Schule ist ein Ort, an dem Wissen vermittelt und aufgenommen wird
Die Freimaurerei als Lebensschule
Auf die Freimaurerei bezogen ist der Ort des Lernens in erster Linie
der Tempel. Der Lernprozess erstreckt sich, da es sich hier nicht allein um
verstandesmässiges Aneignen von Wissen, sondern vielmehr um die
Wesens-Bildung des Schülers handelt, über sein ganzes Leben. Das ist die
Quintessenz aus vier verschiedenen Vorstellungen von Brüdern der Loge
Bauplan, die nun hier zusammengefasst werden.
ANTON FESSLER (Schweizer Freimaurer-Rundschau: März 2004)
Vor dem Eintritt in die «erste Klasse» wird der Schüler in eine dunkle
Kammer gebracht, wo er angesichts des Todes in stillem Nachdenken verharrt.
Hier soll ihm klar werden, dass Bildung nicht allein durch den rationalen
Verstand bewirkt wird, sondern vielmehr durch ganzheitliches Erleben. In
zweiter Linie besteht die Arbeit des Schülers in eifriger Mitarbeit in den
Konferenzen, wo sich zu den Arbeiten in kühler Logik die Esoterik gesellt.
Symbole als Schulmittel
Die Wurzeln der Freimaurerei sind nicht verlässlich auszumachen und
reichen geistesgeschichtlich viel weiter zurück, als angenommen wird.
Ungezählte Legenden ranken sich um die Ursprünge und die Geschichte des
Ordens. Erklärungen organischer Nachfolgerschaft des Tempelordens, der
römischen, griechischen, ägyptischen Mysterienbünde sind nicht ernst zu
nehmen – wenngleich sich viele ihrer Erkenntnisse in unseren Symbolen
widerspiegeln.
Im sechsten vorchristlichen Jahrhundert gründete Pythagoras, ein
Eingeweihter der Thot-Mysterien, (der ägyptische Gott Thot soll schon vor
etwa fünftausend Jahren 42 Bände geschrieben haben, die alle Weisheit der
Welt enthalten) in Kroton, in Süditalien, einen eigenen ionisch-griechischen
Geheimorden mit hierarchischem Aufbau und einem inneren Kern aus
Initiierten, die in den grosse Mysterien unterrichtet wurden.
Symbolik ist ein ganz wesentlicher Teil der Freimaurerei. Archetypen
rühren an das Unbewusste des Schülers und stellen für ihn die Verbindung her
vom Punkt zum Kreis, vom Inneren zum Äusseren, vom Geist zum Verstand – und
umgekehrt. Symbole lassen eine geistige Filiation erahnen und vermitteln
inhaltliche Inspirationen. Suchet und ihr werdet finden: Das Geheimnis der
Freimaurerei lebt in des einzelnen Brust!
Reflexionen
Die (Selbst-) Prüfungen finden im täglichen Leben des Maurers statt. Da
der einzelne Bruder im Gedanken- und Arbeitsgebäude unseres Bundes
verschiedene Bausteine findet, die für sein persönliches Denken und Leben
eine spezifische Bedeutung haben und dieses entsprechend prägen, kann auch
nur er selber die Qualifikation seiner Entwicklung ermessen. Reflexionen
über das eigene Handeln im täglichen Leben und über die Bedeutung der
eigenen Person im Rahmen der ganzen Gemeinschaft zeigen ihm den Fortschritt.
Und wieder sind es Symbole, die als Gradmesser und Impulsgeber zugleich
dienen: der raue Stein, in kubische Form gebracht, und der Tempel zu dessen
Vollendung und Schönheit der erstere gebraucht wird. «Erwäge immer den
wahren Beweggrund Deiner Handlungen und Du wirst mit Verwunderung sehen, wie
weit Du noch von der Tugend entfernt bist». Es obliegt jedem Einzelnen,
diesen Aufruf überhaupt wahrzunehmen und dann mit konkreten Inhalten zu
füllen.
Hindernisse
Wer aus der Freimaurerei etwas für das Leben lernen will, tut sich
schwer, wenn er nur zuhört oder sich in die Literatur einliest. Seine
«private Logik» wird ihm stets nur das vermitteln, was er vorher schon
wusste. – Normalerweise. Freimaurerische Lehre durch Symbole und Ritual ist
eine vorzügliche Methode, die aber nur dann zum Erfolg führt, wenn der
Kandidat offen und bereit ist und sich vom Dargebotenen tiefgehend berühren
lässt. Aber es kommt vor allem auch auf diejenigen an, welche (wie gesagt
wird) im Lichte stehen, ob sie aus innerster Überzeugung diese Handlungen
übernehmen wollen. Vorbereitung und Nachsorge im Umgang mit dem Kandidaten
müssen ein ebensolches Gewicht erhalten. Das Loslassen des «alten» Menschen
ist gefordert, um zu neuer Autonomie zu gelangen.
Freimaurerei muss sich in tief greifender Weise abheben von
gesellschaftlichen Klubs – muss bescheidener werden – wenn sie sich als
Lebensschule anbietet und will, dass die gewünschten Initiations- und
Individuationsprozesse glücken sollen! Das Forschungsziel in der okkulten
Wissenschaft der Freimaurerei ist die wahre Natur des Menschen.
Utopien und Symbole
Utopien sind Schilderungen eines erdachten oder erhofften Idealzustandes
der menschlichen Gesellschaft. Modell-Gedanken – Denk-Modelle – die einen
Entwicklungstrend eines Volkes, einer Gesellschaftsgruppe, einer
Gemeinschaft vorgeben oder zumindest einleiten.
Wir können hier an die Gründer der grossen Weltreligionen, wie Moses,
Buddha, Jesus und Mohammed denken – oder etwas näher – an Jules Vernes
Romane – oder noch näher an Jean Gebsers «Integrales Denken» oder auch an K.
O. Schmidts «Aus der Sicht des Wassermann- Zeitalters» und viele andere. (An
dieser Stelle sei auch auf die grossartige Arbeit von Peter Zollikofer in
der Alpina Nr. 10/2002 «Freimaurerei im Paradigmenwechsel» verwiesen).
Wie viele Bücher müssen wir noch lesen – wenn wir sie finden – um unseren
Blick über den eigenen Zaun der «gestrigen Welt» hinaus zu wagen? Hinaus in
die Grösse, die Schönheit, die Einheit der Menschheit und der Schöpfung! Und
wie viel einfacher ist es doch, über ein paar maurerische Symbole zu
kontemplieren, zu meditieren.
Der Stein
Unser hauptsächlichstes Symbol ist der Stein. Sollen wir wirklich nur
seine äussere Form bearbeiten? Oder gibt es da noch eine andere Version? Im
Hebräischen wird der «Stein» ABeN geschrieben, eine Zusammenfügung von AB
(Vater) und BeN (Sohn), was bedeutet: «Ich und der Vater sind eins» oder
«Gott und Mensch (die Menschheit) sind eine Einheit». Das sollte ja nun
schon reichen, um den Faden weiter zu spinnen. Unsere Rituale sind voll von
tiefer Symbolik, die aber hier nicht im Einzelnen dargelegt werden können.
Eine Analogie
Man könnte sich eine Seele oder Wesenheit – nur der Analogie willen – als
einen bewussten, lebendigen, göttlich inspirierten Computer denken, der
seine eigenen Existenzen und Lebenszeiten programmiert. Aber dieser Computer
ist schöpferisch so hochbegabt, dass alle die vielfältigen Persönlichkeiten,
die er entwirft, ins Bewusstsein – ins Leben – treten und ihrerseits
wiederum Realitäten schaffen, die sich der Computer selber nicht hätte
träumen lassen. Die Seele, oder Wesenheit, geniesst völlige Freiheit, muss
sich aber in den Rahmen der Existenz, auf die sie programmiert wurde,
einpassen. In den geheimsten Tiefen der Persönlichkeit ist jedoch in
konzentrierter Form das gesamte Wissen lebendig, das in dem Computer als
ganzem wohnt.
Die Spirale
In dieser Hinsicht ist die Spirale eines der umfassendsten Symbole. Wie
keine andere Darstellung zeigt sie uns den Schöpfungsverlauf – vom nicht
existenten Punkt der Einheit in die Dualität. Mit dem «Es werde Licht» wurde
automatisch auch die Dunkelheit hervorgebracht. Die Spirale, dargestellt als
eine gekrümmte helle und eine ebensolche dunkle Linie, führt uns aus der
Einheit weg, über die Dualität in eine unvorstellbare Vielheit und
Lichtferne und um ein weiteres Mal die Bibel zu zitieren – hinaus in die
«äusserste Finsternis, wo Heulen und Zähneknirschen herrscht.»
Seinem freien Willen obliegt es – ob und wann – er auf seinem Computer
den Suchbegriff «Rückkehr» anklicken will. Jeder kennt ja die Parabel vom
«Verlorenen Sohn.»
Zeitlose Aspekte
Der Freimaurerbund besitzt Rituale und Symbole, die in ihrem zeitlos
gültigen Aspekt für die Brüder – bei richtigem Gebrauch – eine entscheidende
und umfassende Lebenshilfe darstellen. Freimaurerei ist primär keine fest
umrissene Lehre, sondern eine Methode, ein «nachzugehender Weg» mit einer
notwendigen Bandbreite, die dem einzelnen Bruder – den seinen individuellen
Voraussetzungen entsprechenden Spielraum – gestattet.
Wir können Freimaurerei auch als meditative Technik anhand vorgegebener
Rituale und Symbole bezeichnen. Sie soll die Eingeweihten zu
geistig-seelischer Vertiefung, zur Bewusstseinserweiterung und zu fruchtbar
schöpferischer Tat zum Wohle der ganzen Schöpfung dienen. – So gestaltet
sich die Freimaurerei zur Lebensschule.