Alpina 3/2004
«Freimaurerei als Lebensschule» heisst das Thema der März-Nummer unserer
Zeitschrift. Ein Thema, über das es sich lohnt, nachzudenken. Die Tatsache,
dass Freimaurertum auf den einzelnen gerichtet ist, mag hie und da den
Verdacht aufkommen lassen, bei diesen Menschen handle es sich um extreme
Individualisten oder introvertierte und egozentrische Typen. Das trifft
jedoch nicht zu. Der Geist der Freimaurerei verlangt von jedem, dass er sich
als historischen Menschen versteht, der Werden, Wesen und Wandel
menschlicher Institutionen erkennt und als Bürger in der sozialen Umwelt
seiner Zeit ein aktives, tätiges Glied der Gesellschaft ist. Es wird
verlangt, dass er ein Einzelkämpfer für das Gute, Wahre und Schöne ist. Es
ist dem einzelnen überlassen, welchen Zeitproblemen er sich stellt, welche
er für vordringlich erachtet.Tausende von Schöpfergestalten sind Freimaurer geworden oder haben der
freimaurerischen Idee nahe gestanden. Sie hinterliessen Staatsgründungen und
Staatsverfassungen, sie formulierten die Menschenrechte und begründeten die
Humanisierung der Arbeitswelt. Sie kämpften für die Freiheit und den Frieden
und gaben in Kunst und Wissenschaft dem Sittengesetz Ausdruck. Sie schufen
vorbildliche soziale Einrichtungen und legten den Keim für den
Zusammenschluss Europas. Kurz, sie arbeiteten für die Menschheit. Was sie
schufen, erreichten sie als einzelne. Die Loge war für sie die Stätte der
Besinnung, des gedanklichen Dialogs mit den brüderlich verbundenen Freunden.
In unserer Zeit ist eine solche Stätte der Besinnung und Begegnung nötig.
Mehr Menschen als früher beginnen wieder nach dem Sinn des Lebens zu fragen.
Eine Antwort – sicher eine unter vielen – gibt die Freimaurerei. Schon Horaz
sagte: «Lebensglück setzt Lebenskunst voraus». Die freimaurerische
Philosophie des Menschlichen ist eine solche Kunst, eine königliche Kunst,
die Lebensglück begründen kann.
So gesehen ist die Freimaurerei eine Lebensschule, eine Lebenshilfe.
Gotthold Ephraim Lessing, dessen 275. Geburtstag wir am 22. Januar feierten,
war der gleichen Ansicht. Er hat deutlich gemacht, dass Freimaurerei aktives
Handeln voraussetzt und nicht nur passives Konsumieren.
Alfred Messerli |