Neue Medien und neue Umgangsformen
(Alpina 11/2012)

Mein lieber Bruder, wie geht es Dir? Warst Du heute schon an der frischen Luft? Warst Du spazieren? Hast Du Dich heute schon aufgeregt? Ich hoffe, Dein Wohlbefinden befindet sich im grünen Bereich. Warum mich das interessiert? Weil Du es messen kannst: jeden Schritt, jeden Pulsschlag, jede Stressreaktion, jedes Gramm Gewichtszunahme – die neuen Medien machen es möglich. «Self tracking» nennt sich dieses Phänomen, wo der Mensch heute mittels Iphone- App alles mögliche messen und auswerten kann. Diese technischen Möglichkeiten verändern im Gegenzug auch unser Verhalten. Ist es nicht toll zu wissen, wie viele Schritte wir marschiert sind heute und wie viele Kalorien wir verbraucht haben? Das nächste Bier haben wir uns also nach den tollen Werten von heute redlich verdient – weil wir es uns wert sind. Dadurch, dass wir umgeben sind von technischen Möglichkeiten, werden wir immer mehr technologiegläubig: eine irrtümlich zugestellte Warensendung mit einer falschen Rechnung ist längst nicht mehr ein menschlicher Fehler; es ist das System. Wenn ich als Frau Adrian Bayard angeschrieben werde, bringe ich diesen Irrtum kaum mehr aus dem System. Dem gegenüber werde ich in jedem Schritt, den ich mache, in jedem Klick, den ich vornehme, in jeder Zahlung, die ich tätige, erfasst, registriert und ausgewertet. Mein Gegenüber im unfassbaren, weiten, virtuellen Raum weiss mehr über mich als ich selber. Alles wird gemessen und gespeichert. Die Zahl gewinnt. Ferner vermischt sich der virtuelle Raum immer mehr mit der Realität: Pokerspiele im Internet führen zu realenGewinnen oder Verlusten. Online-Bekanntschaften führen zu Pärchen, und Verunglimpfungen (beispielsweise auf Facebook) führen zu Selbstmorden. Wer kennt nicht den jüngsten Fall der AmandaTodd?Jenes15-jährigeMädchen,das jahrelang im Internet gehänselt wurde und sich schliesslich–mit Videobotschaft–am10. Oktober das Leben nahm. Noch schlimmer als diese Tatsache ist für mich der Umstand, dass hunderttausende diesen Hilfeschrei gesehen haben, und keiner hat gehandelt. Genau hier sind wir gefragt! Wir können diese Entwicklung nicht aufhalten, aber punktuell lindern. Inzwischen haben sich 2.7 Millionen Menschen das Video auf youtube.com angesehen– Voyerismusmultimedial, will heissen: mittendrin, und doch aussen vor.

Adrian Bayard 

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