Verborgene Spiritualität im freimaurerischen Ritual
Spiritualität im Ritual
OSKAR RUF (Schweizer Freimaurer-Rundschau: April 2003)
Es war André Malraux, der gesagt hat, entweder sei das 21. Jahrhundert
spirituell oder es werde es gar nicht geben. Spiritualität ist also gefragt.
Oskar Ruf, der immer auf der Seite der Spiritualität stand und sich für mehr
Spiritualität in der Freimaurerei eingesetzt hat, hat diese Arbeit wenige
Monate vor seinem überraschenden Tod am 16. Dezember 2000 verfasst. Wir
veröffentlichen seine Arbeit ungekürzt im Sinne einer Hommage.
Ich stellte schon länger fest, dass im Freimaurer- Bund viele Brüder
nicht wissen, was Spiritualität ist. Viele kennen nur den Gegensatz zwischen
Materialismus und Spiritualismus. Spiritualität ist ein relativ neues Wort,
aber aus dem lateinischen spiritualis abgeleitet. Es meint, dass allem
Materiellen, allem Sichtbaren, etwas Geistiges, Unsichtbares zugrundegelegt
sein muss, und dass dieses Wissen im Bewusstsein auch gelebt wird.
Es bedeutet, dem Prinzip Vielheit der sichtbaren Welt gehe das Prinzip
Einheit voraus. Spirituell ist also jenes Denken, das die Vielheit auf eine
Einheit zurückführt. Materie wird auf Geist zurückgeführt. Das ist ein
schöpferisches Prinzip. Die Vielheit fliesst aus der Einheit. Welt und
Weltall ist eine Emanation aus der ursprünglichen geistigen Einheit. Diese
ist in den Hochreligionen Gott, bei uns Freimaurern der Allmächtige
Baumeister aller Welten. Spiritualität im Denken bedeutet also, die Vielheit
der Erscheinungswelt auf ihre zugrundeliegende Einheit zurückzuführen.
Spiritualität im eigenen persönlichen Sein bedeutet dann, sich selber auf
dem Wege von der unendlichen Vielheit der geschaffenen Welt zurück zur
Einheit zu befinden.
Ich wähle zur Erläuterung dieses Weges entsprechende Hinweise aus dem
Ritual der Freimaurerei aus. Ich greife grundlegende Aussagen auf, welche
die Rahmenbedingungen unseres zeremoniellen Tuns bestimmen.
Dazu noch eine kurze Überlegung zum Thema Symbol. Der Lehrgehalt der
Freimaurerei wird über Symbole vermittelt. Es gibt statische Symbole, zum
Beispiel die drei grossen und die drei kleinen Lichter. Es gibt aber auch
dynamische Symbole, nämlich zeremonielle Abläufe. Symbole vereinigen immer
Vieles in Einem.
Die Zurückführung der Vielheit auf die Einheit
In der Eröffnung der Tempelarbeit heisst es, die Brüder Freimaurer würden
ihre Arbeit Hochmittag beginnen und anlässlich der Schliessung des Rituals
heisst es, die Arbeit würde Hochmitternacht beendet. Wir wissen, dass diese
Zeitangaben symbolische Bezeichnungen sind.
Erster Gedanke: Es heisst nicht einfach, die Arbeit beginne um Mittag und
ende um Mitternacht, es wird das Wort «Hoch» hinzugefügt. Diese Bezeichnung
stammt von der alten Benennung von zwei Koordinaten des Sonnenlaufs, nämlich
vom Namen Solstitium. Gebräuchlicher als für den Tageslauf der Sonne ist der
Ausdruck Solstitium für den höchsten und tiefsten Stand im Jahr, das
Sommersolstitium und das Wintersolstitium. Diese tragen in der Freimaurerei
die Namen Sommer- Johanni und Winter-Johanni (21./22. Juni und 21./22.
Dezember). Das ist jeweils Sommerrespektive Winterbeginn auf der nördlichen
Halbkugel unserer Erde.
Es gibt nun aber nicht nur diese beiden Sonnenlaufwendepunkte im Jahr,
sondern es gibt sie genau so auch am Tag, das Mittagsund das
Mitternachtssolstitium. Die Mittagszeit ist der höchste Stand der Sonne,
darum ist der Ausdruck Hochmittag verständlich. Warum es aber auch
Hochmitternacht heisst, das ja zu diesem Zeitpunkt der tiefste Stand der
Sonne am Tag erreicht ist, das haben wir noch herauszufinden.
Das freimaurerische Ritual wiederspiegelt symbolisch einen Teil des
täglichen Sonnenlaufes
Wir haben nun von dem Befund auszugehen, dass unser Ritual mit der
symbolischen Zeitangabe Mittag und Mitternacht operiert und diesen eine
bestimmte Höhe zubilligt, indem wir sie Hochmittag und Hochmitternacht
nennen. Unsere Versammlungen im Tempel zum Zwecke der Durchführung von
Zeremonien haben für deren symbolischen zeitlichen Rahmen den Abschnitt des
täglichen Sonnenlaufes von Mittag zu Mitternacht gewählt.
Damit ist der Sonnenlauf überhaupt der symbolische Rahmen für den
zeitlichen Ablauf der zeremoniellen Handlung. Diese Feststellung hat
Konsequenzen.
Nun geht es zuerst darum, die Bedeutung des Arbeitsbeginnes um Hochmittag
zu verstehen. Den höchsten Stand der Sonne während ihres täglichen Laufes
ist gewählt. Das hat manchen Bruder auch schon überrascht, weil er dachte,
wir hätten doch besser als symbolische Zeitangabe für unseren rituellen
Arbeitsbeginn den Sonnenaufgang wählen können. Oder man könnte auch
symbolisch um Mitternacht beginnen, um die Arbeit dann um Mittag zu beenden.
An dieser Stelle gilt es noch darauf aufmerksam zu machen, dass zu den
symbolischen Rahmenbedingungen unseres Rituals nicht nur diese Zeitangabe
vom Anfang und vom Ende, sondern auch die Koordinaten des Raumes gehören,
nämlich Osten und Westen und Norden und Süden. Im symbolischen Osten thront
der Meister vom Stuhl, der Leiter der Zeremonien. Diese räumlichen
Koordinaten vereinigen sich mit den zeitlichen insofern, als der Osten der
Ort des Sonnenaufganges, also des Morgens, der Westen der Ort des
Sonnenunterganges, also des Abends darstellt. Entsprechend vergegenwärtigt
der Meister vom Stuhl die wieder neuaufgegangene oder die wieder neugeborene
Sonne.
Und überhaupt: Warum sprechen wir hier von Arbeit und nicht vielmehr von
Feier? Worin besteht denn die Arbeit? Von welcher Arbeit ist hier die Rede?
Ich behaupte nun, der Beginn der rituellen Arbeit am Mittag enthalte
einen wesentlichen Teil der spirituellen Lehre der Freimaurerei. Es gibt
immer wieder Brüder, die sagen und schreiben – auch in der Zeitschrift
Alpina – es gebe die Freimaurerei nicht, es gebe nur den Freimaurer, den
einzelnen Bruder, der dann eben ein wirklicher Freimaurer sei oder auch
nicht. Ich vertrete die Auffassung, dass dies nicht ganz richtig sei. Es
gibt die Freimaurerei als Ideengut. Es gibt die Freimaurerei als ideelle
Gemeinschaft von Männern, die ihre Ideen zu Idealen erhoben haben. Richtig
ist: Es gibt die Freimaurerei nicht, wenn wir damit eine festgeschriebene
Lehre meinen, die als Argument gegen andere Lehren eingesetzt werden könnte.
Genau so richtig aber ist: Es gibt eine freimaurerische Lehre über unsere
Entwicklung. Sie ist im Ritual niedergelegt. Ihr will ich mich jetzt widmen.
Um der Weisheit, die in diesem Zeitablauf von Mittag zu Mitternacht
herrscht, auf die Spur zu kommen, verwende ich jetzt einen Spruch des
griechischen Philosophen Heraklit:
Die Wachen haben eine einzige gemeinsame Welt, im Schlaf wendet sich
jeder der eigenen zu
Wenden wir den Inhalt dieses Spruches auf unsere Sache an. Während des
Tageslaufes der Sonne sind wir wach, also in der gemeinsamen Welt mit allen
anderen Menschen. Beginnt nun die rituelle Arbeit der Freimaurer am
Hochmittag, so beginnt sie in der gemeinsamen Welt, welche wir Freimaurer
die profane Welt nennen, und endet in der eigenen Welt, die für alle
Menschen und in der Regel im Schlaf oder in der Nacht erreichbar ist,
nämlich dann, wenn die physikalische Sonne untergegangen ist.
Endet das maurerische Tempel-Ritual um Hochmitternacht, so genau dann,
wann die eigene Welt jedes Menschen erreicht ist, denn die gemeinsame Welt
fällt natürlicherweise in der Nacht weg. Ich sage: Sie fällt
natürlicherweise weg. Sie fällt dann nicht weg, wenn wir mit unseren
künstlichen Beleuchtungen den Tag in die Nacht hinein verlängern. Durch die
Elektrizität kann die Nacht in den Innenräumen unseres Lebens- und
Tätigkeitsbereiches taghell erleuchtet werden. Gehen wir also von der
natürlichen Nacht aus.
Die Nacht ist gekennzeichnet durch die Abwesenheit der Sonne. In der Zeit
der Abwesenheit der Sonne ist in unserem Leben nicht mehr das äussere Licht,
eben die physikalische Sonne, wirksam, sondern das innere Licht, das sich in
unseren Träumen manifestieren kann. Das innere Licht von uns Menschen nennen
wir die Phantasie. Bei den alten Griechen war sie eine Göttin. Die Phantasie
ist die Herrscherin über die eigene Welt. Fassen wir einmal kurz zusammen,
so lautet der Befund: Das Ritual der Freimaurerei führt die am Ritual
beteiligten Freimaurer-Brüder von Mittag zu Mitternacht, von der gemeinsamen
Welt in die eigene. Das ist der Entwicklungsweg: Hin zum inneren Licht.
Bevor wir diesen Entwicklungsweg vollends zu verstehen versuchen, wenden wir
uns weiteren Analogien zu. Wir Menschen können auch untertags jederzeit die
Augen schliessen, und wir befinden uns augenblicklich in der eigenen Welt.
Dazu brauchen wir uns nicht einmal in einen Meditationssitz zu begeben, bei
dem wir häufig die Augen schliessen. Wir wenden uns oft auch mit offenen
Augen unserer inneren Bilderwelt zu, träumen oft vor uns hin, sind in
Gedanken anderswo.
Dies ist eine besondere Begabung des Menschen, in Gedanken anderswo sein
zu können, als wo er mit dem Körper gerade ist. Das ist eine wunderbare
Freiheit, welche allerdings auch gegen uns verwendet werden kann, zum
Beispiel als Unfreiheit, das heisst, wenn wir von einem Gedanken besessen
sind, der zur Gegenwart, wo wir uns mit dem Körper gerade befinden, gar
nicht gehört. Auf Grund dieser Begabung können wir eben auch seelisch-
geistig abwesend sein.
Konzentrieren wir uns nun aber auf das Gesunde, das Positive und
Schöpferische an unserem Thema, das heisst: Nicht nur in der Nacht im Schlaf
und in den Träumen – dort aber auf natürliche Weise und wie von selbst –
befindet sich der Mensch in seiner eigenen Welt, sondern auch am helllichten
Tag, sofern er die Augen schliesst.
er die Augen schliesst. Dieses Thema kennen wir Freimaurer bestens aus
unserem Aufnahme-Ritual. Dem Neophyten werden die Augen verbunden. Es wird
ihm das Sonnenlicht, das Tageslicht und die gemeinsame Welt, insofern sie
über den Gesichtssinn erlebt wird, genommen. Mit dem Körper, dem Tastsinn,
dem Geruchsinn und dem Atem sind wir in der gemeinsamen Welt, nicht aber mit
dem Sehen. Wenn dem neuaufgenommenen Bruder dann die Binde weggenommen wird,
dann soll das Licht, das er jetzt erblickt, nicht mehr das Licht der
profanen Welt sein, sondern das Licht im Bruderbunde, und dieses ist das
nicht-profane Licht, das ist das innere Licht, das ist das geistige Licht,
das ist das Licht durch die Symbole und ist immer das Licht, das Vieles in
Eines wendet und vereinigt.
Die eigene Erfahrungswelt als Durchgang zum ewigen Osten
Das Aufnahmeritual führt den neuen Bruder symbolisch zum geistigen Licht.
Das ist ein Weg von der äusseren Welt, die durch die physikalische Sonne
erhellt ist. Das ist ein Weg nach Innen. Warum? Weil es um die eigene
Erfahrung geht. Und zwar um die eigene Erfahrung von etwas, das nicht durch
die äusseren Sinne vermittelt werden kann, sondern durch eine innere
Erfahrung, die eine eigene, innere Gewissheit werden soll.
Nun gilt es zu unterscheiden: Beginnt der symbolische Weg um Hochmittag,
so ist die halbe Wegstrecke, nämlich von Mittag bis Abend oder
Sonnenuntergang, noch in der gemeinsamen Welt zurückzulegen. Die gemeinsame
Welt ist also auch Unterweisung, ist auch Belehrung, nämlich vor allem zum
Thema «Werden und Vergehen». Aus der Naturbeobachtung können wir bereits die
Gewissheit von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ableiten. Aus der
Naturbeobachtung können wir auch den Gedanken der Wiedergeburt ableiten.
Aber dieser abgeleitete Gedanke ist noch nicht erlebt. Er ist eben nur
beobachtet und gedacht. Doch dieser gedachte Gedanke über Werden und
Vergehen, über die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit der sichtbaren Welt
und die Frage nach dem, was unveränderlich in uns sei, das ist die
Vorbereitung innerhalb der profanen Welt, die notwendig ist, damit ein
Mensch sich auf die nächste Wegstrecke begeben will, nämlich jene der
Dunkelheit, der Nacht, der Abwesenheit der Sonne und des äusseren Lichtes,
um geführt vom inneren Licht, die Erfahrung zu machen, dass das
Unvergängliche das innere Licht des Menschen ist.
Dieser Erfahrung weiht sich die Freimaurerei, indem sie die Möglichkeit
einer solchen Erfahrung symbolisch einleitet.
Die Freimaurerei ist in diesem Sinne eine Nachfahrin der antiken
Mysteriengemeinschaften Diese Mysteriengemeinschaften haben für ihre
Mitglieder zeremoniell und rituell die Einweihung in die Gewissheit der
seelischen Unsterblichkeit des Menschen praktiziert. Diese Gewissheit kann
nur jeder für sich selber erlangen. Diese Gewissheit ist nichts, was sich
wissenschaftlich beweisen lässt, entstammt nicht der Erfahrung der
gemeinsamen Welt, ist nicht kollektiv vermittelbares Wissen. Sie ist einzig
und allein eine persönliche, individuelle Erfahrungstatsache. Diese
Gewissheit entstammt nur der Erfahrung der eigenen Welt. Und die eigene Welt
ist der Bereich der eigenen, einmaligen, einzigartigen, nicht
wiederholbaren, eben individuellen Wegbeschreitung. Die eigene Erfahrung
führt zur Türe zum überindividuellen, allgemeingültigen Wissen. Nur mittels
der eigenen Erfahrung kann diese Türe erreicht und dann auch durchschritten
werden. Darüber kann man keine Vorlesungen abhalten. Das ist nicht
verstandesmässig und logisch zu vermitteln. Dieses Wissen ist intellektuell.
Dieses Wissen ist nicht wissenschaftlich im gesellschaftlichen, das heisst
profanen Sinne. Dieses Wissen ist ein Wissen durch eigene Erfahrung. Wir
nennen dieses Wissen Weisheit.
In den antiken Mysterien- und Einweihungsgemeinschaften wurden den
Neophyten die Augen vielleicht gar nicht verbunden, sondern es wurde alles
in der Nacht oder in einer Höhle in der Dunkelheit vollzogen oder in
gewissen ägyptischen Initiationsritualen lag der Initiand bei einem
bestimmten Grad der Einweihung in einem Steinsarg, solange, bis sich seine
Seele aus dem Körper hinaus bewegte und er die Erfahrung von ihrer Existenz
unabhängig vom Körper konkret machen konnte. Auf Grund dieses Sarges werden
die Pyramiden, die solche Einweihungsorte waren, als Grabmäler missdeutet.
Man muss sich dies aber so vorstellen: Durch die Pyramidenspitze verliess
der Seelenvogel des Menschen die körperliche Welt auf ihrem initialen
Erfahrungsweg in die Gewissheit nicht-körperlicher Existenz. Anschliessend
kehrte die Seele in den Körper zurück.
Was ist das Ziel jeglicher Einweihung? Letztlich die Erfahrung: Ich
existiere unabhängig von meinem Körper.
Hochmitternacht Die rituelle Arbeit endet symbolisch zur Zeit von
Hochmitternacht. Nehmen wir die Mitternacht als die Mitte zwischen
Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, als die Mitte des Weges, den wir den
unteren Lauf oder den Nachtlauf der Sonne nennen, so haben wir die Mitte
zwischen Untergang oder Tod und Wiedergeburt der Sonne. Der abendliche
Untergang der Sonne ist dann nicht das letzte Wort. Ihr täglicher Tod ist
nur ein scheinbarer. Aber um Mitternacht hat die Sonne nach den
Vorstellungen der antiken Mysterien den Drachen zu besiegen, der ihr Leben
gefährdet. Er wird regelmässig besiegt. Nach diesem Sieg ist die Bahn der
Sonne frei, dass sie den Menschen am Morgen wiederum von neuem aufgeht. Im
Jahreslauf ist dieser Punkt am 21./22. Dezember, das Wintersolstitium, das
Fest der unbesiegten Sonne. Im antiken Rom war das das Fest mit dem Namen
«Sol invictus».
Der Meister vom Stuhl ist der Repräsentant der wiederaufgegangenen, das
heisst der wiedergeborenen Sonne. Warum? Weil er im Osten sitzt und weil
Osten der Ort des Sonnenaufganges ist.
Hochmitternacht ist der symbolische Zeitpunkt, an dem die zeremonielle
Arbeit der Freimaurer endet. Das ist der Zeitpunkt des Sieges der Sonne. Das
ist der Zeitpunkt der Erfahrung der unsterblichen Seele, die wiedergeboren
wird oder reinkarniert werden kann. Bis hierher will der spirituelle
Lehrgang in der Freimaurerei durch das Ritual führen.
Das Ritual führt nur bis zu diesem Zeitpunkt hin. Ein Ritual, das von
Mitternacht zum Sonnenaufgang führt, würde eine höhere Einweihungsstufe
beinhalten als sie in der Johannismaurerei vorgesehen ist.
Aber selbst das Ritual I der Freimaurerei kann uns mit dem Wissen darum
konfrontieren, dass es eine noch viel höhere Einweihung gibt, als wir sie
durchführen. Ich denke da etwa an das Aufnahmeritual der Loge «Wahrheit in
Liebe» in Islikon, das aus der Loge «Zu den sieben Rosen» in Basel stammt.
Da wird dem Neophyten gesagt, er werde auf den Gang der Sonne durch die
Dunkelheit geführt, damit er einst selber Sonne werde.
Mit dieser Botschaft will ich meine Betrachtung über die Spiritualität in
unserem Ritual und wie wir uns darauf sensibilisieren können, abschliessen.
Dies allerdings nicht, ohne auch diese Aussage einer Exegese zu unterziehen.
Der symbolisch-rituelle Rahmen der freimaurerischen Zeremonie, Hochmittag
und Hochmitternacht, steckt einen Erfahrungsbereich der Spiritualität ab,
der mit der Gewissheit der Unsterblichkeit der Seele enden soll.
Dazu noch kurz folgende Ergänzung: Nicht nur Heraklit, den ich zitierte,
sondern die Griechen der Antike insgesamt fassten die Nacht, in der die
Menschen schlafen, als jenen Lebensbereich auf, der Sinnbild für das
Jenseits ist, während der Tag, der durch die Sonne beschienen ist, das
Diesseits darstellt. So stehen Jenseits und Diesseits in einer Polarität
zueinander. Innerhalb dieser Polarität wird der Dualismus bewahrt, der darin
besteht, dass die unsterbliche Seele das Ewige des ewigen Ostens noch nicht
völlig erreicht hat. Innerhalb dieser Dualität wird die unsterbliche Seele
ja wiedergeboren. Aber die Seele hat mindestens innerhalb dieser
körperlichen «Stirb- und Werde»-Polarität die Gewissheit und das Wissen um
ihre Unsterblichkeit erreicht.
Mit dem Wissen um die unsterbliche Seele ist Spiritualität erreicht
Nun wissen aber die Freimaurer um einen noch höheren Grad des Wissens und
der Weisheit, nämlich in der zitierten Aussage, es gelte, dereinst selber
Sonne zu werden. Ich will dies erklären: Es gilt dann, nicht nur von unserem
irdischen Standpunkt aus der Sonne nachzudenken, was sie wohl zwischen ihrem
Untergang und ihrem erneuten Aufgang am nächsten Morgen erlebe, also sie als
Wanderer durch die Dunkelheit zu denken, sondern selber Sonne sein bedeutet,
sich mit der eigenen schöpferischen Kraft so identifizieren, so selber
dieser unbesiegbare Sonnenheld zu werden, dass immer Licht herrscht, wo ich
bin. Wo die Sonne ist, da ist immer Licht. Da gibt es gar keine Dunkelheit.
Da ist die Polarität von Licht und Dunkel überstiegen. Wenn dieser Zustand
erreicht ist, bin ich mit dem Ewigen Osten identisch. Lassen wir das Wort
Osten jetzt weg, weil ich dann nicht mehr in den irdischen Kreislauf
zurückkehren muss. Es heisst dann: Jetzt bin ich mit dem Ewigen identisch.
Ich behaupte nicht, die Freimaurerei führe uns dorthin – überhaupt nicht.
Ich sage bloss: Innerhalb der Freimaurerei, wie das Ritual von Islikon uns
aufzeigt, weiss man davon, worum es allerletztlich geht, nämlich selber
Sonne zu werden, um damit jenseits der Spaltung von Licht und Dunkel, von
Jenseits und Diesseits, jenseits aller Dualität zu leben, weil die Seele mit
dem Einen identisch geworden ist.
Warum heisst es in unserem Ritual «Hochmitternacht », wenn es sich doch
um die tiefste Stelle der Sonne auf ihrem 24-stündigen Lauf handelt?
Hochmitternacht ist hohe Zeit für die Seele. Das ist ihre Hochzeit mit der
vergänglichen, sterblichen Körperwelt.
Durch diese Untersuchung über die Grundgegebenheiten unseres Rituals
gelange ich zu demselben Schluss wie Bruder Hans-Dieter Leuenberger in
seinem Artikel in «Alpina» Nr. 1/2000. Darin fasst er in verdankenswerter
Weise die Beiträge zum letztjährigen Studienthema zusammen und zwar unter
dem Titel: «Wir können die Welt nicht verändern.» Er schliesst seinen
Artikel so: «Was bleibt der Freimaurerei angesichts der uns über den Kopf
wachsenden Probleme? Ein Bruder hat es in seinem Beitrag auf den Punkt
gebracht: Das Ziel der freimaurerischen Arbeit ist die Verbesserung und
Veredelung der eigenen Persönlichkeit... Das einzige, das zu verbessern in
unserer Macht steht, das sind wir selbst. Wenn unser Beispiel ausstrahlt und
andere Menschen sich ihm anschliessen, dann kann die Welt, die Menschheit
sehr wohl etwas besser werden.»