Gedanken zum Begriff «Weisheit»
Weisheit geht immer vom Herzen aus
Weisheit ist ein Begriff, der sehr schwer zu fassen ist. Es drängen
sich Fragen auf wie: Welche Vorstellung hat man überhaupt von Weisheit? Wie
kann man Weisheit in konkrete und verständliche Worte fassen? Ist es nicht
so, dass man Weisheit nur umschreiben kann? Was ist das überhaupt: Weisheit?
HANS-GÜNTHER RADECKE (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Februar 2004)
Wenn man unter dem Stichwort Weisheit sucht, dann findet man kaum etwas
Konkretes. Man wird auf die Menschen hingewiesen, die durch ihre Worte, ihre
Gedanken, ihre Lebensführung, ihre Philosophie von den Menschen als solche
mit Weisheit erfüllte angesehen werden. Der Brockhaus umschreibt Weisheit
wie folgt: «das auf vorwissenschaftliche Erfahrung und Lebensklugheit
zusammenfassende Wissen, umfassendes Verstehen um Ursprung, Sinn und Ziel
der Welt und des Lebens sowie um die letzten Dinge gegründet ist». Eine
wahrlich etwas komplizierte Umschreibung. Sie drückt die Schwierigkeit aus,
Weisheit zu erfassen. Aber diese Aussage weist indirekt darauf hin, dass
Weisheit sehr eng mit der Philosophie und dem religiösen Empfinden und dem
Glauben der Menschen zu tun hat.
Alle Philosophen haben sich mit der Weisheit auseinander gesetzt. Schon
Platon bezeichnete sie als eine Kardinaltugend. Aber auch neueren
Philosophen war die Beschäftigung mit Weisheit nicht fremd. So etwa Nicolai
Hartmann in seiner Ethik, oder Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch «Wesen
und Wandel der Tugenden». Der Rechtsphilosoph August Friedrich Emge hat in
einem ganzen Buch mit dem Titel «Der Weise», das 1967 erschienen ist, über
die Weisheit nachgedacht. Ebenso findet man in der Religionsgeschichte eine
unendliche Fülle von Abhandlungen über die Weisheit.
In früheren Zeiten wurde das tägliche Leben von der Religion bestimmt. So
ist es nicht verwunderlich, dass damals verstandene und erfasste Weisheiten
an höfischen Schulen eine gepflegte Lehre zur Ausbildung der Beamten und
Gelehrten war. Denn nur diese konnten lesen und schreiben. Inhalte dieser
Lehre waren die Klugheit, Tüchtigkeit, Mässigung und dieses Wissen zu
erlangen, waren die Hauptziele, die vermittelt wurden und zu erreichen
waren. Dies so als Weisheit Verstandenes und Gelehrtes entstand in Ägypten
um 2600 vor Christus und dauerte bis in die römische Zeit.
Dabei waren die ägyptischen Weisheiten eher auf das praktische Verhalten
im Leben ausgerichtet. Anders dagegen im Alten Testament. Dort findet man
die Lebenserfahrung eines weisen Mannes zu gültigen Sinnsprüchen «geknotet»
und als schriftliche «Lehre» verfasst. Diese Weisheiten sind in den Sprüchen
Salomos, in den Büchern Hiob, Prediger, Jesus Sirach und Weisheit Salomos
niedergeschrieben.
Interessant ist es dabei, dass die Weisheit Salomos fälschlicher Weise
dem König Salomo zugeschrieben wird. Denn man weiss heute, dass dieses Buch
im 1. Jahrhundert vor Christus von einem Juden in Alexandria auf Griechisch
verfasst worden ist.
Aber nicht nur im Alten Testament findet man eine Fülle von Sprüchen, die
Weisheit zum Ausdruck bringen, sie umschreiben. Und dies nicht nur in
unserer abendländischen Kultur. Man findet diese in Indien, China, Japan,
Arabien. Eigentlich haben sich alle Völker auf irgendeine Art und Weise mit
Weisheit beschäftigt und auseinander gesetzt. Und somit ist Weisheit ein
Thema, das niemals in einem Artikel auch nur annähernd behandelt werden
kann.
Weisheit ist nicht gleich Wissen
Es ist ja schon etwas Paradoxes um die Weisheit. Die Weisheit drückt sich
dadurch aus, dass sie kein Wissen zum Ausdruck bringt. Aber ohne Wissen und
Lernen kann man nicht weise sein. Weisheit bedeutet Wissen in das Gehirn
aufnehmen, aber im Herzen ist es zu speichern. Diese Kombination von im Hirn
Erlerntes und im Herzen gespeichertes Wissen zu verarbeiten und zu
verbinden, ergibt Weisheit. Denn Weisheit geht immer vom Herzen aus. Sehr
schön kommt dies in den Meistertugenden der Freimaurerei zum Ausdruck. Deren
vier sind: Weisheit des Herzens, Wahrheit im Wort, Standhaftigkeit gegen
unvermeidliche Übel und unentwegter Eifer für das Gute.
Und wenn man sich so mit Weisheit beschäftigt, dann kann man vielleicht
auch sagen, dass Weisheit eine menschliche Eigenschaft ist, die es Wert ist,
zu erstreben, weil sie mit Sicherheit mit der Einstellung zum Leben, mit dem
Bemühen des Menschen zu tun hat, ein Gott gefälliges Leben zu führen, wie es
in der christlichen Terminologie bezeichnet wird.
Die Kräfte des Hasses sind stärker
Und dabei ergeben sich erneut Fragen, die im Zusammenhang mit unserm
täglichen Leben, unserer Umwelt stehen. Wenn man über Weisheit nachdenkt,
kommt man unweigerlich zu der Feststellung, dass sie in einem diametralen
Gegensatz zu dem steht, wie wir die Welt erleben. Wo bleibt die Wirkung der
Weisheiten des Alten Testamentes und der Weisen des Islams, wenn Palästina
und Israel keinen Frieden finden? Warum müssen sich Katholiken und
Protestanten in Irland seit Jahren bis aufs Messer bekämpfen? Indien hat
eine Fülle von Weisheitssprüchen hervor gebracht. Und doch liegen Indien und
Pakistan in einem nicht enden wollenden Streit. Man könnte unendlich viele
Beispiele dieser Art aus der Geschichte und der Gegenwart anführen. Aber
offenbar ist es nur wenigen Menschen gegeben als weise zu gelten, etwas in
sich zu spüren, was als Weisheit angesehen werden kann. Und die Kräfte, die
die Welt seit Urzeiten regieren, sind stärker, um das, was man als Weisheit
bezeichnen kann, so wirksam werden zu lassen, dass sie mindestens wohltuend
auf die mächtigen Kräfte einwirken. Und doch sollte das Streben nach
Weisheit nicht aufgegeben werden, denn Weisheit ist eine Tugend, die das
Leben bereichert.
So kommt ja auch das Streben nach Weisheit aus dem Hang zur Transzendenz.
Sehr eindrücklich wird das dokumentiert, was man Weisheit des Herzens
bezeichnet. Wie kann, wie soll man sich Weisheit des Herzens vorstellen? Wie
begreifen? Wie leben? Geduld und Verständnis reichen nicht aus. Eben so
wenig alleine die Liebe für den Andern. Es gehört auch ein starkes Herz
dazu. Dies wiederum ist nicht zu verwechseln mit einem harten Herzen. Denn
Weisheit erfordert grosse eigene innere Kräfte, die dann dazu führen, dass
man sich selber nicht aufgibt. Das Wissen, dass alles zwei Seiten hat, und
man sich bewusst sein muss, dass jede Entscheidung sowohl eine positive als
auch eine negative Seite hat, macht es so schwierig, Weisheit des Herzens
umzusetzen. Denn Weisheit äussert sich auch darin, dass Gesagtes oder
Getanes so zum Ausdruck gebracht werden muss, dass die Andern sie
akzeptieren können, ohne sich verletzt zu fühlen.
Die mittelalterlichen Dome als Ausdruck der Weisheit
Weisheit betrachte ich eher als eine menschliche Eigenschaft. Eine
Eigenschaft, die aus der ganzen Lebenseinstellung und Lebenshaltung des
Menschen erwächst. Und wenn man nun Weisheit auf den Menschen bezieht, kann
diese sowohl abstrakt als auch konkret sein. Denkt man zum Beispiel an die
Dombauten, so stellen sich diese ja nicht nur als grossartige
architektonische Bauwerke dar. Vielmehr spürt man, dass, wenn dieser Gedanke
verfolgt wird, hinter den Streben, Pfeilern, der Anordnung und Gestaltung
der Bauteile sich eine Fülle von Gedanken, Ideen, Glauben, Liebe und Hingabe
an die gestalterische Arbeit verbirgt und sich somit ein enormes Wissen und
Können offenbart, das zusammengefasst als Ausdruck von Weisheit betrachtet
werden kann. Deswegen müssen die Menschen, die diese Bauwerke erstellt
haben, nicht unbedingt weise gewesen sein oder von Weisheit durchdrungen
gewesen sein. Es ist ein Gemeinschaftswerk entstanden aus den
unterschiedlichen Gedanken, aus dem verschiedenen Können und Wissen der
beteiligten Bauleute.
Ein so gewachsenes Bauwerk führt zu einem Ganzen, das dadurch nicht nur
zu einem die Zeiten überdauernden Werk geworden ist, sondern das beinhaltet,
was man als Weisheit bezeichnen kann. Diese Bauleute waren sehr
wahrscheinlich Menschen wie du und ich. Dabei gibt es sicher auch Ausnahmen,
nicht zuletzt unser Meister Hiram Abif, selbst wenn wir ihn als eine
mystische Figur betrachten.
Musik als Ausdruck von Weisheit
Es gibt aber nicht nur Gemeinschaftswerke. Ebenso haben einzelne Menschen
durch ihre Tätigkeit, ihr Wirken und ihre Leistung, ihr Schaffen, Werke
vollbracht, die durchaus Weisheit beinhalten. Als Beispiel dafür nehme ich
die Musik. In besonderer Weise denke ich da an unsern Bruder Wolfgang
Amadeus Mozart. Die in seiner Musik zu oft überhörte Hintergründigkeit, das
plötzliche Auftauchen von Sequenzen und Gedankenblitzen, offenbaren eine
Fülle von Weisheit. Um diese zu erkennen, sollte man seine Musik nicht in
einzelne Teile zerlegen sondern stets als Ganzes in sich aufnehmen. Nicht
durch das Herausheben oder Betonen des einzelnen Satzes einer Sonate, einer
Sinfonie, eines Streichquartetts oder einer Arie offenbart sich etwas von
Weisheit sondern durch das ganze Werk. Aber deswegen war Mozart nicht weise
und auch kein Weiser. Er musste ein Mensch wie du und ich sein, um die Fülle
seiner Gedanken für uns normale Menschen verstehbar zum Ausdruck bringen zu
können.
Dabei kommt die Schwierigkeit zum Tragen, dass viele Menschen kein
offenes Ohr für Musik haben. Aber um eine Ahnung von dem zu bekommen, was in
dieser Musik auch für nicht mit einem musikalischen Ohr ausgestattete
Menschen steckt, hat er seine Musik mit einer unwahrscheinlichen Schönheit
gestaltet, die eine Ahnung von Weisheit aufkommen lässt, die sich oftmals in
der Bewunderung der Vielfalt der Schaffenskraft Mozarts äussert.
Gleiches lässt sich auch von der Dichtkunst und der Malerei sagen. Wenn
man an Weisheit denkt, entsteht automatisch eine Verbindung zu einem
Menschen, der dies oder jenes gesagt hat, so oder anders, in für uns oft in
unbegreiflicher Weise, gelebt hat. Man vergisst oft, dass Erschaffenes von
einzelnen oder einer Gemeinschaft Weisheit zum Ausdruck bringen kann.
Weisheit ist so etwas Umfassendes und Erstrebenswertes, dass man nicht nur
weise Menschen als Vorbilder benötigt, sondern eben Werke, die in ihrer
Vollendung als Ausdruck von Weisheit, Stärke und Schönheit etwas von dem
aufzeigen, was Weisheit beinhaltet. Und die daraus erwachsenen Erkenntnisse
gilt es dann so verstehen zu lernen, dass sie einem etwas von dem
offenbaren, was Weisheit ist und es so erstrebenswert für das eigene Leben
machen.
Weisheit wird mit Kulturkreisen und von uns vor allem auch mit Menschen
in Verbindung gebracht. Bezogen auf den Menschen, drückt sich Weisheit hier
am ehesten als konkretes Element aus. Und hier meint man, als Weisheit
verstanden, vor allem die Lebensführung der als Weise bezeichneten Menschen.
In einer Lebensführung, die mit dem, was sie sagen, mit dem übereinstimmt,
wie sie leben.
Aber auch hier gibt es Unterschiede, die sich in Worten ausdrücken, wie
Bauernweisheiten oder als Gegensatz dazu die Weisheit des Buddhismus. Kann
man Bauern, die aus ihrer Erfahrung, der Beobachtung der Natur, ihrem Können
bestimmte Gedanken formulieren, die sich auf ihren Berufsstand beziehen,
schon als Weise bezeichnen? Sicher geht das schon in die Richtung von der
Vorstellung, was Weisheit ist, aber kaum aus philosophischer Sicht. Denn
ihre Sicht ist alleine auf ihren Berufsstand bezogen. Und das ist zu
einseitig. Weisheit ist umfassender.
Weisheit ist ein Suchen
Weisheit ist auch vor allem ein Werden, ein dauerndes sich Bemühen, ein
ewiges Lernen, ein Aufnehmen von Gedanken, das Verarbeiten von Erlebnissen,
und das alles dann durch einbauen in sein Leben zu dokumentieren ist.
Diesbezüglich kann Sokrates bestimmt als Weiser bezeichnet werden, weil er,
so viel man von ihm weiss, lebte, was er lehrte. Denn was mit Weisheit stark
verbunden ist, ist das sittliche Handeln. Sokrates lehrte uns, dass ein
Wissen um sich selbst, im Sinne von «Erkenne dich selbst», eine Tugend ist.
Als ein Beispiel des Werdens, um Weisheit erlangen zu können, kann man
den Kirchenvater Augustinus bezeichnen. So schreibt Hans Joachim Störig in
seinem Buch «Kleine Weltgeschichte der Philosophie» von ihm: «Unruhig, in
unablässigem Suchen und mancherlei Verirrungen, war in der Tat sein Leben,
bis er im Christentum die innere Ruhe fand.» Was heisst das in Bezug auf die
Weisheit? Dass um weise zu sein, man eine innere Ruhe benötigt, und dass
Weisheit keine statische Sache ist, sondern, wie bereits erwähnt, ein
Suchen, Werden und Fragen ist.
Deshalb ist Weisheit auch keine einmal festgelegte Denkweise. Die
Weisheit Salomos und all der andern Weisen ist als Weisheit unbestritten. Ob
sie aber in unsere Zeit wortwörtlich umgesetzt werden kann, ist eine ganz
andere Sache. Denn eines ist gewiss, dass die Weisheiten aller grossen
Denker, wer sie auch waren und aus welchem Kulturkreis sie auch stammen
mögen, immer in ihrer Zeit, aus ihrem Lebensumkreis entstanden sind. Sie
beinhalten unveränderliche Werte, die von uns heute zeitgemäss umgesetzt und
erarbeitet werden müssen.
Und hier hat die Freimaurerei eine grosse Aufgabe. Die Ziele, Werte und
Inhalte der Freimaurerei sind voll Weisheit, die es durch ständiges Arbeiten
an uns selbst zum Tragen zu bringen ist. Dabei darf man nicht vergessen,
dass das sich Bemühen um Weisheit und dem Umsetzen des freimaurerischen
Gedankengutes, keine leichte Aufgabe ist. Sokrates musste den
Schierlingsbecher trinken. Aber sein Gedankengut lebt weiter.
Die Freimaurerei wurde und wird verfolgt. Aber sie besteht. Der
Freimaurer selber wird vielleicht als Sonderling betrachtet. Und wer will
das schon? Aber ohne das Streben nach Weisheit kann die Welt nicht
überleben. Das ist eine Zielsetzung wie der Bau des Tempels der Humanität.
Das ist die Aufgabe vor der wir als Freimaurer stehen.
Ob dabei unser bekanntes Dreieck helfen kann, ist jedem Freimaurer selbst
überlassen. Dieses Dreieck auf die Weisheit bezogen, kann man wie folgt
gestalten. Eine Ecke des Dreiecks wird mit «Wissen speichern» bezeichnet,
die zweite Ecke mit «im Herzen aufnehmen» und die dritte heisst «beides
anwenden». Vielleicht erblüht dann in der Mitte des Dreiecks die Weisheit
als leuchtende Sonne.