Thema

Dialektik von Vorurteilen

Wie wir alle wissen, ist die Welt voller Vorurteile. Jeden Tag kommen neue dazu, und wenn man nicht ab und zu einige davon abbaut, wird eines Tages unsere Urteilskraft in eine Vorurteilskraft und unser Weltbild sich in ein einziges, kräftiges Vorurteil verwandelt haben. Ein Freimaurer sollte sich aber stets um eine vom Vorurteil befreite Meinung zu den täglich auf ihn einstürmenden Situationen und Nachrichten bemühen.

E.-P. Lanninger, W. Jordan, K.-J. Grün, H. Borger in «Eleusis», Heft 4/2001, bearbeitet von Adrian Bayard (Schweizer Freimaurer-Rundschau: Dezember 2009)

Entgegen der landläufigen Meinung verweist die historische Auseinandersetzung mit dem Thema «Vorurteil» zunächst nicht auf rein psychologische oder soziologische Überlegungen, sondern eher auf philosophische, d.h. erkenntnistheoretische Fragestellungen. Die Problematik des Vorurteils führt erst im zweiten Schritt auf gesellschaftliche Zusammenhänge; zunächst ist sie eine Frage der Erkenntnistheorie, der Lehre vom richtigen und korrekten Schließen und Urteilen. Das «Vorurteil» muss somit erst einmal nicht als «Vorverurteilung», sondern als Problem des sachgemäßen Urteilens verstanden werden.

Die Rolle der Skepsis

Die Lehre und der Begriff des Vorurteils entsteht in der Regel dort, wo man sich der bisherigen Erkenntnis nicht mehr allzu sicher glaubt. Das eigene Wissen wird angezweifelt und alle Urteile als vorläufige Urteile, also als Vorurteile, erkannt. Vorurteilslehren tauchen demnach immer dann auf, wenn die Skepsis, wörtlich «das Umherblicken», auf den Plan tritt. Historisch betrachtet gab es zwei grosse Zeitpunkte der Skepsis: in der Spätantike bei Sextus Empiricus (200- 250 n.Chr.), der die Lehren des Pyrrhon von Elis (365-275 v.Chr.) systematisiert; und in der Renaissance, wo Montaigne (1533-1592) und Charron (1541- 1603) einen breiten Skeptizismus entfalten, aber auch bei Francis Bacon (1561-1626). In beiden Zeitabschnitten war eine starke geistig-kulturelle Verunsicherung zu spüren, die durch eine geschichtliche Umbruchsphase und den jeweiligen Eintritt in eine neue Epoche erklärt werden kann. Skepsis macht eigentlich in moralischer Hinsicht das Kernstück der Toleranz aus. Sie besagt im Grunde nichts anderes, als daß man nicht auf seiner Perspektive und Sichtweise zu beharren hat, sondern auch den Blick des vermeintlichen Gegners gelegentlich teilen sollte. Skepsis bedeutet die Möglichkeit, einen eigenen Irrtum in Betracht zu ziehen. So gewinnt auch die Toleranz eine erkenntnistheoretische Bedeutung, wenn man bereit ist, die Welt mit den Augen anderer zu sehen.

Die Kategorie des Interesses

Das menschliche Interesse orientiert sich bei d'Holbach an materialistischen, körperlich bedingten Gesichtspunkten. D'Holbach schreibt dazu: «Als Interesse bezeichnet man den Gegenstand, an den jeder Mensch, seinem Temperament und den ihm eigentümlichen Ideen entsprechend, sein Wohlergehen knüpft; man sieht daraus, dass das Interesse stets nur das sein kann, was jeder von uns für seine Glückseligkeit als notwendig erachtet. Weiterhin muss man daraus schliessen, dass kein Mensch auf dieser Welt völlig ohne Interesse ist». In Bezug auf Vorurteile und Irrtümer führt d'Holbach aus, dass Unglück und Leiden daraus entstehen, dass der Mensch nicht genau und klar die Bedürfnisse seines Interesses erkannt hat. Der Mensch macht sich falsche Vorstellungen von sich und seinem Glück, so dass ihm aus dieser falschen Einschätzung der Lage Böses und Leiden entsteht. «Die Nützlichkeit ist nichts anderes als das wahre Glück; nützlich sein heisst tugendhaft sein; tugendhaft sein heisst: die Menschen glücklich machen». Diese Vorstellung knüpft offensichtlich an die alte stoische Tradition an, die besagt, sich und die Welt genau zu erkennen, um im ganzen Gefüge der Welt den eigenen Ort zu erkennen, sich als Teil des Ganzen zu identifizieren und in gelassener Harmonie mit dem restlichem Universum zu leben. Wissen wird zum Instrument, die eigenen Interessen mit denen der Welt abzustimmen, um die Enttäuschungen und Widersprüche zu mildern. Diese Interessen bedingen nun aber die gesamte Weltsicht einer Person. Je nach Beruf und Stand hat jeder eine andere Perspektive. Im Werk Vom Menschen schreibt er: «Nehme ich an einer Verschwörung teil, so gibt es keine Geste, keinen Blick, der den unruhigen und argwöhnischen Augen meiner Komplizen entginge. Bin ich Maler, so fällt mir jede Wirkung des Lichts auf. Bin ich Juwelier, so gibt es keinen Flecken in einem Diamanten, den ich nicht bemerkte. Bin ich neidisch, so gibt es an einem grossen Mann keinen Fehler, den mein durchdringender Blick nicht entdeckte». Besonders die Eigenliebe, die Konzentration des Menschen auf sein persönliches Interesse verstellen ihm die Möglichkeit auf eine objektive Betrachtungsweise der Welt: Helvetius schreibt: «Wer aber kann sich rühmen, hierbei den Fallstricken der Eigenliebe zu entgehen, da wir doch sehen, dass es keinen Anwalt in seinem Büro, keinen Ratsherrn in seinem Kabinett, keinen Kaufmann in seinem Kontor, keinen Offizier in seiner Garnison gibt, der nicht glaubt, die ganze Welt beschäftige sich nur mit dem, was ihn interessiert? Schließlich kommt er auf die sehr unehrenhaften Quellen des Interesses zu sprechen. Fast etymologisch bringt Helvetius die Interessen mit den englischen «interests », den Zinsen in Verbindung. Die Interessen der Menschen sind meist ökonomischer Natur. «Unter den Menschen gibt es nur wenige Ehrenhafte, und folglich muß das Wort Interesse in ihnen die Vorstellung eines finanziellen Gewinns oder eines ähnlich niedrigen und verachtenswerten Objekts wachrufen». Das Interesse wird hier als handfester ökonomischer Vorteil zum erstenmal klar und deutlich entlarvt.

Ursachen für Vorurteile

Den Trieb zur Selbsterhaltung sowie Eigenliebe und das Bedürfnis nach Prestige weisen spätere Philosophen als Ursachen für Vorurteile aus. Abartig werden Vorurteile, wenn sie sich mit dunklen Trieben wie Machtgier, Neid und Grausamkeit verbünden. Das Vorurteil des Hasses ist unverrückbar, schreibt Horkheimer, «weil es dem Subjekt gestattet, schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten. Je mehr die Bekenner die Falschheit ihres Glaubens ahnen, desto begeisterter halten sie an ihm fest. Das starre Vorurteil schlägt in Fanatismus um. Zum Geschäft des Demagogen gehört es, edle Losungen zu finden, die zugleich der Feindschaft ein Objekt versprechen». Philosophie, vor allem dialektisches Denken, kann der verderblichen Bildung von Vorurteilen vorbeugen. Sie setzt voraus, dass Freude an der zu gewinnenden Einsicht den Gedankengang bestimmt, nicht die dogmatische Verkündigung unkritisierbarer Wahrheiten. Das philosophische Gespräch setzt zudem die Fähigkeit voraus, zuhören zu können, oder zumindest die Bereitschaft, sich in dieser Kunst zu üben.

Psychische Entlastung und Angst sind also die häufigsten Ursachen des Vorurteils. Die Angst unsere gesellschaftliche Stellung zu verlieren, die Angst nicht genügend in der Gesellschaft anerkannt zu sein oder wahrgenommen zu werden, die Angst vor sozialem Abstieg, die Angst vor eigener Unfähigkeit, kurz: Angst in vielerlei Form lässt uns einen Schuldigen suchen. Wir brauchen einen Sündenbock für unsere Probleme. Vorurteile entstehen deshalb aus Schwäche und Neid. Vor allem die sozial benachteiligten oder sich benachteiligt fühlenden Schichten unserer Mitbürger, entwickeln Vorurteile zu ihrer psychischen Entlastung. Die andern sind schuld. Es ist nicht meine Schuld, wenn ich es zu nichts bringe, wenn ich versage.

Freimaurerisches Fazit

Die Freimaurerei ist ein Kind der Aufklärung. Nach Jahrhunderten blutiger Kriege wegen politischer und vor allem durch Vorurteile und Intoleranz hervorgerufener konfessioneller Konflikte, waren die Aufklärer überall bemüht, ihre Leidenschaften zu zügeln und mit Hilfe des Verstandes als oberstes Kriterium, sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu treffen. So gründeten weise Männer einen Bund: den Bund der Freimaurer mit dem Ziel eines humanitären Engagements und eines toleranten Umgangs. Doch wir sind auch nur Menschen mit Vorurteilen. Leider! Wir bemühen uns täglich, gegen Vorurteile anzukämpfen. Wir haben deshalb Konfession und Parteipolitik zur Privatsache erklärt und dulden keine konfessionellen oder parteipolitischen Streitereien in unseren Reihen. Vielleicht haben wir aber mit unseren Vorstellungen dem Fortschritt mehr gedient, als wir selbst glauben. Überall haben Freimaurer, angefangen von Georges Washington und Benjamin Franklin bis Gustav Stresemann, Thomas Dehler und noch heute lebenden Freimaurern bei der Abfassung demokratischer Verfassungen, die Toleranz und Pluralismus garantieren, mitgewirkt. Diesen Weg sollten und wollen auch wir weiter beschreiten. Dieses Anliegen ist so aktuell wie vor Jahrhunderten. Nicht die intolerante von leidenschaftlichen Vorurteilen geprägte Drohung: «Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein», kann die Losung sein, sondern die Aufforderung: «Sei Bruder und du wirst Brüder finden».