Thema
Das Evangelium des Didymos Judas Thomas
Eine Analyse aus freimaurerischer Perspektive
«Der Mensch, alt in seinen Tagen, wird nicht
zögern, ein kleines Kind von sieben Tagen über den Ort des
Lebens zu befragen, und er wird leben».
Christian Möller – Bon Accord, Bern
D er Apostel Thomas ist in der
kanonischen Überlieferung des Johannes Evangeliums das
Sinnbild des Ungläubigen. Der ungläubige Thomas, welcher
erst glaubte, Jesus Christus leibhaftig vor sich zu sehen,
als er in die Speer wunde in dessen Seite fassen durfte. Der
Apostel, welchem nach gesagt wird, dass er mehr missionierte
als dies selbst der Apostel Paulus getan hätte und hierfür
weite Strecken in den Osten zurücklegte, sogar bis nach
Indien kam und dort durch den Speer eines indischen
Brahmanen umgekommen sein soll. Er wird wohl auch aus diesem
Grunde regelmässig mit Speer als Zeichen seines Todes
abgebildet.
Findet man ihn mit dem Winkel in der
Hand vor, so ist dies darauf zurückzuführen, dass Thomas
auch als Schutzpatron der Steinmetze, Maurer und Baumeister
resp. Der Architekten gilt. Dem Apostel Thomas sagt man auch
nach, dass er und nicht Johannes der Lieblingsjünger Jesu
gewesen sei. Einige Quellen behaupten, er wäre der
Zwillingsbruder Jesu Christi, woher auch sein Name Didymos
(griechisch: Zwilling) bzw. Thomas (aramäisch: Zwilling)
stammt, wobei sein Rufname Judas Thomas gewesen sein muss.
Der Apostel Thomas ist es auch, über den der Papst in einer
Ansprache im September 2006 sagte, dass die Fragen, die
Thomas aus seiner Ungläubigkeit heraus an Jesus richtete,
Thomas zu Erkenntnis, Erleuchtung und letztlich zum Glauben
an Gott geführt haben. Wiegt man diese Aussagen
gegeneinander ab, scheint es umso verwunderlicher, dass das
Evangelium des Johannes für sich bzw. den Apostel Johannes
als dem Jünger zeugt, den Jesus Christus liebt und bittet,
sich um seine Mutter zu kümmern. Und es verwundert auch,
dass das Evangelium des Judas Thomas in der kanonischen
Überlieferung fehlt. Noch interessanter wird es, zu lesen,
dass selbst das Evangelium des Johannes, als es erstmals
publik wurde, nicht unumstritten gewesen sei und bis heute
durchaus unsicher ist, ob überhaupt der Apostel Johannes,
als Verfasser angesehen werden kann. Bereits der
Kirchenvater Hieronymus äusserte sinngemäss, dass das
Evangelium des Johannes spirituelle Wahrheiten enthalte,
wohl wissend, dass es der Verfasser mit historischen
Begebenheiten nicht so genau genommen hat. Warum wurde das
1945 in Nag Hamadi wiederentdeckte Evangelium des Didymos
Judas Thomas seinerzeit nicht in das Neue Testament
aufgenommen? Wovon handelt es und inwiefern betrifft uns als
Freimaurer die gute Nachricht bzw. die Siegesbotschaft des
Judas Thomas? Dies sind die zentralen Fragen, denen sich der
vorliegende Artikel widmet.
Das Thomas Evangelium
Die gute Nachricht des Judas Thomas ist
ein apokryphes, d.h. ein verborgenes Evangelium. Ein
Evangelium ist eine schriftliche Überlieferung, welches die
Vorgänge der damaligen Zeit bzw. die Heilslehren des Jesus
Christus, den wir auch als Jesus von Nazareth oder Joshua
kennen, in Schriftform für die Nachwelt dokumentiert. Wie
jedes historische Dokument enthält es neben subjektiven
Elementen jenes Wissen, welches dem bzw. den Verfasser(n)
bekannt gewesen ist bzw. für nötig befunden wurde, zu
überliefern. In diesem Sinne diente es in erster Linie der
Wissensübermittlung, sofern für erforderlich erachtet, auch
der Wiedergabe historischer Umstände, resp. der Heilslehre
des Jesus Christus sowie von grundsätzlichen, spirituellen
Wahrheiten. Die bekanntesten Evangelien sind jene des
Markus, Lukas und des Matthäus sowie das so genannte „Logosevangelium“,
welches dem Evangelisten Johannes zugeschrieben wird.
Darüber hinaus existieren, weitere apokryphe Evangelien.
Unter apokryphen Schriften werden
solche Evangelien und sonstiges Schriftgut gefasst, welches
aufgrund ihres Inhaltes als ausserkanonisch gelten. Diese
wurden zum Teil auch als häretische Schriften bzw. Irrlehren
im Zuge der Diskussion um die Zugehörigkeit zum Neuen
Testament, um ihren Inhalt und ihre Passgenauigkeit zu den
übrigen Schriften verworfen. Der Begriff Kanon entstammt wie
alle vorgenannten Begriffe dem Griechischen und bezeichnete
ursprünglich ein Holz- oder Bambusrohr, das im Bauhandwerk
als Messlatte, Lineal, Richtscheid oder Waagebalken
verwendet wurde. Im Zeitalter des Hellenismus stellte es
einen ethischen Massstab, eine Richtschnur, Regel oder
Vorschrift für eine Erkenntnis, ein Urteil oder Verhalten
dar. Im spirituellen bzw. religiösem Bereich dient der Kanon
als Richtschnur, was zu glauben sei und was nicht. Seit etwa
350 n. Chr. wird der kirchliche Kanon auf die überlieferten
Schriften angewandt. Er diente insofern dazu, den Entscheid
für bzw. gegen eine Schrift zu treffen und reglementierte
insofern die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit dieser
Schrift zum Neuen Testament.
Hinsichtlich der Entstehungszeit
schätzt man das Thomasevangelium auf ca. 70 n. Chr. Die
Evangelien nach Markus und Matthäus werden in der heutigen
Zeit auf ca. 80- 90 n. Chr. geschätzt, das Evangelium nach
Johannes sogar auf 110- 120 n. Chr. Damit wäre es neben dem
Evangelium des Markus (65- 70 n. Chr.) das älteste, uns
bekannte Evangelium, wobei offen erwähnt sein soll, dass es
durchaus auch andere Auffassungen hinsichtlich der
Entstehungszeiten gibt.
Inhalt und Aufbau
Das Evangelium des Judas Thomas besteht
aus 114 Logien, wobei diese Zahl aufgrund übersetzerischer
Freiheit zustande gekommen ist. Da gegenüber dem Urtext
einige Abschnitte leicht modifiziert gegliedert sind,
gestattet die Analyse des Aufbaus insofern keinen
Erkenntnisgewinn.
Inhaltlich gesehen und nicht
theologisch gesprochen, handelt es sich bei diesem
Evangelium um eine Art „Erkenntnisevangelium“. Erkenntnis
deswegen, weil hierauf der wesentliche Augenmerk des
Verfassers liegt. Die Logien enthalten viel Weisheit und
implizierte Kraft einerseits, andererseits vermitteln sie
neue Perspektiven und Denkansätze. Sie vermitteln keine
historischen Ereignisse und zeigen keinen
heilsgeschichtlichen roten Faden auf. In Teilen gleicht
dieses Evangelium den anderen, im Neuen Testament
enthaltenen Evangelien. Sind analoge Versegefunden fällt
auf, dass das Thomasevangelium über diese Analogien hinaus
weiterführende Inhalte enthält, welche den anderen
Evangelien abgehen. So heisst es beispielsweise in Logie
100: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Gebt Gott, was
Gottes ist. Und das, was mein ist, gebt mir.“ Insgesamt sind
die Seligpreisungen der Bergpredigt wesentlich erweitert und
treten nicht, wie im kanonischen Text gebündelt auf, sondern
sind über den gesamten Text verteilt. Als weiteres Beispiel
sei Logie 13 zitiert: „Vergleicht mich und sagt mir, wem ich
gleiche. Simon Petrus: Du gleichst einemgerechten Boten.
Matthäus: Du gleichst einem besonders klugen Philosophen.
Thomas: Lehrer, mein Mund vermag es ganz und gar nicht zu
ertragen zu sagen, wem du gleichst. Jesus sprach: Ich bin
nicht dein Lehrer. Denn du hast getrunken, du hast dich
berauscht an der sprudelnden Quelle, die ich ausgemessen
habe. Und er nahm ihn, zog sich zurück und sagte ihm drei
Worte. [..]“. Auf die Frage der anderen Jünger, was Jesus
ihm (Thomas) gesagt habe: „Wenn ich euch eines von den
Worten sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine
aufheben, auf mich werfen, und Feuer wird aus den Steinen
herauskommen und euch verbrennen.“
Vergleicht man die beiden heute
bekannten und umstrittenen Evangelien- das Evangelium des
Johannes und jenes des Thomas - so fallen einige
Unterschiede besonders deutlich ins Auge. Der Verfasser des
Johannesevangeliums legt den Fokus auf Jesus, als den einen
Weg zur Erleuchtung bzw. als Gottes Sohn auf Erden. Als
solches weicht das Johannes-Evangelium inhaltlich stark vom
dreigestirnigen Evangelium( Lukas, Markus und Matthäus)
hinsichtlich Inhalt sowie bezüglich der Wiedergabe der
historischen Umstände ab. Gerade im Hinblick auf historische
Gegebenheiten treten starke Differenzen, insbesondere in der
Reihenfolge der Ereignisse zu den drei anderen Evangelien
auf. Darüber hinaus setzt sich das Johannes Evangelium in
Widerspruch zur Genesis selbst, denn dort heisst es nicht
„Am Anfang war das Wort“, sondern vielmehr: „Am Anfang schuf
Gott Himmel und Erde, die ganze Welt. Auf der Erde war es
noch wüst und unheimlich; es war finster, und Wasserfluten
bedeckten alles. Über dem Wasser schwebte der Geist Gottes“.
Es war also weder Wort, noch Tat am Anbeginn wie Bruder
Goethe seinen Dr. Faustus einst verlauten liess, sondern der
Geist gab ein, und setzte die Gedanken in Worte und Werke
um.
Der Verfasser des Thomas-Evangeliums
legt den Fokus nicht auf Jesus Christus, sondern lenkt den
Blick auf den Einzelnen, auf die Selbsterkenntnisund die
Individualität des Menschen. So heisst es beispielsweise in
Logie 23 „Ich werde euch auserwählen, einen aus tausend und
zwei aus zehntausend. Und sie werden dastehen als einziger“
oder in Logie 66 „Zeigt mir den Stein, diesen, den die
Bauleute verworfen haben. Er ist der Eckstein.“
Besonders zu Anbeginn der Diskussion,
welches Evangelium denn Aufnahme finden solle, war das
Johannes Evangelium starkumstritten. Letztlich wurde es
durchgesetzt, resp. setzte es sich durch, da es half, die
unterschiedlichen Strömungen abzuschwächen, indem es auf den
einen Sohn Gottes verwies und insofern half, eine
Einheitskirche mit Fokus auf Gottes Sohn zu begründen.
Darüber hinaus zeigt das Evangelium des Johannes einen
heilsgeschichtlichen roten Faden auf, welcher sich aus den
heiligen Schriften der Juden bis in das Neue Testament
hinein zieht. Das vorliegende Thomasevangelium hätte dies
nicht leisten können. Bei der Grundsteinlegung einer
Einheitskirche wurde der Kanon, i.S. der Festlegung was zu
denken sei bzw. kanonisch sei und was nicht, auf jene, heute
apokryphen Evangelien sowie Schriften angewandt. In diesem
Zuge wurde das Ev. des Thomas aus mehr oder weniger
„zweckdienlichen“ Gründen verworfen, obwohl es einen anderen
Weg zu Gott aufzeigt und den Einzelnen nicht aus seiner
Verantwortung sich selbst gegenüber und den Menschen um ihn
entlässt.
Die Freimaurerei und der
Freimaurer
Was ist Freimaurerei? Ein jeder Bruder
Freimaurer kennt die Antwort. Die Freimaurerei ist darüber
hinaus keine Religion, daher keinen Glaubensdogmen
unterworfen und kann überkonfessionell Brücken bauen. In
einigen Quellen wird ausgeführt, dass die Freimaurerei mit
dem christlichen Sittengesetz übereinstimmt. In ihren
Ritualen greift sie u.a. auf Symbole des Christentums, resp.
des Judentums zurück. Sie vermittelt stufenweise Wissen um
geltende Gesetzmässigkeiten und hält ihre Glieder zum
Studium der heiligen Schriften an. Sie ist in Form eines
Ordens einerseits sowie im profanen als Vereinigung bzw.
Verein andererseits organisiert. Über die Ursprünge unserer
Bruderschaft lässt sich ausführen, dass die Spekulationen
hierüber weit auseinander gehen. Allgemein hat man sich
darauf geeinigt, den Ursprung in den Dombauhütten Englands
zu sehen, obgleich man würdigen Brüdern Wissen aus älteren
Zeitaltern vermittelt. Die Freimaurerei ist demnach seit
ihrer offiziellen Geburtsstunde eng mit der Kirche und den
Dombauten zu Ehren des ABAW verbunden. Die Schutzpatrone der
Johannislogen (blauen Logen) sind Johannes der Täufer,
welcher schon vor Jesus die Ideen wahrer Menschlichkeit
verkündete und Johannes der Evangelist. Die Freimaurerei
dient der Erziehung des Einzelnen zu wahrem Menschentum und
zu geistig sittlicher Veredelung. Die Träger ihrer
Botschaften sind u.a. das Ritual und die regelmässigen
Instruktionen, welche beide in Toleranz, Nächstenliebe und
Brüderlichkeit, jenseits der normalen Massstäbe, vermittelt
werden. Ihre Glieder sind Hüter der Inneren Flamme, freie
Männer von gutem Ruf und edlem Streben, Jünger der
königlichen Kunst (Neophyten), Suchende, Männer mit fester,
starker Persönlichkeit, gebildete Menschen (Humanisten),
Wahrheitssuchende, aufrichtige und frei denkende Menschen
mit unstrafbarem Lebenswandel. Freimaurer glauben an Gott
und zwar je nachdem, welcher Religion sie angehören.
Die Lehre Jesu Christi
Wurzelnd im Judentum, setzt die Lehre
Jesu Christi das Alte Testament gemäss den überlieferten
Schriften nicht ausser Kraft, sondern ergänzt es und baut
auf diesem auf. Inhaltlich legt die Lehre Jesu durchaus
punktuell andere Schwerpunkte (z.B. Nächstenliebe anstelle
Vergeltung). Jesus Christus begründete insofern eine Sekte
mit jüdischen Wurzeln. Wesentlich später, d.h. nach der
alchemistisch anmutenden Überlieferung seines Todes und
seiner Wiedergeburt, entwickelt sich hieraus nach
jahrzehntelanger Verfolgung und Unterdrückung eine weitere
Weltreligion: das Christentum. Jesus ist insofern ein
Religionsbegründer, kein Kirchenvater.
Seine Lehre, die von ihm in
Gleichnissen verhüllt und in Sinnbildern dargestellt und
vermittelt wurde, weist tatsächlich weit mehr
Gemeinsamkeiten auf, als man auf den ersten Blick annehmen
könnte. Für Jesus stand der einzelne Mensch im Vordergrund,
den er vom Joch der Alten (dem Gesetz und seiner
drakonischen Strafe) befreien und heilen wollte. Seine
Zielsetzung war insofern nicht unbedingt identisch, aber
doch in ihrer Stossrichtung ähnlich.
Die Gemeinsamkeiten zwischen
Thomasevangelium und Freimaurerei
Auf der Ebene der Logien bestehen eine
ganze Reihe äusserst interessanter Gemeinsamkeiten. Aus
Platzgründen werden nachfolgend lediglich einige wenige
dieser Aspekte beispielhaft dargelegt. „Selig ist der Löwe,
den der Mensch essen wird, und der Löwe wird Mensch sein.
Und abscheulich ist der Mensch, den der Löwe essen wird, und
der Löwe wird Mensch sein.“ Ein Freimaurer ist ein Mensch
mit fester, starker Persönlichkeit. Die zitierte Logie
beinhaltet eine duale Aussage. Angesprochen wird hier
einerseits die Stärke des Löwen aber auch die Menschlichkeit
(Humanitas). Ähnlich dem Prinzip des Hakens, an dem der
kubische Stein nach oben gezogen wird, isst der Mensch den
Löwen oder der Löwe den Menschen. Das Ergebnis dieser
Metamorphose hängt davon ab, wer wen frisst bzw. welcher der
beiden–Antagonist bzw. Protagonist – die Überhand gewinnt
und durch den anderen absorbiert oder assimiliert wird. „Wer
sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet.“
„Sucht, und ihr werdet finden. Wer suchtwird finden. Wer
anklopft – ihm wird geöffnet werden.“ Der studierende,
forschende, nachdenkende, vorwärts- und Aufwärts schreitende
Mensch–ein suchender Maurer (der Suchende) der innerliche
Ruhe, Inspiration und göttliches Licht im geschützten Kreis
seiner Brüder sucht und auch findet. Ehe der Neophyt
aufgenommen werden kann, muss er suchen. Er sucht nach einer
für ihn geeigneten Loge in einem bestimmten geographischen
Bereich. Wenn er dort fündig geworden ist, sucht er nach
Menschen mit denen er in Kontakt treten kann, nach Menschen
die ihn als Mensch schätzen, welche ihm Vertrauen
entgegenbringen und welche schliesslich bereit sind, ihn als
Suchenden in ihren Kreis aufzunehmen. Wird er aufgenommen,
so hat er dies mit ganz bestimmten Klopfzeichen während der
Aufnahme darzulegen. „Wenn zwei miteinander Frieden
schliessen in ein und demselben Hause, dann werden sie zum
Berg sagen: Hebe Dich hinweg, und er wird sich wegheben.“
Die Freimaurerei hält jeden einzelnen Bruder dazu an, die
Brüderlichkeit zu leben. Der Friede untereinander und das
Zusammenhalten von zwei Menschen in einem Haus, birgt
ungeheure Kräfte. Bezogen auf die Freimaurerei stellt das
Zusammenhalten der Gemeinschaft die Macht und die Stärke des
Ordens dar. „Wenn ihr die zwei zu einem macht, werdet ihr
Menschensöhne werden. Und wenn ihr sagt: Berg, hebe dich
weg, wird er sich wegheben.“ In dieser Logie wird wiederum
die Dualität angesprochen. So kann die Aussage aus
verschiedenen Perspektiven spekulativ interpretiert werden.
Sie kann bedeuten, mit sich selbst eins zu werden, Licht
(Engel) und Schatten (Dämonen) seiner selbst anzuerkennen
resp. Miteinander positiv zu vereinen aber auch Frieden mit
sich selbst zu finden und mit anderen Menschen in Frieden zu
leben. Überhaupt bedeutet es die Aufhebung von Gegensätzen,
welches mitunter auch als Gewöhnlichkeit bzw. Mittelmass
fehlinterpretiert wird. Diese Vereinigung der Gegensätze von
Innen und Aussen, Oben und Unten, Links und Rechts,
Männlichkeit und Weiblichkeit, Licht und Schattengleicht es
nicht vielmehr einem Sieg über sich selbst? „Erkenne, was
vor deinem Angesicht ist, und das was für dich verborgen
ist, wird sich dir enthüllen. Denn es gibt nichts
Verborgenes, das nicht offenbar werden wird.“ Während der
Lehrling seinen Blick auf sich selbst lenkt („Erkenne Dich
selbst.“ bzw. „Sieh in Dich.“), wird sein Blick im zweiten
Grad auf sein Umfeld gelenkt („Sieh um Dich“.). Im dritten,
dem Meistergrad, wird sein Blick auf das Transzendente bzw.
das Göttliche gelenkt („Sieh über Dich!“) Diese Erkenntnis,
zu welcher aufgerufen wird, kann sich auf alle
Erkenntnisstufen beziehen, welche der freie Mann von gutem
Ruf durchläuft. So sind damit nicht nur die drei blauen
Grade der Johannisfreimaurerei angesprochen, vielmehr ist
dieser Ausspruch universell. Als solcher gilt er nicht nur
für die Freimaurerei, sondern für alle Menschen.
Zusammenfassung
Der Sieg über sich selbst, das
Hervortreten des inneren Menschen, das Erstrahlen des
göttlichen Lichts in der Welt, die christliche geprägte
Hermetik, die Dualität von Licht und Schatten, oben und
unten, innen und aussen, links und rechts, männlich und
weiblich, von Mikrokosmos und Makrokosmos und die
Betrachtung dieser Aspekte in ihrem Zusammenhang. All dies
und viele weitere Aspekte müssen hier offen bleiben. Wenn
wir zu den beiden Ausgangsfragen zurückkehren, können wir
zunächst kurz und prägnant auf die Frage bezüglich der
versagten Aufnahme in das Neue Testament antworten. Die
Aufnahme wurde aus pragmatischen, machtpolitischen Gründen
verwert. Höchstwahrscheinlich war dies zum damaligen
Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, eine Einheitskirche zu
begründen, möglichst dauerhaft als solche zu erhalten und
gegenüber spaltenden Strömungen über die Wellen der Zeit zu
überdauern. Wenn wir unser Augenmerk auf die zweite Frage
richten, so sollte diese besser zerlegt werden. Die Inhalte
wurden bereits summarisch dargelegt. Es verbleibt demnach
die Kernfrage, inwiefern uns die gute Nachricht bzw. die
Siegesbotschaft des Judas Thomas als freie Männer von gutem
Ruf betrifft. Es bleibt festzuhalten, dass die Logien des
Thomasevangeliums weit mehr Gemeinsamkeiten mit der
Freimaurerei aufweisen, als allgemein anzunehmen ist. Wir
können dieser guten Nachricht weit mehr für uns als
Menschen und Freimaurer abgewinnen, als es uns alle anderen
kanonischen Evangelien bieten können – Denn dieses
Evangelium fordert uns zur Tat.