Mein Bruder - mein Freund
(Alpina 10/2008)

Wer über den Begriff der «Brüderlichkeit» nachdenkt, kommt wohl zuerst – und dies ist nicht weiter verwunderlich – auf den Begriff «Bruder» im Sinne eines uns familiär und somit schicksalhaft und unabänderbar verbundenen Menschen. Eng verwandt damit ist der Ausdruck «Bruderschaft» als ein durch Gelübdegemeinschaft verbundener Kreis von Menschen. Und es ist durchaus möglich, dass der gedankliche Ausflug schliesslich bei den Kampfparolen der bürgerlichen Revolution endet («und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein»).

Ist «Brüderlichkeit» wirklich diese unumstössliche, ultimative Bindung, derer wir uns nur entledigen können, wenn wir fast existenzielle Lossagungen vornehmen? Oder ist es Liebe – oder Solidarität – oder vielleicht doch eher eine ethische Tugend, die zu Friedfertigkeit, zu Toleranz, zu Versöhnung mit dem Feind und zu Hilfsbereitschaft führt? In diesem Sinne könnte sie verwandt sein mit dem Begriff der Verbundenheit. Der Gedanke der Brüderlichkeit floss auch in die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ein. Er wird im zweiten Artikel erwähnt, wo es heisst:

«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen sich zueinander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen».

In dieser Brüderlichkeit – aber auch in der Freundschaft – schwingt jedoch ein erhebliches Mass an Verpflichtung mit. Wie das Titelbild zeigt, sind Freunde stets durch ein Band des Haltes und der Sicherheit aber auch der Verpflichtung miteinander verbunden. Bedingungslos. Denn das Wandern auf dem schmalen Grat (der gleichzeitig auch die schönste und spektakulärste Aussicht bietet) funktioniert nur, wenn sich jeder der beiden auf den anderen verlassen kann und auf ihn zählen kann – bedingungslos. Der Psychologe Herb Goldberg sagt, Freundschaft verlaufe in drei Phasen: zuerst die Nutzfreundschaft, wo der egoistische Nettonutzen im Vordergrund stehe, dann zweitens die Zweckfreundschaft, wo der Nettonutzen gemeinsamer und gegenseitiger Natur sei und zum letzten, die Freundschaft, wo es nicht mehr wichtig sei, ob die Menschen selbst Gewinner oder Verlierer seien. Georg Simmel beschreibt in «Soziologie der Freundschaft» die Freundschaft als differenzierte Beziehung. Im Gegensatz zu Aristoteles sieht er Freundschaft als graduelles Phänomen. Freundschaft fängt für ihn in dem Moment an, in dem sich zwei Menschen kennen lernen. Sie wissen also um ihre gegenseitige Existenz. Von dieser Basis aus können die Menschen verschieden weit in die «Sphäre» des anderen eindringen. Auf der einen Seite hängt die Tiefe und der Umfang des Eindringens von dem ab, was man preisgeben will, und auf der anderen Seite ist diese Grenze in der Freundschaft auch bekannt, so dass der andere diese Grenze nicht einfach überschreiten wird. Simmel bezeichnet das, was jenseits dieser Grenze liegt, als «Reserve» - das ist sowohl positiv als auch negativ gemeint: Auf der einen Seite gibt man etwas nicht von sich preis, auf der anderen Seite ist da noch etwas, was man der Freundschaft hinzugeben könnte. – Wo stehst Du?

Adrian Bayard 

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