Können wir Freimaurer etwas dagegen unternehmen?
Die Globalisierung ist eine Einbahnstrasse
ROLAND MÜLLER (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Mai 2003)
Der Titel besagt, dass alles, was sich der Globalisierung
entgegenstemmt, überfahren wird. Die Globalisierung ist unaufhaltsam. Aber
sie kann gelenkt werden: mit Moral, nationalen Anstrengungen und
internationalen Vereinbarungen. Dazu braucht es aber grosse Anstrengungen
und vor allem ein Umdenken nicht nur der Regierungen, sondern auch der
multinationalen Gesellschaften.
Das Wort «Globalisierung» tauchte in den 1980er Jahren auf und wurde in
den 90er Jahren zum Schlagwort. Ein deutscher Bibliotheks-Katalog
verzeichnet seit 1997 weit über 3000 Publikationen zu diesem Thema, der
Internetsuchdienst Google gibt fast 300 000 Websites zum Wort
«Globalisierung» an, 600 000 zu «globalisation », doppelt soviel zu
«globalization ».
Mit dem Wort meint man «die Entstehung weltweiter Märkte für Produkte,
Kapital und Dienstleistungen». Doch davon werden nicht alle Staaten und
Unternehmen gleich erfasst: Im wesentlichen handelt es sich um die grossen
Multis, deren Geschäfte, Direktinvestitionen und Fusionen in erster Linie
zwischen den Industriestaaten sowie den Schwellenländern abgewickelt werden.
Afrika bleibt nahezu unberührt. Besonders auffällig sind die Verschiebung
von Arbeitsplätzen und die Abkopplung der Finanzmärkte von der realen
wirtschaftlichen Entwicklung. Die Wechselkurse werden von spekulativen
Kapitalströmen statt von fundamentalen Faktoren bestimmt. Die grössten
Nutzniesser sind immer die Banken. Globalisierungstendenzen lassen sich aber
auch in anderen Bereichen feststellen, sei es in der Umweltpolitik, deren
Probleme bereits seit Jahren nicht mehr national gelöst werden können, oder
in der Sicherheit, in der Kultur und in der Gesellschaft.
Das Wort «Sicherheit» weist auf die enorme Ausweitung und Verbreitung der
Kriminalität (Drogen-, Waffen-, Kunst- und Menschenhandel, Geldwäscherei)
hin. Das Wort «Kultur» deutet hin auf die «McDonaldisierung» der Welt,
Hollywoodfilme in jedem Kino, CNN in fast jedem Haus und Englisch als
Universalsprache für Wissenschaft und Technik, im Business und im Internet.
Massive Werbung weckt weltweit den Wunsch nach weitgehend wertloser
Massenware. Das Wort «Gesellschaft» verweist einerseits auf riesige
Flüchtlingsströme, auf Migration aus politischen und wirtschaftlichen
Gründen sowohl innerhalb von Ländern als auch zwischen Ländern und gar
Kontinenten. Anderseits kommt es zu Annäherungen und Vermischung von Rassen,
Völkern, Sprachen und Religionen. Viele Abendländer fühlen sich heute als
Buddhisten; viele Asiatinnen heiraten in den Westen.
Die Globalisierung ist nicht neu
Man kann den Anfang der Globalisierung bei den Höhlenbewohnern, bei den
Raubzügen der Phönizier (1000 v. Chr.), bei den Beutezügen der
portugiesischen Seefahrer (seit 1441) oder bei der Eisenbahn und
Telekommunikation (seit 1850) ansetzen. So richtig los ging es aber erst
nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Schweizer Industrie ist die
Globalisierung schon lange eine Selbstverständlichkeit, ja eine
Notwendigkeit, denn vom einheimischen Markt könnte sie nicht leben. Daher
lautet die Frage nicht, ob Globalisierung gut oder schlecht sei, sondern was
man daraus macht.
Globalisierung ist kein neues Phänomen, sondern eine Intensivierung der
bisherigen grenzüberschreitenden Transaktionen – materielle wie geistige –,
die bis anhin unter dem Titel «Internationalisierung» gelaufen sind. Die
Alten Römer beherrschten einst die abendländische Welt mit der «Pax Romana»,
der Kommunismus wiederum verhiess die Weltrevolution, und heute haben wir
die «Pax Americana». Neu ist allerdings die Stärke und Schärfe des
Anpassungsdruckes.
Unterschiedliche Beurteilung
Die Meinungen gehen weit auseinander. Bei oberflächlicher Betrachtung
könnte man sagen, dass die Profiteure der Globalisierung – also die
wirtschaftlich Starken und politisch Liberalen – «dafür» sind, die
Verlierer, die Linken und Nationalisten «dagegen». Einige Vorwürfe lauten:
Die Globalisierung entzieht dem Nationalstaat die Macht und führt zu einer
Zurückdrängung der nationalen Politik. Sie erzwingt unter anderem eine
soziale Demontage. Positiv ist die Förderung der Dritten Welt. Es wird in
Gebiete investiert, die bisher nicht berücksichtig worden sind. Dort werden
qualitativ hochstehende Produkte hergestellt. Im geistigen Bereich bedeutet
Globalisierung Abschiednehmen von alten Gedankenmustern. Im seelischen
Bereich ermöglichen die modernen Kommunikationsmittel eine sofortige
weltweite Übertragung von Ereignissen aller Art – vom Sport bis zum Terror.
Ohne Berichte in den Medien wüssten wir zum Beispiel fast nichts vom Wirken
Bruno Mansers. Daher könnte die Globalisierung einen Weg zu einem
allumfassenden Wissen zeigen, zu einer pan-sphärischen Verständigung zum
Nutzen aller Lebewesen und deren Umwelt auf diesem Planeten.
Positive und negative Aspekte der Globalisierung
Die Globalisierung bietet insbesondere kleinen Ländern, wie der Schweiz,
einen weltweiten Markt für Waren und Kapital. Sie bietet innovativen Ländern
die Chance, eigenes Wissen und Können in die Welt hinauszutragen. Damit
leisten sie effiziente und fruchtbare Entwicklungshilfe bei Ländern, die
nicht über dieselben Möglichkeiten verfügen.
Anderseits können starke Nationen wirtschaftlich schwache missbrauchen,
indem sie dort billige Arbeitskräfte zu schlechten Bedingungen arbeiten
lassen. Damit zerstören sie aber auch den Arbeitsmarkt im eigenen Land.
Gleichzeitig werden sanierungsbedürftige Länder gezwungen, mit ihrem mühsam
erwirtschafteten Kapital im Handelsaustausch teure und qualitativ
hochstehende Produkte zu importieren, die sie unter Umständen gar nicht
brauchen oder nicht zu gebrauchen wissen. Einerseits kann die Globalisierung
Menschen und Länder zusammenbringen und das Verständnis füreinander fördern.
Anderseits fehlen oft die nötigen Fachkräfte, welche die Mentalität in den
Entwicklungsländern verstehen und die Ausdauer dafür aufbringen, sich darin
zu vertiefen. Die Förderung der Schulund Berufsbildung ist durchaus möglich,
aber es braucht dafür viel Geduld und Erfahrung. Zweischneidig sind die
potenten Instrumente der Globalisierung, nämlich schnelle und grosse
Transportmittel sowie Computer und Kommunikationsmittel. Einerseits gewähren
sie teilweise Informationsfreiheit, anderseits erleichtern sie den
internationalen Interessenund Terrororganisationen ihre Koordination und
Logistik. Einerseits können Touristen rasch die halbe Welt erkunden,
anderseits bringt der Tourismus westliche Denk- und Lebensweisen, Produkte
und Abfälle in bisher «unerschlossene » Gebiete.
Eine winzige «Elite»
In den globalisierten Unternehmen hat eine ganz kleine Gruppe von
Führungskräften das Sagen. Sie trifft Entscheidungen, die vielleicht
kurzfristig grossen finanziellen Erfolg versprechen, doch um die
längerfristigen Konsequenzen – vor allem für die anderen – kümmern sie sich
nicht. Es bedarf daher eines breit abgestützten Kontrollsystems, um
Auswüchse zu vermeiden.
Das Schlimmste liegt darin, dass diese winzige «Wirtschafts-Elite» nicht
nur die Märkte, sondern auch die Politik (Filz), Kultur (z. B. via
Sponsoring) und Wissenschaft (Biotechnik, Gentechnik, Saatgut; Mikrotechnik)
dominiert. Dazu gibt es «Seilschaften», einflussreiche Lobbies und weltweite
Kartelle.
Was hat die Globalisierung der Dritten Welt gebracht?
Trotz (oder wegen?) der Globalisierung hat sich die Kluft zwischen 1. und
3. Welt vergrössert: Das Verhältnis der Durchschnittseinkommen des reichsten
zum ärmsten Land der Welt vergrösserte sich in den letzten 100 Jahren von
9:1 auf 60:1. Der Welthandel stieg seit 1950 (61 Mrd. Dollar) um den Faktor
100, real um den Faktor 20.
Die Verschuldung der Dritten Welt stieg von 38 Mrd. Dollar 1965 auf rund
2500 Mrd. 1998. Ihr jährlicher Schuldendienst ist mit 250 Mrd. Dollar
fünfmal grösser als die Entwicklungshilfe, die sie erhält.
Aufwärts ging es nur in einzelnen Regionen, in den Tiger-Staaten
Ostasiens (z. B. Südkorea, Malaysia, Taiwan, Thailand) und in den Jaguar-
Staaten Lateinamerikas (Chile, Mexiko), vor allem, weil diese
wettbewerbsfähige Güter für den Weltmarkt produzieren. Andere Länder,
besonders afrikanische und islamische, blieben weit zurück. In Zahlen:
Während die asiatischen Entwicklungsländer ihren Anteil am Welthandel von
1970 bis 1995 von 6% auf 19% steigern konnten, fiel er für Lateinamerika von
6% auf 4% und für Afrika von 4% auf 3%. Insgesamt ist nicht einmal ein
Drittel der Weltbevölkerung in die Weltwirtschaft integriert.
Es hungern heute 800 Millionen Menschen auf dem Globus. Die Zahl der
Menschen, die zum Leben weniger als zwei Dollar täglich verdienen, ist auf
drei Milliarden gestiegen. In vielen Entwicklungsländern liegt die offene
und versteckte Arbeitslosigkeit bei 40-50 %. Viele Menschen, besonders
Jugendliche, empfinden ihre Lage als hoffnungslos.
Auf dem Weg zur Zweiklassengesellschaft
Doch nicht nur in globaler Sicht vergrössert sich die Kluft zwischen
Reich und Arm, Mächtigen und Ohnmächtigen, sondern auch innerhalb der
einzelnen Länder. Die Entwicklung ist in den meisten armen Ländern zu rasch
vor sich gegangen. Einige privilegierte Persönlichkeiten nützen die
wirtschaftlichen Vorteile schamlos für sich aus. Der grösste Teil der
Bevölkerung geht dabei leer aus.
Wirtschaftlich ergibt sich ebenfalls eine Zweiteilung: Nur ganz grosse
oder ganz kleine Unternehmen werden überleben. Die mittelgrossen
verschwinden, weil sie nicht mehr rentabel produzieren können. Ein Teil der
kleinen Unternehmen kann in Nischen oder mit Spezialprodukten überleben,
aber viele kleingewerblichen Firmen werden von Multis bedrängt und
verdrängt.
Die Globalisierung hat weder Kriege verhindert, noch die Zahl der
Verfolgten und Flüchtlinge vermindert. Es gibt immer noch Guerilla- und
Widerstandsorganisationen. Die Atomwaffenarsenale wurden nicht abgebaut,
Bio- und Chemiewaffen eher aufgebaut.
Auch der Raubbau an natürlichen Ressourcen sowie die Verschmutzung und
Vergiftung der Umwelt wurden nicht gebremst. Bereits zeichnet sich ein
Klimawandel ab. Kinder und Frauen werden immer noch in vielen Ländern gering
geachtet und wirtschaftlich benachteiligt.
Philosophische Zusammenfassung
Positiv gesehen: Die Globalisierung hat soviel Reichtum geschaffen, dass
dieser bei gerechter Verteilung allen Menschen zugute kommen würde. Sie
zeigt allen Menschen, dass wir auf demselben Planeten wohnen. Sie verbreitet
abendländische Ideale, wie Demokratie statt Oligarchie, Menschenrechte statt
Gewalt, Gerechtigkeit statt Willkür, soziale Marktwirtschaft statt
Planwirtschaft, Leistung statt Vetternwirtschaft.
Negativ gesehen: Die Globalisierung ist der extrem verstärkte Hebelarm
der uralten menschlichen Krankheit «Habgier». Sie hat kein Gewissen, beruht
sie doch auf technischer und ökonomischer Rationalität.
Die Wissenschaft sieht alles anders. Kein Wort von hungernden Millionen
und drückenden Schuldenbergen. Ihr Tenor lautet zynisch: Wer nicht mitmacht,
ist selber schuld!
Ob es unser Planet jedoch ertragen würde, wenn alle 6,3 Milliarden
Menschen auf westlichem Standard – etwa punkto Konsum, Verkehr und
Energieverbrauch – lebten? Kluge Leute haben ausgerechnet, dass es für
diesen Standard 2,5 Planeten brauchen würde.
Obwohl die Globalisierung von Menschen gemacht wird, die in Multis,
Parlamenten und Regierungen sitzen, hat sie die Wucht einer Naturgewalt. Sie
scheint unaufhaltsam. Das ist ähnlich wie beim «technischen Fortschritt»,
der «Verstädterung» oder der «Überalterung der Gesellschaft». Während aber
der einzelne bei der Technik partiell noch Nein sagen kann – Verzicht auf
Fernseher und Auto, Computer oder Handy – ist bei der Globalisierung kein
Widerstand möglich.
Die Protestaktionen an den Welthandelsgipfeln in Seattle (November 1999)
und Genua (Juli 2001) oder beim World Economic Forum in Davos waren zwar
medienwirksam, machten aber einen eher kläglichen Eindruck. Desgleichen die
Grüppchen von französischen Bauern, die gegen McDonald’s auffuhren.
Und die Freimaurer
Auf Grund ihrer Geschichte (300 Jahre), Ethik («a system of morality»)
und Ausbreitung (in über 110 Ländern) ist die Freimaurerei prädestiniert zur
Beteiligung an der Bekämpfung der Auswüchse der Globalisierung! Doch leider
zirkulieren in gewissen Kreisen immer noch die uralten Verschwörungstheorien
– besonders auch auf dem Internet.
«Weltfreimaurerei» war in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen ein
Schimpfwort, gleichbedeutend mit dem «Streben nach Weltherrschaft». Seither
werden die Freimaurer vor allem in den USA bezichtigt, eine «New World
Order» aufzustellen und die UNO als Instrument für ihre weltweiten
Machtgelüste zu missbrauchen. Die Freimaurer steckten auch hinter den
Bilderbergern, das seien die «High Priests of Globalization», und die bei
Vevey gegründete Mount Pèlerin Society sei eine Art neo-liberaler
Freimaurerei; sie propagiere einen harten und schrankenlosen Kapitalismus.
Wir müssten also zuerst einmal klarstellen, dass die Freimaurer
kosmopolitisch interessiert und gute Staatsbürger sind, sich dem
Humanitätsgedanken verpflichtet fühlen, Geistesfreiheit und Toleranz üben
sollten, kein Dogma und kein Programm haben, jedoch versuchen, «alles Gute
und Wahre immer weiter zu verbreiten».
Es waren die Freimaurer, die 1776 (in der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung) und 1791 (in der Französischen Revolution) die
Menschenrechte formulierten. Und es sind die Freimaurer, die sich seit 1850
immer wieder für den Frieden eingesetzt haben. Mindestens 13 Träger des
Friedensnobelpreises sind Freimaurer.
Der preussische König Friedrich II., der Grosse, sah 1774 als Ziel der
Freimaurerei: «Das Wohl und Wehe der menschlichen Gemeinschaft zu
befördern». Ein Jahr später bezeichnete der Dichter Lessing (in «Ernst und
Falk») die Freimaurer als Männer, die daran arbeiten, «jene Trennungen,
wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder
zusammenzuziehen».
Ein neues Engagement der Freimaurer ist nötig!
Der Einsatz für den Frieden kann heute fortgesetzt werden durch den
Einsatz für eine Regulierung der Globalisierung. Das kann sowohl im eigenen
Land geschehen als auch durch Mitarbeit in einem internationalen Gremium –
je nach Kenntnissen, Interessen und Temperament.
Ein Beispiel unter vielen: Der neue Generaldirektor der
Welthandelsorganisation WTO, der Thailänder Supachai Panitchpakdi, hat bei
seinem Amtsantritt Anfang September 2002 verlauten lassen, er plane die
Bildung eines Kreises «aus allseits respektierten Persönlichkeiten». Diese
«so genannte Gruppe eminenter Personen könnte Konflikte im Vorfeld
aufgreifen und Beschlüsse vorbereiten. »
Gerade weil heute die wenigsten Freimaurer politisch tätig sind, können
sie als weitgehend «neutrale» Fachleute nicht-gouvernementale Aspekte in die
Diskussion einbringen. Ohne eine Zusammenarbeit von staatlichen und
nichtstaatlichen Organisationen und Initiativen auf allen Ebenen ist die
Globalisierung nicht zu bewältigen. Die sozialdemokratische deutsche
Bundesministerin Heidemarie Wieczorek- Zeul hat Ende 2000 erkannt, «dass der
Globalisierung Regeln gegeben werden müssen », und die Vorsitzende der
deutschen CDU Angelika Merkel formulierte gleichzeitig, die Aufgaben des 21.
Jahrhunderts sei, «Markt und Menschlichkeit zusammenzubringen».
An dieser Aufgabe kann sich die Freimaurerei guten Gewissens beteiligen.
Das Ziel muss positiv formuliert sein, etwa als «Freemasons for
Sustainability». Was heisst «Sustainability»? Das Wort wurde 1992 durch die
Konferenz von Rio populär. Es bedeutet, dass der Mensch bei allen
Unternehmungen sowohl die wirtschaftlichen, ökologischen wie sozialen
Faktoren und Auswirkungen beachten soll. Das heisst, er muss gleichzeitig
den Profit, die Umwelt und die Menschen im Auge haben.