Der Pate
(Alpina 2/2015)
Die Funktion des Paten wird unterschätzt. Wenn
wir ein neues Glied in die Bruderkette aufnehmen,
geht es zwar auch um administrative Belange. Der
Pate stellt ein Programm zusammen, im Wesentlichen
mit den Instruktionen, und legt absehbare Termine
fest, so die Beförderung und die Erhebung. Seine
Rolle geht allerdings darüber hinaus, eine Agenda
für die Initiation zu verwalten.
Mit Sicherheit gleicht die Patenschaft keinem
langen, ruhigen Fluss. Mannigfache Klippen erwarten
jenen Paten, der den Anforderungen seiner Funktion
und den (mitunter unbewussten) Erwartungen des
Patensohns keine Aufmerksamkeit schenkt. Dabei geht
es freilich nicht darum, als "geistiges Vorbild"
oder gar als "Guru" aufzutreten. Die Patenschaft
besteht nicht einfach in einer Einbahn-Vermittlung
von Wissen vom dogmatischen Paten zum gelehrsamen
Empfänger letzter Wahrheiten. Ganz im Gegenteil geht
es darum, einen fruchtbaren Austausch zwischen zwei
offenen Herzen und zwei freien Geistern zu
ermöglichen. "Frei": Das ist der entscheidende
Punkt.
Mit der Freimaurerei verbunden ist ein Lernen,
das in der gemeinsamen Suche nach Antworten besteht.
Diese ist nicht immer einfach. Und es geht um die
Kunst, gute Fragen zu stellen. Vom Paten wird also
verlangt, dass er dem Patensohn die Mittel an die
Hand gibt, sich ohne Furcht auf den Goldenen Pfad zu
begeben. Wenn die Unterweisung fruchten soll, gilt
es stets Gedanken und Taten auf das Dreieck von "gut
denken, gut sagen, gut machen" auszurichten. Es ist
am Paten, angesichts dieser anspruchsvollen Aufgabe
mit gutem Beispiel voranzugehen. Die Aufgabe ist
aber auch äusserst dankbar. Er kann die Fortschritte
seines Patensohns mitverfolgen, und das immer unter
dem Leitspruch von André Gide: "Glaubt jenen, welche
die Wahrheit suchen, und zweifelt jene an, die sie
gefunden haben."
Pierre-Alexandre Joye (Übersetzung T. M.)
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