Und was es mit dem Ritual auf sich hat
Gewöhnlich erzählen wir Freimaurer nicht gern vom Ritual, in das unsere regelmäßigen Treffen eingebettet sind. Man muss es nämlich mitgemacht haben, um sein Wesen zu verstehen. Es ist wie bei der Musik: Ein Notenblatt zu lesen, heißt noch lange nicht, die Musik in sich klingen zu hören. Das Geheimnis liegt im Erleben. Aber versuchen wir es einmal.
Das Ritual als Entschleunigung des Alltags
Die Mitglieder jeder Loge treffen sich einmal wöchentlich oder vierzehntäglich zum rituellen Miteinander: zu den sogenannten ‚Logenarbeiten’. Den Raum unserer Treffen nennen wir Tempel: ein Wort, das auf das lateinische ‚contemplare’ hinweist, also betrachten oder erwägen oder vertiefen. Das trifft es ganz gut, worum es geht. Am Beginn werden feierlich einige Kerzen entzündet und freimaurerische Symbole wie der Zirkel und das Winkelmaß aufgelegt. Das sind die in der Öffentlichkeit bekanntesten Freimaurerzeichen. Der Zirkel symbolisiert Humanität: In seinen Kreis sollen alle Menschen eingeschlossen sein. Und der rechte Winkel steht für Recht, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Redlichkeit. Diese uralten Symbole werden überall verstanden. Im Gegensatz zu penibel formulierten Normen bieten solche Sinnbilder die Möglichkeit individueller Interpretation und Anpassung an die Veränderungen des Lebens.
Die Logenarbeit dauert eine gute Stunde. Wie jedes Ritual läuft sie nach einem vorgegebenen Muster ab. Bei uns Freimaurern sind es feierlich vorgetragene rituelle Wechselreden zwischen dem Stuhlmeister und anderen Brüdern. Es sind jedes Mal dieselben vorgegebenen Texte. Kulturwissenschaftler nennen das „performatives Sprechen“. In der Wirkung auf die teilnehmenden Brüder ist es eine Art gruppendynamische Übung zur Entschleunigung aus dem hektischen Alltag, um Platz zu schaffen für die persönliche Besinnung. Ein alter und erfahrener Freimaurer nannte das Ritual einmal „Yoga des Abendlandes“.
Man denkt nur mit dem Herzen gut
Auch wenn die Worte, die im freimaurerischen Ritual gesprochen werden, viel an angesammelter Weisheit enthalten, liegt ihre Kraft nicht so sehr im Inhalt, sondern wie bei jedem immer wiederkehrenden Interaktionsritual in der Wiederholung. Viel mehr als den denkenden Kopf sprechen sie das fühlende Herz an. In Abwandlung eines berühmten Satzes von Antoine de Saint-Exupéry könnte man sagen: Man denkt nur mit dem Herzen gut.
In das Ritual eingebaut sind Musikpassagen und ein Vortrag, den jedes Mal ein anderer Bruder hält: als Stoff zum Nachdenken. Danach wird gemeinsam gegessen und über den Vortrag reflektiert. Es geht dabei aber nicht ums Besserwissen, schon gar nicht um die Durchsetzung von persönlichen Meinungen, sondern um das Verstehen des Anderen, um die Erweiterung des Horizonts. Niemand wird wegen seiner Ansicht kritisiert, niemandem wird eine andere aufgenötigt. Die freimaurerische Gesprächskultur ist eine Nicht-Kontroversielle.
Das gemeinsame Ritual ersetzt also den inhaltlichen Gleichklang. Um das sicherzustellen, werden keine Diskussionen über aktuelle politische Streitfragen oder über höchstpersönliche religiöse Überzeugungen geführt. Diese werden nur im kleinen und privaten Kreis außerhalb der rituellen Treffen akzeptiert.
Alle Menschen brauchen Rituale
Rituale erfüllen tiefe menschliche Bedürfnisse. Sie sind gemeinschafts- und persönlichkeitsbildend. Nach einer ritualarmen Zeit als Folge des Ritualmissbrauchs durch die Nazis haben heute viele Menschen den Wert von Ritualen wiederentdeckt. Die Freimaurer hielten immer daran fest.
Die freimaurerischen Rituale sind auf der ganzen Welt ähnlich. Das Ritual der Großloge von Österreich stammt in seinen Grundzügen aus dem späten 19. Jahrhundert. Es ist streng innerweltlich, also ohne transzendentalen Bezug. Es wirkt rein psychisch und steht daher nicht in Konkurrenz zu religiösen Zeremonien, die sich auf etwas Außerirdisches beziehen. Viele Brüder gehören auch konfessionellen Gemeinschaften an.
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