Alpina 4/2006
Die Freimaurerei ist mit der Aufklärung eng verbunden, ja man kann sagen,
dass sie ein Kind der Aufklärung ist. Deshalb hatte sie auch einen Höhepunkt
im «Jahrhundert des Lichts». Auch in ihrer heutigen Form ist die
Freimaurerei nach wie vor im 18. Jahrhundert verwurzelt. Die Frage stellt
sich, ob sie heute überhaupt noch aktuell und nicht zu stark in der
Vergangenheit verhaftet ist. Man muss sich fragen, ob sich der Mensch des
21. Jahrhunderts von ihr überhaupt noch angesprochen fühlt. Die Antwort kann
nur lauten: Mehr denn je!Denn der Mensch hat jenen Punkt erreicht, wo seine Existenz als Gattung
unmittelbar bedroht ist. Seine infantile Seelenverfassung – das ist ein
Gemeinplatz schmerzlicher Erfahrung – ist den apokalyptischen Möglichkeiten
der von ihm geschaffenen technischen Errungenschaften bei weitem nicht
gewachsen. Das Bild von den zündelnden Kindern drängt sich auf, deren Vater
– sprich Gott – das Haus verlassen hat. Eine deistische Prämisse, die das
Weltverständnis der Freimaurerei des 18. Jahrhundert geprägt hat und für den
gottverlassenen heutigen Menschen erneute Aktualität gewinnt. In meiner
Jugendzeit haben wir gelernt: «Der Mensch ist ein Produkt seiner Umgebung».
Deshalb müsse, getreu nach Marx, zuerst die Gesellschaft verändert werden.
Dann werde sich der Mensch von selbst ändern. In der Freimaurerei habe ich
dann erfahren, dass die Veränderung des Menschen – ein edles, notwendiges
Ziel – zuerst bei sich selbst beginnen muss. Wir stellen die Freimaurerische
These: «Erst muss der Mensch geändert werden, dann wird sich auch die
Gesellschaft ändern», der marxistischen Philosophie entgegen. «Wir bauen am
Tempel der Humanität». Eine schöne und lobenswerte Maxime – auch wenn sie in
ihrer alttestamentarischen Bildhaftigkeit etwas antiquiriert anmutet – die
auch heute von unveränderter Aktualität ist. Dem materialistischen
Weltverständnis, wonach das Sein das Bewusstsein prägt, setzt die
Freimaurerei den spiritualistischen Standpunkt entgegen, dass es vielmehr
das Bewusstsein sei, welches das Sein bestimme. Und eben dieses Bewusstsein
will die Freimaurerei verändern, wenn nicht veredeln. Freimaurerisches
Denken mit seinen Maximen von Gedanken- und Gewissensfreiheit, von Toleranz
und Brüderlichkeit – Schlagworte der Aufklärung und auch der Französischen
Revolution fallen spontan dazu ein – konfrontiert den Menschen
unmissverständlich mit dem Rauen Stein einer ungeschliffenen Welt, die um
und in ihm ist, und die es zu behauen und zu glätten gilt. Hier kommt der
Maurer ins Spiel mit der sprichwörtlich gewordenen Metapher seines
Grundanliegens: «Der Freimaurer arbeitet am Rauen Stein».
Alfred Messerli |