Alpina 3/2007
Gelebte Freimaurerei – das Thema der März-Nummer der «Alpina». Was soll
man darunter verstehen? Die Tatsache, dass Freimaurertum auf den einzelnen
gerichtet ist, mag hie und da den Verdacht aufkommen lassen, bei diesen
Menschen handle es sich um extreme Individualisten oder introvertierte und
egozentrische Menschen. Das trifft keineswegs zu. Es wäre auch falsch, sich
die Freimaurerei in einem Elfenbeinturm vorzustellen, in dem die Maurer ihre
Rituale pflegen und sich um das, was um sie herum passiert, nicht
interessieren. Richtige Freimaurerei ist das pure Gegenteil des Abkapselns.
Der Freimaurer lebt in der heutigen Gesellschaft. Und Freimaurerei richtig
verstanden heisst, sie nicht nur in der Loge, sondern auch ausserhalb zu
leben. Man soll spüren, dass einer Mitglied der Freimaurer ist, in der
Familie, am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft.Der Geist der Freimaurerei verlangt von jedem, dass er sich als historischen
Menschen versteht, der Werden, Wesen und Wandel menschlicher Institutionen
erkennt und als Bürger in der sozialen Umwelt seiner Zeit ein aktives,
tätiges Glied der Gesellschaft ist. Es wird verlangt, dass er ein
Einzelkämpfer für das Gute, Wahre und Schöne ist. Es ist dem Einzelnen
überlassen, welche Probleme er vordringlich erachtet und welchen er sich
annehmen will. Das gilt auch für die Politik. Wer sich in der Politik
betätigen will – leider sind es nicht mehr sehr viele – macht die Politik,
die seiner Überzeugung nach die richtige ist. Die Freimaurerei macht in
dieser Hinsicht keinerlei Vorschriften. So wenig sie Beschlüsse fassen darf,
die den einzelnen binden würden. Tausende von Schöpfergestalten sind
Freimaurer gewesen oder haben dem freimaurerischen Gedankengut nahe
gestanden. Sie hinterliessen Staatsgründungen und Staatsverfassungen, sie
formulierten die Menschenrechte und begründeten die Humanisierung der
Arbeitswelt. Sie kämpften für die Freiheit und den Frieden und gaben in
Kunst und Wissenschaft dem Sittengesetz Ausdruck. Sie schufen vorbildliche
soziale Einrichtungen und legten den Keim für den Zusammenschluss Europas.
Kurz, sie arbeiteten für die Menschheit.
Was sie schufen, erreichten sie als einzelne. Die Loge war für sie die
Stätte der Besinnung, des gedanklichen Dialogs mit den brüderlich
verbundenen Freunden. Eine solche Stätte der Besinnung und Begegnung ist
auch heute – oder vielleicht gerade in der heutigen Zeit – besonders
wichtig. Mehr Menschen als früher beginnen wieder nach dem Sinn des Lebens
zu fragen. Eine Antwort – unter vielen – gibt sicher die Freimaurerei. Von
Horaz stammt das schöne Wort: «Lebensglück setzt Lebenskunst voraus». Die
freimaurerische Philosophie des Menschlichen ist eine solche Kunst, eine
königliche Kunst, die Kunst, die Lebensglück begründen kann.
Ich schliesse mit den Worten des Meisters vom Stuhl, wenn die Lichter
gelöscht sind: «Meine lieben Brüder. So gehet hin in Frieden und zeiget im
Gewühle des Lebens die Tugenden, die ihr hier bekanntet!»
Alfred Messerli |