Was Freimaurerei leisten soll und was sie ist.
Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der
Flamme
Eine Reflektion von Karsten Oelckers, Altpräsident der UFL Deutschland
Die Freimaurerei ist in ihrem ganzen Wesen und Inhalt international und
universell. Sie ist eine Schule, in der die überkommenen Werte unserer
Zivilisation und die allgemein feststehenden und anerkannten Tugenden in
einer Weise gelehrt werden, die den Menschen zur Selbsterkenntnis führt. Die
Freimaurerei ruht auf Werten, die unverrückbar sind. Diese Werte werden
symbolisiert durch die Säulen: Weisheit, Stärke und Schönheit. Die
Freimaurerei ist Arbeit an der Veredlung des Menschen. Sie ist nicht nur
eine Bruderschaft. Sie ist auch und vor allem ein Mysterienbund.
Freimaurerei ist das Erlebnis des Übersinnlichen und Absoluten. Ergebnis
ist Wissen, ist letzte Wahrheit. Der Weg des Maurers ist der Weg zur letzten
Erkenntnis, ist mystisches Begreifen des Weltbildes und des letzten Dinges
unseres Daseins. Die Wege der Menschen sind die Wege des Alltags im
Irrgarten der Sinne und der Gedanken. Die Mauern der Erscheinungsformen
engen den Blick, verschliessen den Horizont. Rastlos eilt der Mensch durch
die verschlungenen Pfade seiner Gedankenwelt, um nach langer Irrfahrt wieder
zum Ausgang zurückzukehren. Er hat den Aspekt der Ewigkeit verloren.
Brennend ist die Sehnsucht des Menschen nach reiner Erkenntnis. Der
Mensch schaut nach innen und grübelt über die Bilder, die er empfängt. Es
ist die innere Schau, die allein die Wahrheit erschließen kann. In den
Sinnen befangen, vermag er nicht das Übersinnliche zu erleben.
Alle Wissenschaft ist bedingte Wahrheit
Die Wissenschaften der Völker haben als Dogma die Haltbarkeit des
Verstandes und die Beweiskraft der sinnlichen Erfahrung. Eingepresst in die
starren Formen niederer Erkenntnisse finden sie nicht den Weg vom Einzelnen,
Bedingten, zum Allgemeinen und Absoluten. Alle Wissenschaft ist bedingte
Wahrheit, ein ewiges Suchen und Forschen, aber kein letztes Wissen, das
allein aus dem Erlebnis kommt.
Freimaurerei ist die Wissenschaft ohne Dogma. Ihr Wissen – im letzten
Sinne – kann mit dem Verstand nicht begriffen werden. Sie kann daher niemals
in Widerspruch stehen mit den immer wechselnden, immer sich widersprechenden
Ergebnissen menschlicher Forschung. Ihr Wissen liegt auf der übersinnlichen
Bewusstseinsphäre. Freimaurerei ist das Erlebnis des Unsichtbaren,
Unbegreiflichen. Freimaurerei ist mystisches Erleben. Das Motto der
Freimaurerei ist: Erkenne Dich selbst und Du erkennst Gott und damit den
allmächtigen Schöpfergeist (oder: Erkenne Deinen Geist und Du erkennst die
ewigen Gesetzmässigkeiten. – Verändere Deinen Sinn und Du veränderst die
Welt). Das Buch heiliger Gesetze (Bibel, Koran, Weisses Buch) ist
Richtschnur, das Winkelmass dient zum Abmessen unserer Handlungen und der
Zirkel umschreibt unsere Wünsche und hält unsere Leidenschaften in Grenzen.
Dem Erreichen der Ziele und dem Umgang der Brüder miteinander dienen als
Hilfe die «Alten Pflichten von 1723». Alle danach erlassenen Verlautbarungen
oder Bestimmungen – gleich von welcher Grossloge für erforderlich erachtet –
sind in ihrem Kern überflüssig. Sie verstossen gegen die Grundsätze der
«Alten Landmarken». Es würde sich lohnen, die zahllosen späteren Erklärungen
von Grosslogen, was die «Landmarks» sind oder sein sollten, auf den
Müllhaufen der Irrungen zu werfen.
Verrücke die Grenzen nicht
Die Bibel erwähnt in «Sprüche Salomos» worum es geht: «Verrücke nicht
die alte Grenze, die deine Väter schon errichtet haben!» oder – aus einer
anderen Übersetzung: «Treibe nicht zurück die vorigen Grenzen, die deine
Väter gemacht haben». (Altes Testament: Sprüche 22, Vers 28). Alle
Erklärungen, was die «Landmarks» sind, dienen der Ausgrenzung, der
Machtfülle und der Eitelkeit. Sie trennen den Suchenden von der Wahrheit ab
und führen ihn in Erklärungsnotstände. Deshalb gibt es auch so viele
Freimaurer, die auf die Frage, was Freimaurerei sei, dahingehend antworten,
was sie nicht ist.
Die im Jahre 1929, in einer Extremlage europäischer
Konfrontationspolitik, von den britischen Grosslogen verabschiedeten und von
zahlreichen Grosslogen dieser Welt anerkannten «Basic Principles» verstossen
in ihrem Kern gegen die «Alten Pflichten von 1723». Die «Alten Pflichten von
1723» sind das einigende Instrument internationaler freimaurerischer
Ordnung. Es gilt für alle freimaurerische Obödienzen, zu diesen Grundsätzen
zurückzukehren. Indem der Freimaurer seinen Geist fordert, fördert er die
geistige Auseinandersetzung. In diesem Selbstverständnis hat sich leider
seit der Aufklärung auch innerhalb der Freimaurerei ein schleichender
Verfall der Geisteshaltung vollzogen, an dessen Beseitigung wir jetzt
Mitverantwortung tragen. Die Freimaurerei hat gewissermassen etwas
gutzumachen in einer Welt, die ihr Ziel angeblich nur in der Vernunft sehen
kann und damit Gefahr läuft, die Wahrheitssuche zu vergessen. Wir Freimaurer
müssen eine Zeit der erneuten Aufklärung einleiten. Wer Fehlentwicklungen
erkennt und sein Fehlverhalten nicht ändert, wird schuldig. Insoweit gilt
es, sich bei einer neuen Aufklärung zumindest aktiv zu beteiligen.
Wäre die Freimaurerei eine künstliche Theorie, leistete sie eine Arbeit,
die die Wirklichkeit abstrahiert. Die Freimaurerei wäre dann nicht mehr als
eine Sekte von Romantikern, die sich gegenseitig bestätigten, welche
«Gutmenschen» sie seien. Jene Maurer, die an der Wirklichkeit
vorbeiarbeiteten, entfernten sich von dem Dienst an der Humanität. Solche
Maurer erstickten bald in ihrem Dogmatismus; sie wären zusehends unfähig,
die Wahrheit zu erkennen. Ihre Augen wären von jenem Staub bedeckt, den sie
beseitigen sollten.
Die Freimaurerei muss sich von Vorurteilen befreien
Der Freimaurer muss sich von Vorurteilen befreien, indem er die geistigen
Fesseln ablegt. Ein freier Mensch muss sich die Liebe zur Freiheit bewahren
und ständig erneut erarbeiten. Die Gedanken eines «freien Menschen von gutem
Ruf» müssen so frei sein, dass er imstande ist zu zweifeln, er erhebt sich
über das Dogma. Dann ist er imstande, in Liebe die Wahrheit zu suchen und
einen Beitrag zu leisten, sich selbst und die Menschheit auf eine höhere
geistige Ebene zu leiten. Hinsichtlich der Auseinandersetzung der Brüder mit
Themen der Zeit gilt das, was Bruder Johannes Edward Bing bereits 1929 unter
dem Thema «Ist die Freimaurerei reformbedürftig?» behandelte:
• Den konstruktiven Patriotismus pflegen, aber den Chauvinismus
bekämpfen,
• der Politik die Pforten der Logen verschliessen, aber innerhalb der
Bruderkette sich intensiver mit den Zeit bewegenden Problemen
auseinandersetzen;
• schliesslich die Toleranzidee nicht nur in die Aussenwelt tragen, sondern
auch in den eigenen Reihen pflegen.
Der vielfach geäusserte Ansatz, dass sich in Logen nicht über Politik und
Religion geäussert wird, ist in lebendigen Logen aus verständlichen Gründen
nicht realisiert. Zahlreiche Logen missverstehen jedoch ihren Auftrag in
jenem vorauseilendem Gehorsam, das die Obödienz zur Grenze erklärt. Dieses
hat zur Folge, dass Brüder an den Realitäten vorbei leben. Diese Haltung
gibt Tendenzen Vorschub, die Freimaurerei als Ersatzreligion einzustufen.
Wie Bruder Johannes E. Bing äusserte, so wollen wir die Pforte der Loge
während der Tempelarbeiten der Politik verschliessen, uns jedoch an unseren
Bruderabenden mit den gesellschaftsrelevanten Fragen unserer Zeit umso
intensiver beschäftigen, ohne jedoch einer speziellen parteipolitischen
Richtung Prioritäten einzuräumen. Hieraus folgen die Freiheit des Geistes
und die Toleranz gegenüber der Freiheit des anderen.
Wahre Souveränität gibt es nur, wenn sich der Mensch, wenn sich eine
Gemeinschaft und wenn sich die Länder bewusst und willentlich entschliessen,
sich für das Wohlergehen des anderen Menschen, der anderen Gemeinschaft und
des anderen Landes einzusetzen, das heisst deren Sichtweise zu erkennen und
zu respektieren. Dieses Prinzip baut auf
Bildung, Erkenntnis und besonders auf Liebe auf. Hierin liegt der Geist, dem
wir uns als Freimaurer verpflichtet sehen.