Dossier
Menschsein verpflichtet
Wir Freimaurer setzen uns zum Ziel, am Tempel der Humanität mitzubauen. Das äussern
wir in jeder Tempelarbeit. Doch was bedeutet das Wort "Humanität" überhaupt? Wie
lässt es sich historisch und philosophisch herleiten, und hat es rechtliche Relevanz?
Viele Religionen kennen den Aufruf zur Humanität.
Bei den Juden begegnet der Gedanke einer universalen
Menschenliebe seit dem babylonischen
Exil. Bereits in der Frühzeit des Islam ist davon die Rede,
dass der Herrscher die Erträge aus dem wertvollsten Stück
Land u. a. den Armen, Sklaven, Reisenden und Gästen zu
geben hat. Zum festen Kanon des Christentums gehört die
Nächstenliebe.
Die Norm der Menschlichkeit
In unserem Sprachgebrauch verstehen wir Menschlichkeit
und Unmenschlichkeit als fundamentalen Gegensatz. Aus
ihm wird eine bestimmte Haltung abgeleitet. Der Philosoph
Johann Gottfried Herder (1744–1803), der sich massgeblich
an der Reform der Freimaurerrituale beteiligte,
äusserte sich unmissverständlich: Dem Einzelnen sei die
Menschlichkeit nur teilweise angeboren. Sie müsse erst im
Lauf des Lebens ausgebildet werden – «ein Werk, das unablässig
fortgesetzt werden muss, oder wir sinken (…) zur
rohen Tierheit, zur Brutalität zurück».
1948 kam es in der Generalversammlung der Vereinten Nationen
zur Erklärung der Menschenrechte. Manche Staaten
wollten sich nicht zu ihnen verpflichten, so die Sowjetunion,
Saudi-Arabien und Südafrika. Das Werk ist mit
über 460 Sprachen einer der meistübersetzten Texte der
Menschheit. Die dreissig Artikel haben zum Ziel, «Freiheit,
Gerechtigkeit und Frieden in der Welt» anzustreben, ausgehend
von «Würde und Wert der menschlichen Person
und der Gleichberechtigung von Mann und Frau». Der
10. Dezember mahnt als Jahrestag der Menschenrechte
an dieses Bestreben. Mehrere länderübergreifende Institutionen
sollen diesen Rechten Nachdruck verschaffen: der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und letztlich
auch der Internationale Strafgerichtshof z. B. für die
Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien.
Allerdings sind diese Instanzen völkerrechtlich
nicht verbindlich.
«Von der Würde des
Menschen»
Bereits Cicero leitete aus dem Menschsein
die Verpflichtung ab, es als eigenständigen
Wert anzuerkennen und das
Individuum entsprechend zu bilden.
In der Renaissance kam man von der
mittelalterlichen Orientierung auf das
Transzendente ab und wandte sich dem
diesseitigen Menschen zu. Das zeigte
sich nicht zuletzt in der Kunst, wo der
Einzelne als darstellungswürdig galt
und individuelle Züge erkennbar wurden.
Der Italiener Pico della Mirandola
(1463–1494) gab einem Schlüsselwerk
der Epoche den Titel «Von der Würde
des Menschen».
Von dieser enormen Aufwertung des
Menschen ist es kein weiter Weg zur
Überzeugung, es sei dem Individuum
die Möglichkeit zu geben, sich auch
wirtschaftlich zu entwickeln. Das zeigt
sich in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
von 1776, an der
Freimaurer massgeblich beteiligt waren.
Explizit ist von dem «Streben nach
Glückseligkeit» die Rede, das jedem
zustehe. Das liberale Denken begegnet
hier in Reinkultur. Ein typisches Beispiel
für dieses aufklärerische Denken
ist der Hamburger Freimaurer, Philanthrop
und Wissenschaftler Johann Georg Büsch (1723–1800). Von Beruf
Mathematiker und Ökonom, war er
Mitbegründer einer Handelsakademie,
die er zeitweise in seinem Haus beherbergte.
Interessant ist, dass Büsch nicht
nur die Entfaltung des Individuums
anstrebte, sondern auch die Hilfe an
jene, denen diese nicht vergönnt ist. So
gründete er eine Krankenkasse und ein
medizinisches Zentrum für Bedürftige.
Der deutsche Schriftsteller Johann
Heinrich Campe (1746–1818) formulierte
seine Sicht der Kindererziehung
wie folgt: «Die Natur muss die Regel
und Philanthropie die Triebfeder aller
Erziehung sein.» Auch er war Freimaurer.
Doch seine karitativen Ideen
wurden in der Hamburger Loge «Absalom
zu den drei Nesseln» seiner Meinung
nach zu wenig unterstützt, und
so trat er wieder aus.
Sind Philanthropen
gefährlich?
iese doppelte Ausrichtung – Möglichkeit
der (nicht nur) ökonomischen
Entfaltung des Individuums und Hilfe
an die Bedürftigen – musste zu Konflikten mit Staat und Kirche führen. In einem Dokument der
K.-u.K.-Monarchie zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist von
«geheimen philanthropischen Gesellschaften» die Rede.
Deren Ziel sei es, «die Grundfesten der christlichen Religion
und der monarchischen Verfassung zu erschüttern.»
Interessant ist, dass die Fonjallaz-Initiative von 1934 nicht
nur die Freimaurer ins Visier nahm, sondern auch andere
humanistisch-humanitär ausgerichtete Organisationen.
Zu diesen gehörte die 1843 gegründete Schweizerische
Philanthropische Gesellschaft Union. Als humanitäre Organisation
ist auch die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft
SGG von 1810 zu nennen. Hinzu kommen die
Shriners aus dem Jahr 1871, die kürzlich mit der SGLA
eine gegenseitige Anerkennung beschlossen haben («Alpina
» 1/2016).
Heute gehört das humanitäre Handeln zum Leitbild von
Weltkonzernen. Die Novartis führt ihr «gemeinnütziges
Engagement» in den Bereichen «Sponsoring & Donations
», «Engagement im Rahmen der humanitären
Nothilfe» und «Förderung sozialer Anliegen» an. Und es
begegnen auch neue Bereiche, auf welche die Menschenrechte
ausgeweitet werden. Ein Beispiel ist die Ökologie.
Es gehe bei den Menschenrechten nicht nur um soziale
und ökonomische Gegebenheiten. Vielmehr gelte es auch
«ein stabiles Globalklima» anzustreben, das dem Einzelnen
zugute komme, oder jedem Menschen ein Recht auf
Wasser zuzugestehen. T. M.