Thema
Gotische Kathedralen und freimaurerische Tradition
Gotische Kathedralen symbolisieren den Weg durch das Leben, von der Finsternis zum Licht, wie es der freimaurerischen Initiation entspricht. Die Kathedrale ist ein Sinnbild des Mikro- und des Makrokosmos, von Gott und Mensch. Im Menschen als ein Teil dieses Gebäudes ist auch ein Funken des Lichtes enthalten. An ihrem Aufbau zu arbeiten bedeutet, jeden einzelnen Stein zur vollkommenden Schönheit zu formen, sie zu durchschreiten heisst, sich der Erkenntnis zu nähern.
Hans Bühler - In Labore Virtus, Zürich
Der freimaurerische Tempel ist ein Ort der
Kontemplation, den wir uns als jenseits von Raum und Zeit
vorstellen. Wir betreten ihn in würdiger Sammlung, um unsere
Rituale zu erleben. Kontemplation - von contemplare:
anschauen, betrachten – heisst in Ruhe und Aufmerksamkeit
sich auf einen Gedanken zu besinnen. Contemplare kommt von
Templum. Die gotische Kathedrale ist ein solcher Tempel, wie
gemacht auch für freimaurerische Kontemplation.
Die Gotik
Vorgänger und auch Zeitgenosse der gotischen Kathedralen war
die romanische Basilika. Ein romanischer Bau ist statisch
und solid. Der untere Stein trägt den oberen. Dicke Mauern
nehmen den schweren Druck der Tonnengewölbe auf. Der starke
Schub auf die Mauern verunmöglicht den Einbau von Fenstern.
Der Raum ist höhlenhaft.
Dann ist plötzlich die Gotik da. Das schwere Tonnengewölbe
weicht filigranen Spitzbögen und Kreuzrippengewölben. Die
nebenstehende Abbildung stellt die neue Dynamik dar: Das
Gewicht des Gewölbes wird von zwei sich kreuzenden Rippen (croisée
d’ogives) an vier Punkten abgestützt. Die seitlichen Kräfte
werden in vertikale umgelenkt und das Gewicht des Gewölbes
über seitliche Strebebogen (arc-boutant) und Strebepfeiler (contrefort)
abgeleitet. Das Gewölbe wird von unten her nach oben mit
dynamischem Druck gestützt. Mauern sind nicht mehr
erforderlich. Zwischen den Pfeilern (piliers) entsteht Raum
für farbige Glasscheiben. Ohne den Schlussstein (clef de
voûte) droht das Gebäude zusammenzustürzen!
Über die explosionsartige Verbreitung der Gotik wundert man
sich noch heute. Innerhalb von Jahrzehnten im 12./13. Jhd.
entstehen vor allem in der Ile-de- France Duzende von
Kathedralen und Hunderte von Kirchen. Nirgends ist die Gotik
so rein, klar, so nobel aber auch so gewagt wie hier. Um die
raffinierte Bautechnik zu realisieren braucht es ein Wissen,
welches bisher unbekannt war. Man vermutet islamischen
Einfluss. Die anfänglichen Erfolge der Kreuzzüge beflügelten
die europäischen Christen. Für Pracht und Ruhm lässt sich
die Bevölkerung vor die Karren spannen, um die Steine auf
die Baustelle zu bringen. Der Bau obliegt jedoch
ausschliesslich den Fachleuten, die sich vermutlich schon
damals in eigenen Gemeinschaften versammelten, um ihr Wissen
unter sich zu verwalten. Sie haben ihre Arbeit am Haus Gottes
wohl als heilig verstanden und haben so möglicherweise eine
Tradition entstehen lassen, die Jahrhunderte später zur
modernen Freimaurerei führte. 1144 wird in der Basilika St.
Denis nördlich von Paris der Chor geweiht, der den neuen
Baustil vollendet verwirklicht. Abt Suger, ein Vertrauter
des französischen Königs, hat den Zeitgeist perfekt
umgesetzt: Enthusiasmus, Freude am Schönen und Bestärkung im
Glauben an das Gute erfüllt alle, die das Bauwerk bewundern –
und das bis heute. Der Gang durch eine gotische Kathedrale
ist ein freimaurerisches Erlebnis.
Die Symbolik
Die Symbolik der Freimaurerei ist in der gotischen
Kathedrale grandios dargestellt: der Stein als Sinnbild für
den Menschen, das Licht als Quelle des Lebens und der
Wahrheit, der Bau in seiner vollkommenen Schönheit. Jeder
Kathedrale liegt ein klares geometrisches Schema zu Grunde
und respektiert die Harmonie der Numerologie. Es besteht aus
Kreis, Drei- und Viereck. Aus ihm werden Fünf-, Sechs- Acht-
und Zehnecke gebildet. Überall tritt die Zahl drei auf.
Unzählige Autoren beissen sich im Hinterher die Zähne aus,
um diese Baupläne nachzuvollziehen. Der erste war Villard de
Honnecour, der 1235 in einem Hüttenbuch wertvolle Vorbilder
abzeichnete und kommentierte, einer der vorläufig letzten
war vermutlich Dan Brown. Es ist wie das Erlebnis eines
freimaurerischen Rituals: man entdeckt auch nach Jahren
immer wieder Neues und Überraschendes. Überall trifft man
auf den goldenen Schnitt, es herrscht Harmonie, Ästhetik,
Klarheit und Reinheit, die man mehr erahnt als dass man sie
nachzurechnen vermag. Gewölbe, Wände, Pfeiler, Fenster und
Statuen bilden ein organisches Ganzes. Der Bau ist von
vollendeter Schönheit, so wie die Menschen sich göttliche
Vollkommenheit vorstellen können. Eine der Zeichnungen von
Villard de Honnecour setzt den menschlichen Körper in
Beziehung zur Kathedrale: die Kathedrale entspricht mit ihrer
Kreuzform dem menschlichen Körper: das Schiff ist der Leib,
die Querschiffe die Arme, das Herz liegt beim Altar (dort wo
sich das Göttliche manifestiert), der Kopf im Chor, dem Sitz
des Geistes. Die Kathedrale ist auch der Mensch, der – «wenn
er die Kunst recht versteht» – mit Stärke und Weisheit (wie
die Baumeister) nach Schönheit strebt. Im Menschen ist von
Natur etwas vorhanden, was ihn mit Gott verbindet.
Der Stein: Steine wurden schon in der Frühzeit der
Menschheit verehrt, möglicherweise als Wohnsitz der Geister.
Denken wir an die mysteriösen Menhire. Im Tessin gibt es strade delle pietre, wo als ehemals heilig geltende Steine
markiert sind. Die Legenden dazu erzählen, dass sich hier in
keltischen Zeiten vielleicht die Geister versammelten und
Messen abgehalten wurden. Der Stein ist die prima materia, das
Rohmaterial, aus dem alles geschaffen werden kann. In der
gotischen Kathedrale zählt jeder Stein. Er muss passgenau
sein, muss in die filigrane, dynamisch aufgebaute
Architektur passen. Und so ist es ja auch mit dem rauen
Stein des Freimaurers. «Behaut ihn bis auf den Kern, damit
die schöne Form sichtbar werde, zu der er fähig ist» und
«dass er zum Eckstein werde». Schönheit in Stein zu hauen
ist eine der grossartigen Leistungen der gotischen
Steinmetze. Zwar gab es schon an romanischen Bauten
kunstvolle Portale, doch eine gotische Kathedrale ist
überkrustet mit Figuren und Statuen, die Geschichte
erzählen. Die Kathedrale ist eine Bibel in Stein, eine
Enzyklopädie des Wissens jener Zeit. Die Figuren passen sich
der Architektur an, die Säulen werden zu Statuen. «Form
follows function» sagten Bauhäusler und wollten damit
allerdings auf jede Ornamentik verzichten. Die Alten konnten
beides verbinden. Unweigerlich denkt man: mit Weisheit haben
die Steinmetzen den Meissel angesetzt, mit Stärke
zugeschlagen und vollendete Schönheit geschaffen.
Das Licht ist «der Urquell allen Seins». Die Sonne spendet
Leben und Wärme, fördert die Wahrheit zu Tage. Das Licht ist
göttlich. Das Licht führt zu Wissen und Erkenntnis. Licht
schafft Klarheit. Es ist immanent. Zum Licht strebt der
suchende Mensch. Die gotische Kathedrale ist erfüllt von
Licht. Es ist nicht klares, gleissendes Sonnenlicht, sondern
es wird durch die farbigen Fenster gefiltert und verleiht
dem Raum einen mystischen, überirdischen Charakter. Es lädt
dazu ein, mit den höheren Kräften zu kommunizieren. Der
Mensch kann zu sich selbst gelangen. Die farbigen
Glasfenster sind eine weitere grossartige Errungenschaft der
Gotik. Die wertvollsten Scheiben wurden um 1250 geschaffen
und sind durchgefärbt. Rot und Blau sind bestimmend. Die Technikder Herstellung ging bald verloren, man weiss heute
nicht mehr, wie die Gläser entstanden sind. Bei späteren
Fenstern sind die Farben nur noch aufgetragen und verlieren
damit an Intensität. So gefiltert fällt dieses Licht ein,
vornehmlich in der Höhe des Raums, was den übersinnlichen
Eindruck verstärkt.
Höhepunkt der Glasfenster-Kunst sind die Rosen-Fenster. Sie
sind die Quintessenz gotischen Denkens, denn sie vereinen
Harmonie und Weisheit der Geometrie mit der Herrlichkeit des
Lichts. Die Rose als Sinnbild der Schönheit wird dargestellt
in einem Rad, und versinnbildlicht damit den Anfang ohne
Ende. Die Nabe steht still, sie entspricht der Ewigkeit und
der ewigen Wahrheit. Dies ist ein weiterer Platz, um das
Ewige darzustellen, durch Jesus oder auch Maria, der die
Kathedralen der Ile-de-France geweiht sind.
Machen wir uns auf die Reise durch eine gotische Kathedrale.
Es ist eine Reise von der Finsternis zum Licht. Sie beginnt
auf dem Parvis, dem Vorplatz der Kathedrale im Westen und
dient der inneren Sammlung und Vorbereitung. Alle gotischen
Kathedralen sind nach Osten ausgerichtet, dem Laufe der
Sonne entsprechend. Im Westen geht die Sonne unter. Hier ist
das Ende der Welt, wo Finsternis und Todherrschen. Daher
finden sich an der Westfassade in der Regel Darstellungen
des jüngsten Gerichtes. Nichts hinderte die Bauleute jedoch
daran, die Westfassade mit drei sehr repräsentativen Pforten
in ausserordentlicher Pracht darzustellen. Schliesslich gilt
auch da wie überall: der erste Eindruck ist wichtig.
Der Gläubige tritt ein und wird durch das übernatürliche
Licht überrascht. In der Ferne sieht er in Licht gehüllt den
Altar und den Strahlenkranz des Chors. Dort ist das Ziel der
Reise. Diese Reise durch die Kathedrale ist eine Reise durch
das Leben und hin zu einer höheren Bestimmung. Das
mystische Licht und die Leichtigkeit der Architektur, in der
man den Zug nach oben förmlich spürt, stimmt zuversichtlich,
stellt auf und macht Mut zuversichtlich weiterzuschreiten
und «im Gewühl des Alltags die Tugenden zu üben, die wir in
der Loge gelernt haben». Im Schiff, also im Alltag des
Lebens, gibt es ja laufend Proben zu bestehen. Bald wird auf
dem Boden ein grosses Labyrinth sichtbar, weiteres Zeichen
der verschlungenen Wege, die das Leben bereithält.
Labyrinthe sind noch in einigen Kathedralen erhalten. Das
Labyrinth steht für vieles: wir denken an die Geschichte des
Dädalus. Der Minotaurus auf Kreta ist vielleicht weniger ein
Monster als eine Begegnung auf dem Weg des
Individuationsprozesses. –Das Labyrinth ist wie das
Durchqueren des Waldes der Initiation. Das Labyrinth ist ein
Mandala, ein symbolischer Weg der Erkenntnis, der von der
Peripherie um Zentrum führt, zur Identifikation mit dem
Göttlichen. Als es nicht mehr möglich war, Pilgerreisen ins
Heilige Land zu unternehmen, sollen die Menschen auf den
Knien über dem Labyrinth gefolgt sein, um so Busse zu tun
und sich dem Heiligen näheren zu können. Es gilt, das
Zentrum zu erreichen, der Ort der ewigen Ruhe. Jedenfalls
symbolisiert das Labyrinth die Reise durch das Leben, die
Initiationsreise hin zum Ewigen, vom Profanen zum Heiligen,
das den Initiierten zur Identifikation mit dem Göttlichen
führen will. Schliesslich die Ankunft im Osten, am Altar.
Für den Gläubigen ist es der Ort, wo die Transsubstantiation
stattfindet, wo sich Gott und Mensch vereinen. Im Chor sind
die Reliquien aufbewahrt, Zweck und Ziel seiner
Pilger-Reise. In freimaurerischer Denkweise bedeutet die
Ankunft im Osten die eigene Erkenntnis. Wenn es der Sinn des
Lebens ist, im Gang durch das Leben das Dunkle und Widrige
zu erkennen und zu überwinden und sich dem Göttlichen als
Symbol für das Helle, Schöne, Ewige zu nähern, dann ist hier
symbolisch das Ziel erreicht.
Die Geheimnisse der gotischen Kathedrale
Am Konzil von Nicäa wurde 787 verfügt, dass religiöse
Inspirationen nicht den Künstlern überlassen werden dürfen,
sondern präzisen Vorgaben der katholischen Kirche zu folgen
hätten. In der Romanik wurden diese Regeln eingehalten. In
der Gotik ist das etwas weniger klar. Es zirkulieren viele
verlockende und auch abstruse Theorien, wonach die Gotik ein
Werk von esoterischen Lehren, wie Alchemie, Kabbala oder von
den Templern sei. Es ist zu bedenken, dass im 17. Und 18.
Jhd. vieles zerstört worden ist. Violet le Duc hat im 19.
Jhd. vieles restauriert und dabei Statuen geschaffen, die
vielleicht eher seiner als der Phantasie der ursprünglichen
Bauleute entsprach. Fulcanelli meint dazu, dass die
Tradition der Wissenschaft und der Kunst in den gotischen
Kathedralen nicht ausschliesslich unter dem Aspekt der
Verherrlichung des Christentums zu betrachten sei, sondern
vielmehr eine weitläufige Schöpfung von Ideen und Tendenzen
sei. Die gotische Kathedrale sei ein mutus Liber. In «Le
Mystère des Cathédrales» beschreibt er ein Bild, das an
bester Lage auf Augenhöhe am zentralen Stützpfeiler der
mittleren Pforte der Kathedrale von Paris steht. Er nennt es
«l’Alchimie» und beschreibt es so: Die Alchemie wird
dargestellt durch eine Frau, deren Stirn die Wolken streift.
(Mit den Füssen steht sich fest auf dem Boden). Sie sitzt
auf einem Thron, hält in der linken Hand ein Zepter –
Zeichen der Souveränität – während sie in der rechten Hand
zwei Bücher trägt, das eine geschlossen (Esoterik), das
andere offen (Exoterik). Zwischen den Beinen und an die
Brust gelehnt ist eine Leiter mit neun Stufen – scala
philosophorum – Hieroglyphe der Geduld, welche die Gläubigen
im Laufe der neun sich folgenden Operationen der
hermetischen Arbeit aufbringen müssen. Ist das nicht eine
eindrückliche Einladung an den Freimaurer, sich auf die
Reise zu begehen?