Das ist eine Frage, die uns Freimaurer und auch die profane Welt immer
wieder bewegt hat.
Ist die Freimaurerei eine Religion?
Von Heinrich Erne-Châ teau, Loge Osiris, Basel
Wir Freimaurer pflegen die Rituale. Von den meisten Brüdern werden unsere
Rituale als integrales Element der Freimaurerei betrachtet. Rituale sind
ohne Zweifel und vor allem, wenn man sie die ersten Male miterleben darf,
wenn sie noch neu sind, feierliche, eindrückliche und tiefsinnige
Ereignisse. Sind die Rituale nur ihrer Form wegen so feierlich, oder trägt
der Inhalt ein Wesentliches dazu bei? Mit Bezug auf die symbolische Ebene
kann berechtigterweise behauptet werden, dass der kubische Stein zuerst
einmal seiner Form wegen als Baustein des Welt umspannenden Tempels taugt,
aber ohne gutes Material wertlos wäre.
Mit den Ritualen schaffen wir einen geschützten Rahmen, in dem Kräfte und
Energien geschöpft werden. Es sind Kräfte, die wir eigentlich alle schon in
uns bergen, die aber oft verschüttet sind. Mit den symbolischen Handlungen
in den Ritualen setzen wir in der sichtbaren Welt Zeichen, die in der
unsichtbaren Welt, das heisst in der Welt der Gefühle und des Geistes,
heilende Kräfte wachrufen sollen.
Rituale geben uns Orientierung in unserer unsicheren, oft verwirrenden
Welt und vermitteln das Gefühl, in einer Gemeinschaft geborgen zu sein.
Insbesondere die spirituellen Perspektiven des Meisterrituals oder des
Trauerrituals lassen die Vorstellung entstehen, dass menschliches Dasein in
etwas Grösserem eingebettet ist, in etwas, was den Tod überdauert.
Damit rücken wir dicht an die Grenze zur Religion oder haben diese
bereits überschritten, und doch wird immer wieder behauptet, die
Freimaurerei sei keine Religion und ebenso wenig ein Religionsersatz. Zu den
wesentlichen Verdiensten der Religion zählt der Abbau der Angst vor der
Unsicherheit des Daseins, aber auch die Vermittlung von Hoffnung über den
Tod hinaus. Das ist die eine Seite. Die andere Seite stellt das pure
Gegenteil dar, wenn sie den Teufel an die Wand malt, die armen Seelen im
Fegefeuer schmoren lässt und die Höllenqualen in allen möglichen
Schattierungen zu illustrieren versteht.
Religion befasst sich wie die Freimaurerei mit den grossen Fragen des
Lebens, mit der Frage nach dem Ursprung, nach der Geschichte einerseits und
mit der Frage nach der Zukunft des Menschen andererseits. – Woher komme ich?
Wohin gehe ich? – Bei der Antwort auf diese Fragen zeichnet sich zwischen
Freimaurerei und Religion ein erheblicher Unterschied ab.
Die Religion gibt eine klare Antwort, und sie sucht nach Menschen, die
daran glauben. Demgegenüber lässt die Freimaurerei die Frage unbeantwortet
und sucht nicht Gläubige, sondern Denker, um die Fragen einer schlüssigen
Antwort näher zu bringen. Eine Religion verfügt über ein verbindliches
Wertsystem. Dieses System vermittelt Vorstellungen darüber, was richtig und
falsch und was gut und böse ist, wie man zu handeln und in mancher Hinsicht
auch zu denken hat. Damit wird deutlich, dass sich nicht nur die
Freimaurerei, sondern auch die Religion mit ethischen Fragestellungen
auseinandersetzt. In ihrem Internetauftritt distanzieren sich die Basler
Freimaurer-Logen entschieden davon, die Freimaurerei mit einer Religion oder
einem Religionsersatz gleichzusetzen. Sie halten die Freimaurerei für eine
Lebensschule, eine Lebenshaltung und eine Philosophie. Weiter machen sie
geltend, dass die Freimaurer jegliches Dogma und jegliche Ideologie
ablehnen. Die Rituale der Freimaurer seien keine religiösen Handlungen und
frei von Offenbarungen – sie seien von Menschen geschaffen. Sie würden im
Übrigen nichts enthalten, was der Vernunft widerspreche.
Über das Verhältnis der Freimaurerei zur Religion gibt auch ein Dokument
Auskunft, das im Juni 1983 von der Vereinigten Grossloge von England
angenommen wurde und den Titel «Freimaurerei und Religion» trägt. Daraus
möchte ich ein paar ergänzende Aussagen zitieren:
– Die Freimaurerei verlangt von ihren Mitgliedern den Glauben an ein
höchstes Wesen, vermittelt aber kein Glaubenssystem.
– Die Freimaurerei ist offen für Menschen aller Glaubensbekenntnisse.
– Die Bezeichnung für das «Höchste Wesen» erlaubt Männern unterschiedlicher
Glaubensbekenntnisse, sich im gemeinsamen Gebet zu vereinigen, – jeder zu
dem Gott, den er sich vorstellt
– Es gibt keinen besonderen freimaurerischen Gott, der Gott eines
Freimaurers bleibt der Gott des Bekenntnisses, dem er angehört. In den
Grundsätzen der Schweizerischen Grossloge Alpina steht geschrieben: «Der
Freimaurerbund arbeitet zu Ehren des allmächtigen Baumeisters aller Welten».
Die Anerkennung einer Transzendenz rechtfertigt nicht nur moralische und
ethische Wertmassstäbe, sondern verleiht dem menschlichen Dasein einen
tieferen Sinn. Wenn ein Bruder stirbt, wird seiner in einer Trauerloge
gedacht. Wir wissen, dass der Allmächtige Baumeister aller Welten ihn «zu
höherer Arbeit» in den «Ewigen Osten» gerufen hat. Über konkrete
Jenseitsvorstellungen sagt die Freimaurerei allerdings nichts, sondern
überlässt auch diese jedem einzelnen Bruder.
Es ist nun an der Zeit sich zu fragen, was Religion denn eigentlich
bedeutet, was sie charakterisiert. Der Begriff «religio» hat in der
lateinischen Sprache schon die unterschiedlichsten Bedeutungen verpasst
bekommen: Gottesfurcht, Frömmigkeit, Heiligkeit, aber auch Rücksicht,
Bedenken, Skrupel, Gewissenhaftigkeit oder Aberglaube. Die Bezeichnung
religare bedeutet im Lateinischen anbinden, zurück binden, aber auch
festhalten oder an etwas festmachen. Gemäss der Enzyklopädie Wikipedia
konnte bisher keine Religionsdefinition allgemeine Anerkennung finden. Auch
in der Religionswissenschaft existieren viele unterschiedliche Definitionen
nebeneinander. Beispielsweise wird Religion oftmals als ein in grösseren
Bevölkerungsgruppen verankertes System von Vorstellungen über die Existenz
von Gegebenheiten jenseits des sinnlich Erfahrbaren bezeichnet. Die durch
die Religion überlieferte Welterklärung beziehungsweise Anleitung zur
Lebensbewältigung wird in der westlichen Welt häufig mit der Kurzformel
«Glaube» zusammengefasst. Dabei handelt es sich um den Glauben an eine oder
mehrere persönliche oder auch unpersönliche transzendente Wesenheiten, zum
Beispiel eine Gottheit, Geister oder Ahnen, oder es geht um andere
Vorstellungen, wie Nirwana und Jenseits. Einige Religionen beruhen auf
philosophischen Systemen, beispielsweise der Buddhismus, bei anderen ist die
Spiritualität stark ausgeprägt, der Katholizismus zählt dazu. Den meisten
Religionen sind Symbolsysteme und Rituale eigen.
Auf dem von mir gezeichneten Hintergrund die Behauptung aufzustellen,
dass die Freimaurerei keine Religion und auch kein Religionsersatz sei,
erscheint mir, gelinde gesagt, zumindest fragwürdig. Ich meine, dass ein
Gedankenaustausch zu dieser Thematik lohnenswert wäre. Meine Absicht war,
zuerst einmal ein paar einschlägige Überlegungen zu bedenken zu geben.