Thema
Der Bau am Tempel der Humanität
Der Bau des Tempels der Humanität
lehnt sich im übertragenen Sinn an den
Tempel Salomon an, dem grossen Kultbauwerk
in der Bibel. Das Lehrgebäude
der Freimaurerei mit den Alten Pflichten
impliziert, die eigene Persönlichkeit
im Dienst der Humanität zu entwickeln.
Die moderne Humanitätsidee entspricht
dem maurerischen Selbstverständnis im
Sinne von Menschlichkeit und Barmherzigkeit
hilfebedürftigen Mitmenschen
gegenüber. Vergessen wir nie: Im
Gelübde haben wir uns verpflichtet,
durch unser individuelles Wirken zur
nachhaltigen Verbesserung der
Menschlichkeit beizutragen. Die Rituale
bereiten uns zum Handeln vor, ja befähigen
uns geradezu, in unserem Einflussbereich
humanitär zu wirken. Nur
handelnd können wir Freimaurer Menschen
verändern zu mehr Menschlichkeit
und Toleranz.
Hans E. Fischer – St. Johann am Rhein,
Schaffhausen
Wir Freimaurer brüsten uns einerseits
immer wieder mit den herausragenden
Leistungen von grossen
Freimaurer-Persönlichkeiten in den
Bereichen Kultur, Politik, Gesellschaft,
Literatur und Musik. Andererseits bedauern
wir, dass heute solche Persönlichkeiten
unter uns Brüdern rar geworden sind.
Es darf uns aber nicht entmutigen, dass
heute Mitglieder der Freimaurerlogen
nicht mehr in den allerhöchsten Gremien
und bei den wegweisenden Persönlichkeiten
oder globalen Leadern zu finden
sind. Selbstverständlich ist dies sehr
schade! Um uns in allen Bereichen für
mehr Menschlichkeit, Toleranz und Brüderlichkeit
einzusetzen - den eigentlichen
Zielen der Freimaurerei - gibt es für
jeden Freimaurer-Bruder jedoch noch
genügend Arbeit, lokal wie global. Auch
alltägliche Arbeiten wie Unterstützung
von Brüdern, sich aktiv einsetzen gegen
Ungerechtigkeit, Hilfeleistungen, Handreichungen
oder Beiträge an karitative
Institutionen jeglicher Art, seien sie noch
so klein, erfüllen die Ziele der Freimaurerei.
Dass dazu auch Rücksichtnahme,
Respekt und Höflichkeit gehören, versteht
sich von selbst.
Das im übertragenen Sinn grosse Ziel des
Baues am Tempel der Humanität setzt
sich letztlich aus vielen behauenen Steinen
(=Menschen) zusammen. Es gilt die
gleiche Binsenwahrheit wie in einer
gelebten Demokratie: Es kommt auf das
Engagement eines jeden Einzelnen an.
Machen wir davon regen Gebrauch wie
viele praktizierende Freimaurer vor uns.
Oder unterlassen wir dies vielfach aus
lauter Bequemlichkeit? Menschlichkeit
entsteht nicht durch eine schöne Rede,
sondern ausschliesslich durch eine Tat!
Was bedeutet „Bau am Tempel der
Humanität“?
1723 erschien das Gesetzbuch der Freimaurer,
die sogenannten „Alten Pflichten“.
Darin wurden die Grundsätze des
freimaurerischen Handelns, die bis heute
gültig sind, schriftlich dargelegt. Sie verpflichten
jeden Freimaurer-Bruder zu
Toleranz und Achtung vor Andersdenkenden
und alles zu tun, was Leben erhält,
fördert und schützt, andererseits alles zu
vermeiden, was Leben vernichtet, einschränkt
oder beeinträchtigt. Humanität nachmeinem Verständnis beinhaltet aber auch die
Achtung vor allen Kreaturen, seien es Menschen, Tiere oder
Pflanzen. Während die operativen Maurer in den Bauhüttenmit
Steinen Kathedralen bauten, so arbeiten wir modernen
(spekulativen) Freimaurer am fiktiven oder gedachten Tempel
der Humanität, also am Tempel der Menschlichkeit. Jeder
Freimaurer versteht sich bei der Aufnahme in den Freimaurerbund als ein
rauer Stein, der nach vielen Anstrengungen
und Bemühungen („Erkenne dich
selbst“) im übertragenen Sinn als kubischer
Stein in den Tempel der Menschlichkeit
eingefügt werden kann. Ziel ist
eine weltumspannende Gesellschaft,
geprägt von einem Geist der Humanität.
Trotz dieses hohen Ziels sind wir Freimaurer
keine Weltverbesserer, wir wollen
vielmehr die Menschen verändern. Dieser
Ansatz soll konkret im Beruf, in der Familie,
in der Freundschaft, also im eigenen
Einflussbereich geschehen. Dass wir Freimaurer
dies „Königliche
Kunst“ nennen, zeigt den
hohen Anspruch und die
Schwierigkeit zugleich.
Was impliziert der Bau am
Tempel der Humanität?
Humanität, lat. humanitas,
bedeutet vervollkommnete
Menschlichkeit und impliziert,
die eigene Persönlichkeit
im Dienst der Humanität
zu entwickeln. Die neuzeitliche
Humanitätsidee
entspricht dem maurerischen
Selbstverständnis im
Sinne von Menschlichkeit
und Barmherzigkeit hilfebedürftigen
Mitmenschen
gegenüber.
In der heutigen Zeit könnte man den in
den Alten Pflichten enthaltenen „Auftrag“
zum Bau am Tempel der Humanität
auch mit „Von der Vision zur Aktion“
umschreiben.
Die oft zitierte Anekdote der drei Steinmetze,
die Steine bearbeiten, bringt es
auf den Punkt: Der erste Steinmetz sagt:
ich behaue einen Stein („arbeiten am
rauen Stein“). Der zweite Steinmetz sagt:
ich arbeite an einem Spitzbogenfenster.
Der dritte Steinmetz sagt: ich baue eine
Kathedrale („arbeiten für das übergeordnete
Ganze“). Im übertragenen Sinn
heisst dies, arbeiten für den alleinigen
Zweck der Freimaurerei: die praktische
und konkrete Umsetzung unseres „Lehrgebäudes
der Sittlichkeit“ im profanen
Alltag, einen Beitrag leisten zur Verbesserung
der Menschlichkeit. Unsere individuelle
Arbeit am rauen Stein - eingebettet
in die Bruderschaft - soll sich konsequent
und immerwährend zum Wohle
des wahren Menschentums auswirken.
Jeder an seinem Platz, jeder nach seinen
Möglichkeiten und jeder auf seine Weise!
Vom Tempel Salomon zum Tempel der
Humanität
Der Tempel Salomon ist das wegweisende
Symbol der Freimaurerei. Das erste
grosse steinerne Kultbauwerk in der Bibel
ist der Tempel Salomon. Während vielen
Jahrhunderten galt er als Meisterwerk
der Baukunst. Deshalb wurde er von den
Steinmetzen der Dombauhütten zum
sinnbildlichen Vorbild gewählt.
Bei der modernen oder spekulativen
Maurerei geht es insbesondere um den
geistigen Aufbau des Tempels der Humanität.
Es muss das Ziel eines jeden Freimaurers
sein, sich nach erfolgreichem
Behauen seines rauen Steines, dem Sinnbild
für Unvollkommenheit, sich dereinst
nach vielem Bemühen als kubischer Stein
in den „Tempel der Humanität“ einzufügen.
Dabei geht es immer um den Freimaurer
als Individuum und nicht die Freimaurerei
als Organisation.
Kurz: Das Licht, das bei den operativen
Maurern für ihre Arbeiten die Bauhütten
erhellte, bedeutet bei den modernen
Freimaurern das Licht der Erkenntnis zur
Verbesserung der Humanität!
Konditionierung im Ritual
Die Loge ist die Lehr- und Übungsstätte
und das Ritual ist das zentrale Element
unserer Bruderschaft. In den Ritualen
wird das sittliche Lehrgebäude vermittelt
– durch Gleichnisse, Sinnbilder, Gegenstände,
Zeichen und Vorgänge. In unseren rituellen Arbeiten bauen wir am Tempel
der Humanität. Wie heisst es doch in
einem unserer Rituale „Die
Freimaurer bilden eine verbreitete
Bruderschaft, deren
Zweckdarin besteht, im Geiste
wahrer Bruderliebe echte
Humanität zu fördern“. Die
Loge ist der Nucleus freimaurerischen
Wirkens. Es gibt aber
keine Wirkung nach aussen
ohne den Weg nach innen; der
Weg aber ist individuell.
Das verbindende Element ist
das Ritual. In immer ähnlicher
Dramaturgie verlaufen die
Handlungen und Wechselgespräche
zwischen dem Meister
vom Stuhl und den beiden
Vorstehern und schaffen
dadurch die spirituelle Dimension
im gemeinsamen Erleben.
Auch dies letztlich mit dem
Ziel, uns für die konkrete Umsetzung des
humanitären Wirkens zu konditionieren.
Das Gelübde – die Verpflichtung
Ein Gelübde ist die höchste Form von Verbindlichkeit.
Während der Initiation ist
der Neophyt mit viel Neuem konfrontiert,
sodass er kaum alles mit der gebührenden
Anteilnahme aufnehmen kann. Insbesondere
gilt dies für das Gelübde. Da
man nicht oder kaum darauf vorbereitet
werden kann, ist aber mindestens eine
vertiefte Nachbereitung notwendig. Die
beste Nachbereitung ist die regelmässige
Teilnahme an Tempelarbeiten, an
Instruktionen und bei der Diskussion von
Baurissen. Aber selbst diese „Übungen“
sind keine Garantie, dass man die Verpflichtungen des Gelübdes einhält. Das
Befolgen der Verpflichtungen ist primär
ein Ausdruck der Persönlichkeit und des
eigenen Willens eines jeden Bruders.
Humanitäres Wirken muss jedoch nicht
„nur“ eine Verpflichtung sein, sie kann
einem auch Freude bereiten und stolz
machen.
Das Gelübde ist einerseits eine Selbstverpflichtung
und anderseits eine verbindliche
Leitlinie für unser Handeln. Insbesondere
in Zeiten des Wertewandels und des
beschleunigten gesellschaftlichen
Umbruchs gibt uns das Gelübde Sicherheit
im Alltag für das eigene Verhalten
und das individuelle Wirken zur nachhaltigen
Verbesserung der Menschlichkeit.
Die Verantwortung als Freimaurer
Verantwortung übernehmen bedeutet,
die Folgen zu tragen für die eigenen
Handlungen und dafür gerade zu stehen.
Wer Verantwortung hat für irgendetwas
oder irgendjemanden, muss sich bewusst
sein, dass er andere Menschen mit seinen
Entscheidungen positiv oder negativ
beeinflussen kann. Wenn wir in unseren
Ritualen beispielsweise das Winkelmass
– eines der drei grossen Lichter – auflegen,
impliziert dies, dass wir uns im profanen
Alltag aktiv für Gerechtigkeit, für
Menschenliebe und Toleranz einsetzen
und gegen alle Arten von Ungerechtigkeit
kämpfen. Fehlentwicklungen mit Verstand
und Herz korrigieren gehört ebenfalls
zu Verantwortung übernehmen wie
Missstände ansprechen auch wenn es
unpopulär ist und Zivilcourage erfordert.
Es ist mir bewusst, dass dies insbesondere
in beruflichen Situationen von einem
Freimaurer gelegentlich ein hohes Mass
an Zivilcourage erfordert. Dass der Grad
der Verantwortungsübernahme verschieden
sein kann – aus welchen Gründen
auch immer – versteht sich von selbst und
entspricht auch dem Toleranzgedanken.
Wir können aber die freimaurerischen
Ziele nur erreichen, wenn wir als Individuum
in unserem persönlichen Wirkungskreis
agieren und unser sittliches
Verantwortungsgefühl handelnd einsetzen.
Verantwortungslos handeln dagegen
schadet der Bruderschaft und der
Gemeinschaft. Der Alltag bietet aber
jedem von uns viele kleinere oder grössere
Möglichkeiten, für die Ideale der
Freimaurerei einzutreten. Ein Engagement
für eine humanere und gerechtere
(Arbeits)Welt lässt sich aber nicht an
andere delegieren. Wir sind für unser
Handeln oder Nichthandeln einzig und
allein verantwortlich. Wie kann man dieses
hohe Ziel konkret umsetzen? Allein
durch handeln!
Die Leitmaxime in der Freimaurerei
heisst handeln!
Die folgenden spontan ausgewählten
Fragen bzw. Handlungsanweisungen, die
jederzeit und ohne grossen Aufwand
umgesetzt werden können, sollen zum
Handeln anregen („jeder an seinem Ort,
jeder auf seine Art und jeder nach seinen
Möglichkeiten“):
- Welchem einsamen Menschen kann
ich ein paar Stunden für ein Gespräch
schenken?
- Welchem kranken Menschen kann ich
einen Blumenstrauss persönlich zur
Genesung überbringen?
- Wie kann ich meine Erfahrung und
meine Zeit konkret für ein humanitäres
Werk einsetzen?
- Was hindert mich, einem unbekannten
Menschen ein Lächeln zu schenken?
- Es macht mir Freude, wenn ich das
nächste Mal ein etwas „sportlicheres“
Almosen einlege!
- Bei einer nächsten Entscheidungsfindung
bringe ich Argumente ein, die
einem bedürftigen Menschen oder
einer Gruppe von benachteiligten
Menschen einen grösseren Nutzen
bringen!
- Bei einen unvermeidlichen Stellenabbau
gestalte ich die Situation für die
Betroffenen sozialverträglicher!
- Ich setze mich aktiv gegen die Gewalt
an Tieren ein!
- Ich betätige mich bereits während
meinem aktiven Arbeitsleben und
nicht erst nach der Pensionierung
karitativ!
- Ich wehre mich aktiv für einen Menschen,
dem Unrecht geschieht!