Tempel und profanes Leben
(Alpina 4/2015)
Zwischen dem Tempel und der profanen
Welt gibt es mitunter grosse Dissonanzen.
Das ist schmerzhaft. Jeder Bruder hat
bei der einen oder anderen Gelegenheit
zu spüren bekommen, wie schwierig
es sein kann, den unterschiedlichen
Anforderungen gerecht zu werden. Da
sind die familiären, beruflichen und
gesellschaftlichen einerseits – und die
freimaurerischen andererseits. Sei es aus
Zeitmangel, sei es aus Bequemlichkeit:
Gross ist die Zahl jener, die bei ihrer
Aufnahme versprachen, der Loge nur
aus schwerwiegenden Gründen fern zu
bleiben, und das dennoch tun.
Seit langer Zeit beklagen sich die
Logen über die immer zahlreicheren
Abwesenheiten ihrer Mitglieder. Doch
der Druck in einer auf Leistung und
Profit ausgerichteten profanen Welt
nimmt immer noch zu. Und damit
verschärft sich das Problem. Um hier
Abhilfe zu schaffen, kann man sich etwas
in Erinnerung rufen: Die königliche
Kunst lehrt, die zwei unterschiedlichen,
ja antagonistischen Welten in ein
Gleichgewicht zu bringen.
In der Tat: Man muss sich dafür
einsetzen, dass das Anbahnen von
Geschäften oder das Organisieren von
Seilschaften aus den Logen verbannt
werden. Zugleich ist festzustellen, dass
z. B. das Dreieck «gut denken, gut
sagen, gut machen» sich ausserhalb des
Tempels am besten entfalten kann. Hier
wird vom Freimaurer gefordert, dass
er den Tatbeweis dessen erbringt, was
er im Licht von Zirkel und Winkelmass
gelernt hat. Das reichhaltige Dossier von
Thomas Müller, Jacques Tornay und
Daniele Bui bringt etwas zur Geltung: Im
Durchbrechen von Blockaden und in der
Meisterung von Konflikten, gepaart mit
einem dialektischen Denkansatz, kann
der wahre Bruder zeigen, was er ist: ein
lichtsuchendes Wesen, stark in seiner
moralischen Haltung und engagiert für
das Allgemeinwohl.
Pierre-Alexandre Joye (Übersetzung T. M.)
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