Vernünftiges Handeln fordert das Leben selbst
Vernünftiges Handeln im Lichte der Freimaurerei
ALBRECHT TRENNER (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Juni/Juli 2003)
Der Weg zum Glück führt über das tugendhafte Handeln. Tugendhaftes
Handeln ist mit vernunftmässiger Tätigkeit identisch. Da Vernunft in Denken
und Wollen zerfällt, unterscheidet man zwei Arten von Tugenden: Die
dianoetischen (denkend – den Verstand betreffenden) Tugenden dienen der
Vervollkommnung der Vernunft. Die ethischen Tugenden beherrschen die
niederen Funktionen und Triebe der Menschen. Das Wesen der ethischen
Tugenden liegt in der Einhaltung der «Goldenen Mitte».
Der Mensch ist – will er überleben – von seiner Geburt an gezwungen, sich
in die Gesetzmässigkeiten der ihn umgebenden Natur einzugliedern, wozu auch
sein soziales Umfeld gehört. Er trägt sozusagen den Instinkt zum Überleben
seit seinem Ursprung in sich. Im Verlaufe seiner Entwicklung lernt er seine
Sinneswahrnehmungen zu verarbeiten (Wissen), Erfahrungen zu sammeln
(Emotionen), diese zu ordnen und schliesslich seinen Verstand zu gebrauchen
(Denken), das heisst neue Situationen durch den Vergleich (Reflexion) mit
den im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen vorausschauend zu beurteilen.
Der Wille, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wird vom Trieb zu leben oder
zu überleben gesteuert. Die Art des Handelns, um ein Ziel zu erreichen aber,
wird von der Erfahrung und dem Intellekt bestimmt. Es ist also zu erwarten,
dass mit zunehmender Erfahrung und genügendem Denkvermögen ein Ziel erstens
realitätskonform angesetzt und zweitens derart umgesetzt wird, dass es
tatsächlich auch erreicht werden kann. Sind diese Bedingungen erfüllt, kann
man von vernünftigem Handeln sprechen. Daraus ergibt sich aber auch, dass
vernünftiges Handeln vom Leben selbst gefordert wird.
Die Subjektivität vernünftigen Handelns
Menschliches Handeln wird, wie schon erwähnt, unter anderem von der
Erfahrung bestimmt. Die Erfahrung ihrerseits aber entsteht durch das Umfeld,
in dem sie entstand, also durch den Einfluss der in diesem Umfeld gepflegten
Ethik, Kultur, Religion und dem sozialen Umgang, um nur die wichtigsten
Faktoren zu nennen.
Nun wisse wir aber, dass gerade diese Faktoren nicht nur ausserhalb,
sondern auch innerhalb nationaler Grenzen mehr oder weniger grosse
Unterschiede aufweisen (insbesondere im sozialen Bereich). Vernünftiges
Handeln wird damit zu einem subjektiven Prozess. Innerhalb nationaler oder
ethnischer Grenzen wird versucht, diese Subjektivität durch eine geeignete
Gesetzgebung oder soziale Verhaltenskodexe etwas zu objektivieren.
Im internationalen Vergleich aber tritt die Subjektivität vernünftigen
Handelns deutlich zu Tage, und wir haben gerade in unserer Zeit, welche von
Globalisierungsbestrebungen geprägt ist, Gelegenheit, die unterschiedliche
Bewertung von scheinbar vernünftigem Handeln zu beobachten. Aber auch hier
versucht die Völkergemeinschaft durch internationales Recht korrigierend
einzuwirken.
Ein weiterer Aspekt, der die Subjektivität vernünftigen Handelns fast
unbemerkt beeinflusst, ist die Tatsache, dass all die Faktoren, welche die
Erfahrung eines Menschen ausmachen, einer gewissen Dynamik ausgesetzt sind,
das heisst sie unterliegen selber der Veränderung. Ein Beispiel dafür sind
die unterschiedlichen Beurteilungen ein und desselben Sachverhalts durch
Menschen, welche einen grossen Altersunterschied aufweisen.
Zusammenhang von Vernunft und Moral
Was bedeutet für das Individuum moralisches Verhalten? Moralische
Erwägungen erfordern, dass zugunsten anderer auf die Befriedigung eigener
Bedürfnisse verzichtet wird und bestimmte Handlungsweisen auch dann
unterlassen werden, wenn diese für das Individuum selbst vorteilhaft wären.
Das gegenteilige Verhalten davon ist, sich mit unmoralischen Methoden ein
scheinbar angenehmes Leben zu verschaffen und sich dabei der Cleverness zu
rühmen.
Wohl die meisten Menschen verhalten sich mehr oder weniger moralisch. Sie
hätten ein schlechtes Gewissen, wenn sie andere Menschen übervorteilen, ihre
Schwächen ausnutzen, sie in Not ohne Hilfe lassen, oder sonst wie zu ihrem
Unglück beitragen würden. Sie handeln aus der Überzeugung und der Erfahrung
heraus, dass nicht nur die eigenen Interessen ihre Handlungen bestimmen
dürfen, sondern auch in genügend hohem Masse die Standpunkte und Interessen
des näheren, sozialen Umfeldes. Dass ein Zusammenhang zwischen Vernunft und
Moral besteht, ist am entschiedensten von Kant behauptet worden:
«Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt dem Menschen
ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen».
Dass Vernunft Ursprung des Sittengesetzes ist, wird jedoch von Kant nicht
begründet, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Er nennt das
Sittengesetz das «Faktum der Vernunft».
Vernünftiges Handeln im Lichte der Freimaurerei
In welcher Beziehung nun stehen Freimaurerei und vernünftiges Handeln
zueinander? Wir haben festgestellt, dass die Art des Handelns weitgehend von
den in einem bestimmten Umfeld entstandenen Erfahrungen geprägt wird. Die
Freimaurerei bemüht sich bereits bei der Aufnahme neuer Mitglieder in ihren
Bund darum, diesen den Akt der Initiation, als symbolische Geburt in ein
neues Leben zu vermitteln. Dabei wird auf die grundsätzlichen, von allen
Menschen erstrebten Werte, wie Toleranz, Gerechtigkeit und Kosmopolitismus,
wiederum in symbolischer Darstellung, hingewiesen. Die Freimaurerei arbeitet
damit auf ein Ziel hin, welches ihren Mitgliedern erlaubt, ethnische,
kulturelle und soziale Unterschiede sozusagen aus einer breit angelegten
(toleranten) Perspektive zu betrachten und sich auf dieser Basis ein
eigenes, unabhängiges Bild der Dinge zu machen.
Der symbolischen Darstellung des von der Freimaurerei vertretenen
Lehrgebäudes kommt dabei ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zu. Er
zwingt nämlich den Menschen, der sich um den tieferen Sinn eines
Zusammenhangs bemüht, dazu, sich mit diesem, unter Zuhilfenahme seines
Erfahrungshintergrundes, auseinander zu setzen und seine eigene Erkenntnis
daraus zu schöpfen. Diese Selbsterkenntnis ist eines der höchsten Güter
jedes Menschen, weil sie aus einem selbst heraus entstanden ist und damit
dem Charakter einer Geburt entspricht. Dieser wichtige Akt der
Selbsterkenntnis verhindert aber auch gleichzeitig die Bindung eines
Menschen an ein Dogma, dem immer nicht individueller Inhalt eigen ist.
Vernünftiges Handeln, im Lichte der Freimaurerei bedeutet somit, die nach
eigenem Reflektieren als richtig erkannten Grundsätze der Freimaurerei bei
der Umsetzung seiner Interessen aus tiefster Überzeugung heraus zur
Anwendung zu bringen.