grenzen des Gewohnten hinter sich und begibt sich in gefährliche Gefilde, deren Ausmasse und Gesetze er nicht kennt. Campbell: «Die Mächte, welche die Grenze bewachen, sind bedrohlich. (…) Allerdings weicht die Gefahr für den, der Befähigung und Mut beweist.» Odysseus wird im Zuge seiner Rückkehr mit immer neuen, schier unlösbaren Aufgaben konfrontiert.Als letzter Schritt führt die Trennung von der gewohnten Welt dazu, dass die Person eine Metamorphose erlebt. Das geschieht beispielsweise bei Jonas, der in den Bauch des Wals gerät. «Der Held», so Campbell, «wird vom Unbekannten ‹verschluckt› und scheint zu sterben. Es geht um (…) die Erkenntnis, dass der Schritt ins Unbekannte eine Form der Selbstvernichtung darstellt. Anstatt nach aussen (…) wendet sich der Held nach innen, um neu geboren zu werden.» Odysseus durchläuft auf seiner Reise einen Prozess der Reifung. Der Mann, der am Ende in Ithaka ankommt, ist nicht mehr jener, der zwanzig Jahre zuvor aufgebrochen ist. Dieses Prinzip des «Stirb und werde», der Prozess der Individuation sind uns als wichtiges Element des maurerischen Weges vertraut. Der Boden ist für die Initiation bereitet.