Vorurteile - wie gehen wir damit um?
(Alpina 12/2009)
Vorurteile begegnen uns überall im Alltag.
Entweder weil wir sie einer Sache
oder Menschen gegenüber haben oder weil
wir von solchen selbst betroffen sind. Ein
«Vorurteil» ist im Ursprung ein Bild oder
Quasi-Wissen, das wir haben, bevor wir
etwas gehörig prüfen – ein praeiudicium,
das auf früheren Erfahrungen beruht, zum
Beispiel in der Kindheit angeeignet wurde
(also vor der Reife resp. Mündigkeit) und
zwischenzeitlich nie abgelegt oder verifiziert
wurde. Es ist scheinbar unumstösslich
und keiner Hinterfragung, keines Beweises
bedürftig. Wenn solche scheinbar ewigen
Wahrheiten (veritates aeternae) mit einer
bahnbrechenden Erfindung oder Beweisführung
doch widerlegt werden, entstehen
Leerräume. Solche Leerräume sind für das
Individuum existenziell und dürfen nicht
lange bestehen. Der Mensch sucht sofort
nach ausfüllender Wahrheit, selbst wenn es
sich dabei um neue Vorurteile handelt oder
sich als Verdammung gegen den «Vorurteilskiller
» verstärkt. Max Weber schreibt in
diesem Zusammenhang, dass es sich mit
solchen Vorurteilen «gut» leben lässt, weil
sie ein «Gehäuse der Hörigkeit» darstellen,
Sinn stiften, die Gemeinschaft fördern und
schwer zu bekämpfen sind. Gerade der
autoritär gebundene Charakter leidet unter
Ich-Schwäche. Sie berufen sich immerfort
auf das übermächtige Kollektiv. Selbst
wenn darin der Einzelne in der Bedeutungslosigkeit
untergeht, rettet er sein Selbstverständnis
in die Überzeugung, dass er ein
wichtiges Werkzeug, ein unentbehrliches
Rädchen im Werk sei – dies kann im Staat
ebenso wie in einer totalitären, religiösen
Institution sein. In diesem Sinne atemberaubend
ist die 1770 von Paul Thiry d’Holbach
veröffentlichte Schrift «Essai sur les
préjugés» zu verstehen, wenn er schreibt:
«que toutes les opinions religieuses et politiques
des hommes ne sont que des préjugés
». Die Ursprünge und Hauptquellen aller
Irrtümer seien gemäss Christian Thomasius
falsche Meinungen, die entweder aus
Ungeduld selbst erzeugt oder aus Leichtfertigkeit
von anderen übernommen werden.
Diese wiederum gingen zurück auf die
«unvernünfitge Liebe» zu gewissen Menschen
und eine «unvernünftige Selbstliebe»,
weshalb der Verstand korrumpiert würde.
Vorurteile kann man nicht verhindern; man
kann sie höchstens versuchen zu vermeiden.
Jeder von uns läuft Gefahr, in seiner
Sicht geblendet oder verleitet zu werden.
Ein Heilmittel dagegen ist jedoch, sein
Urteil so lange zu suspendieren, bis wir die
inneren Gründe der Wahrheit tiefer und
deutlicher durchschaut haben. Ist es nicht
das, was wir unter Behauen des rauhen
Steines verstehen?
Adrian Bayard
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