Hierarchien durchziehen unser ganzes Leben
Im Dreiklang zum Ganzen
Das hierarchische Leben stellt uns immer wieder vor schwierige
Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen. Sei es im Beruf oder in der
Familie. Im Grunde geht es immer darum, als natürliche Autorität, das heisst
als gutes Beispiel voranzugehen.
Adrian Bayard - Humanitas in Libertate, St. Gallen (Schweizer
Freimaurer-Rundschau: August/September 2008)
Mein Sohn fragte mich neulich, was die Ameisen in einem Ameisenhaufen
machen würden. Wohnen die da? Wie leben die denn so nahe aufeinander? Ich
muss gestehen, ich musste eine Weile überlegen, wie das immer so ist, wenn
Kleinkinder so belanglose Fragen stellen; schliesslich schlage ich mich in
meinem Alltag mit ganz anderen – viel wichtigeren Fragen herum als das
Zusammenleben der Ameisen zu studieren! Wie töricht! Ich sagte so etwas wie:
da würden sehr viele Ameisen in diesem Bau leben; er sei durchsetzt von
vielen Gängen und Räumen und da gebe es Chefameisen und Arbeiterameisen.
Letztere verliessen den Bau, um Sachen zu sammeln, die dann in den Bau
geschleppt würden und die Grundlage für die ganze Ameisenkolonie böten. Da
gebe es eine strenge Hierarchie. – Aha?! Ich wusste, ich hatte nicht
gepunktet. Und doch, wenn ich an dieser Stelle über Hierarchie und
Demokratie schreiben soll, dann liegt dieses Gleichnis gar nicht so weit
weg.
Drei Ebenen der Hierarchie
Der Begriff der Hierarchie enthält zwei Elemente: hieron: das Heilige und
arché: Ursprung bzw. archein: herrschen. Das Wort beschreibt also eine durch
Ursprung geheiligte Ordnung. Es schieben sich somit drei Ebenen
übereinander: das unfassbare Heilige (Urquell jeder Energie), das
Transzendente und schliesslich das fassbare Irdische, die Ebene des
Profanen. So wie das Licht eine Quelle der Energie ist, als Helligkeit
leuchtet und als Farben in unsere Welt tritt.
Früher, unter dem allumfassenden Einfluss der kirchlichen Instanz,
bestand die Legitimation in der göttlichen Absolutheit. Mit der Aufklärung
und der Herausbildung moderner Demokratien wurde der alleinige kirchliche
Anspruch auf Hierarchien in Frage gestellt. Es entstanden in Laufe der Zeit
weitere Arten von Hierarchien wie zum Beispiel militärische Hierarchien,
Beamtenhierarchien, Rangordnungen des Rechts oder der im Zuge der
Arbeitsteilung in der Industrialisierung entstandene Organisationsbegriff.
Allen ist heute gemeinsam, dass solche Hierarchien durch die Säkularisierung
nicht mehr (nur) von «oben» legitimiert sind, sondern vielmehr
Herrschaftssysteme sind, die durch sozialen Konsens zwischen «Herrschern»
und «Beherrschten» entstanden sind. Sie setzen also institutionalisierte
Ungleichheit voraus. Grundlegend für alle Gerechtigkeit ist jedoch im Alten
Testament der Bund Gottes, den er nicht nur mit seinem Volk, sondern auch
mit seiner ganzen Schöpfung geschlossen hat. Dementsprechend ist ein Mensch
gerecht, wenn er sich gemeinschaftstreu verhält, wo immer Gott seine
Lebensordnung gestiftet hat. Da stellt sich für mich die Frage, ob wir heute
bei demokratischen Prozessen wie zum Beispiel Abstimmungen wirklich das Wohl
des grossen Ganzen vor Augen haben oder doch eher nach Partikularinteressen
argumentieren und entscheiden.
Hierarchie im Alltag
Hierarchien findet man überall um uns herum. Die Vorteile sind
offensichtlich: Hierarchien verschaffen eine Ordnung, die Aufgaben,
Kompetenzen und Pflichten streng abgrenzt und ein geordnetes, sprich
effizientes Zusammenleben und –arbeiten ermöglicht. Ferner ist diese
Grundordnung auch Ausgangspunkt persönlicher Entfaltungsmöglichkeit. Würden
wir uns immer noch im Hobb’schen Naturzustand befinden, wo alle gegen alle
ihr täglich Brot und mehr verteidigen müssen, bliebe kein Raum für
Entfaltung und Musse.
Folglich stehen auch einige Nachteile an: Neid, Intoleranz und Ohnmacht
gegenüber starren Machtgefügen, die ihrerseits auch sehr innovationshemmend
sein können. Hierarchien sind per se weniger dynamisch und flexibel, weil
sonst dauernd die Strukturen in Frage gestellt würden und somit ein
wesentlicher Vorteil dahin schmelzen würde. In vielen Organisationen ist
Überlastung oder Unterforderung der Mitarbeitenden ein schwer wiegendes
Problem, das zu Desinteresse und abnehmender Produktivität führt. Der Mensch
verliert einen wichtigen Pfeiler: Freude und Harmonie im (beruflichen)
Alltag.
Hierarchien entstehen häufig aus Wertvorstellungen: Aristoteles setzte
beispielsweise die Hausverwaltungskunst, das heisst Selbstversorgung und
Dorfwirtschaft (Ökonomie) über die Kunst des Gelderwerbs und Handels
(Chrematistik). Der Handel als nicht-produzierendes Gewerbe war verpönt. Das
wirtschaftliche Produzieren dient heute hingegen vorab dem Individuum und
seinen Bedürfnissen; das gesellschaftliche Ganze ist weitgehend aus dem
Blickfeld verschwunden. Auch Bedürfnisse können in eine Hierarchie gebracht
werden, die wir in der Maslow’schen Pyramide wieder vorfinden, die gewisse
Bedürfnisse (Grund- oder Existenzbedürfnisse) anderen (soziale Zugehörigkeit
oder Prestigebedürfnisse) voranstellen. Auch wenn dies alles bekannt und
sehr banal erscheint; bei genauerem Hinschauen eröffnen sich doch
bemerkenswerte Punkte: in unserer heutigen Zeit, wo der Schein das Sein doch
sehr überglänzt, finden wir Menschen, die Luxusprodukte (z.B. ein neuer
Ferrari) als scheinbares Instrument zur Befriedigung von
Prestigebedürfnissen konsumieren; bei genauerem Betrachten dürfte es aber
nicht erstaunen, wenn hier bloss ein Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit
gestillt wird. Das Materielle hat die sinnliche Kontemplation besiegt. Und
wie steht es um unser Erziehungs- und Bildungswesen? Als ehemaliger
Kantonsschullehrer machte ich oft die Erfahrung, dass Eltern das Beste für
ihre Kinder wollten, indem sie das Beste mit Gymnasium gleichsetzten. Eine
akademische Karriere sollte das spätere Berufsleben sicherstellen und
materielle Sicherheit bringen. Das Handwerk wurde tiefer, niedriger
eingestuft.Was für eine Überheblichkeit! Wenn sich das nur nicht rächt!
In der Erziehung muss auch ich als Familienvater mir täglich aufs Neue
die Ermessensfrage stellen: wie viel Hierarchie will ich meinen Kindern
gegenüber ausleben. Sollen wir sie autoritär oder antiautoritär erziehen?
Letzteres ist eine Frage, die sich über die letzten 30 Jahre selbst
beantwortet hat; erstere vor 50 Jahren.Was ist also zu tun? Kinder (aber
auch Erwachsene!) brauchen Strukturen, um zu lernen und die Eindrücke zu
verarbeiten. Da bin ich als Vater (aber auch die Mutter) die Leitfigur, die
Autorität. Bloss: Autoritäten, die sich über das Alter, Hierarchiestufe oder
aus Anciennität definieren, sind auf Dauer unglaubwürdig und
kontraproduktiv. Wir können also nur als natürliche Autoritäten bestehen,
konkret: indem wir als gutes Beispiel vorangehen und vorleben, was sein
soll. Kommt uns Freimaurern das irgendwie bekannt vor?
Demokratie in der Freimaurerei
Wie sieht es nun aber bei uns selber aus? Haben wir nicht eben diese
strenge Hierarchie in unseren eigenen Reihen? Die drei Grade; ferner den
Meister vom Stuhl, den ersten und zweiten Aufseher? Den Hammer zur
symbolischen Disziplinierung? Wahrlich eine heikle Frage! Und doch: die drei
Grade sind nicht in einer ordinalen Stufung zu verstehen; ebenso sind die
drei Lichter «Weisheit», «Stärke» und «Schönheit» nicht hierarchisch zu
begreifen, sondern komplementär – sie ergänzen sich zu einem vollständigen
Ganzen. Die symbolische Disziplinierung soll uns vor Augen halten, dass die
Ideale, nach denen wir zu leben trachten, stets mit Arbeit verbunden ist –
eine Gratwanderung zwischen Wollen und Scheitern. Und die vermeintliche
Unterordnung in den ersten zwei Graden ist als Teil einer demütigen
Menschwerdung innerhalb einer toleranteren Gesellschaft zu verstehen – auch
wenn dies anfangs Mühe bereiten kann. Jeder bringt sich so ein in das Ganze
wie er nach seinen Eignungen und Neigungen vermag – ganz ohne Wertung und
Unterordnung seitens der anderen.
In der Biologie gibt es dafür einen Begriff: das Rhizom. Es handelt sich
dabei um ein nicht monohierarchisches Gebilde, also nicht um ein Gewächs,
das nur einen Stamm hat, und wenn man diesen Stamm oder Stängel durchtrennt,
stirbt auch das Gebilde. Vielmehr ist es eine Form verteilter, autonomer
Zweige wie beispielsweise das Internet oder eine Ingwerwurzel (siehe Bild).
Der Ingwer kann irgendwo abgetrennt werden, und er wächst an der anderen
Stelle weiter. So verstehe ich Freimaurerei. Jeder einzelne von uns
bearbeitet seinen Stein zum Bau des Tempels der Humanität; und wenn ein
Stein einmal ausfällt, so wird er durch einen anderen ersetzt – auch wenn
dieser eine andere Färbung aufweist oder etwas anders behauen ist – das
Bauwerk steht. Und wenn ich einmal nicht mehr da sein werde, wird mein Sohn
seine Fragen mit anderen besprechen und beantworten; und dann vielleicht, in
einem fernen Moment, selber seinen Kindern deren Fragen stutzend und
staunend zu beantworten versuchen.