Dossier
Sind «Kanonen» wirklich Geschütze?
Mit den Tafellogen ist viel militärisches Vokabular verbunden. Es wird «Feuer» kommandiert, die Batterie heisst auch «Salve», und die Gläser nennt man mitunter «Kanonen». Hatte bei dieser Form von Ritual das Militär allein das Sagen? Die Antwort: nein. Andere Faktoren spielten eine ebenso wichtige Rolle.
Thomas Müller
Die heutige Freimaurerei war in ihren Anfängen eng
verbunden mit dem Ort, wo sie praktiziert wurde: der
Taverne. Als sich 1717 vier Londoner Logen zur ersten
Grossloge verbanden, übernahmen sie für deren Namen jenen
des Wirtshauses, in dem sie tagten: «Loge zum Bierhaus zur
Gans und zum Bratrost». Die Arbeiten wurden unterbrochen für
eine, wie es hiess, «Erfrischung». Diese gehörte bald zum
rituellen Rahmen, und den Wirt freute das.
Von England nach Frankreich
James Anderson (um 1680–1739), der Autor der 1723
erschienenen «Constitutions », ist für die Jahre 1723 und
1725 in den Listen der Loge in der «Horne Tavern»
aufgeführt. Er zählt die «Toasts» auf, die sog. «Gesundheiten
», die im Rahmen der freimaurerischen Tafel ausgebracht
werden. Sie gelten u. a. dem Grossmeister, dem Stuhlmeister
und den Vorstehern der arbeitenden Loge sowie dem Andenken
an Kaiser, Könige, Fürsten, Edelleute, Priester und
Gelehrte, welche die Maurerei verbreitet haben. In
Frankreich zeigt man sich empfänglich für die maurerischen
Errungenschaften.
Die Abläufe erinnern ans Exerzieren.
Anders als in England herrscht hier ein raues Klima,
geprägt von der nach wie vor mächtigen Kirche, den
absolutistischen Herrschern und einem weit verbreiteten
Zerfall der Sitten. Die Freimaurerei wird bald verbunden mit
Freiheit und Fortschritt. 1773 erlässt Louis XV. ein
allgemeines, letztlich aber den Freimaurern geltendes
Versammlungsverbot. Die Tavernen und Gasthäuser werden
angehalten, den Logen kein Dach zu bieten. Einem Wirt, der
sich dieser Bestimmung widersetzt, wird das Haus für ein
halbes Jahr geschlossen, und man mauert die Eingangstür zu.
Die Brüder, allesamt Edelleute, kommen straflos davon.
Anders als in England, wo Tempelarbeit und Tafel in eins
gehen, wird die französische Tafelloge separat angesetzt.
Und sie erhält eine soldatische Prägung: Die Abläufe
erinnern ans Exerzieren.
Mit dem Militär ans Ende der Welt
In Deutschland wird bei Hofe die französische Sprache
gesprochen. Friedrich II. gründet «La loge première“ / „La
loge du Roi notre grand maître“ und stellt die Freimaurerei
unter seinen Schutz. Bauhütten erhalten französische Namen
wie «Trois Globes», und die Tempelarbeiten werden auf
französisch abgehalten. Hinzu kommen entsprechende
Schriften, die als Gegenstück zu Andersons «Constitutions »
erschienen sind. Die deutschen Brüder übernehmen die
Tafelriten von den Franzosen. Die englische Linie wiederum
gewinnt an Einfluss, als 1741 eine Übersetzung von Andersons
«Constitutions» erscheint.
Folgenreich ist dann der Weg, den die Tafelkultur zurück
nach England nimmt. 1744 erscheint dort der «New Catechism
of Free Masonry», welcher der Praxis in Frankreich
entspricht und bestimmte, bis heute gängige Abläufe enthält.
Zu diesen zählen die Kommandi beim rituellen Trinken. Zur
Verbreitung der Freimaurerei allgemein und der Tafelloge im
Besonderen tragen die Militärlogen bei. 1728 wird die erste
englische Militärloge im Orient von Gibraltar gegründet. Das
Offizierskorps wird zur Trägerschicht der Freimaurerei quer
durch die Staaten Europas. In den so- genannten Feldlogen
von Truppenkörpern im Einsatz führen die Männer ihre
Logentruhe mit. In dieser finden sich die Utensilien für
maurerische Arbeiten. Sie kommt mit in alle Gegenden der
Welt, in den Dschungel, die Wüste, nach Asien, Afrika,
später auch Australien. Heutige Grosslogen in Übersee wie in
New York, Kanada und Australien gehen auf Militärlogen
zurück. Mitunter entstehen Logen gar in Lagern für
Kriegsgefangene. 1740 gründen Offiziere aus dem
schweizerischen Regiment in den österreichischen
Niederlanden die erste Zürcher Loge, «La Concorde ». Erfolge
in Schlachten führen zu Neubenennungen, so «Gibraltar» und
«Waterloo». Und im amerikanischen Revolutionskrieg
ermöglicht die Freimaurerei auf der Seite der Aufständischen
einen Schulterschluss unterschiedlichster Gruppierungen.
Diese Verbindung mit der Welt des Militärs hat zur
entsprechenden Färbung von Abläufen und Begriffen
beigetragen – und zu Interpretationen, die zu kurz greifen
können.
Böllerschüsse: vom Ritual zum Ärgernis
In den 40er und 50er Jahren des 18. Jahrhunderts taucht
in England der Begriff der «firing glasses» auf. Er ist
zurückzuführen auf die «feurigen» Toasts, die bei den
Tafellogen ausgebracht werden. Auch in Handwerksgilden und
Bauhütten begegnet diese Tradition schon früh. Allerdings
ist sie gerade in Frankreich verfremdet worden; hier mutet
das Vokabular wie gesagt reichlich militärisch an.
Nur zu schnell denkt man an das Feuer der Schusswaffen
und Geschütze. Ja, man sieht sich in manch anderer
militärischen Analogie bestärkt. Die Gläser heissen mitunter
«Waffen», «Gewehre» und «Kanonen». Der Trinkspruch wird denn
auch als «Kanonade» bezeichnet. Die brüderliche Batterie ist
eine «Salve». Die Servietten hat man so auf sich, dass man
jederzeit zum Degen greifen kann. Das laute Absetzen der
Gläser auf dem Tisch soll einem Salutschuss entsprechen.
Nicht-militärische Einflüsse
Im Zusammenhang mit dem Glas ist im Lauf der Zeit eine
prächtige Kultur entstanden. Die «Kanonen» haben einen
starken, schweren Fuss, damit sie beim Aufsetzen auf den
Tisch nicht zerbrechen. Sie sind mit maurerischen
Symbolen versehen wie dem Senkblei, dem musivischen
Pflaster, dem rauen Stein und dem flammenden Stern.Die
Böllerschüsse abzufeuern rührt von einem Brauch von Fürsten
her, festliche Veranstaltungen in dieser Form akustisch zu
untermalen. Die Freimaurer greifen das auf und setzen es z.
B. bei Trinksprüchen oder Aufnahmen ein. Allerdings kann das
Aussenstehenden zu bunt werden. Es gibt immer wieder Klagen
über die Lautstärke, welche die Brüder im öffentlichen Raum
entwickeln können. Wie gesagt: Eine rein militärische
Zuordnung der Tafelloge greift zu kurz. So hat das «Feuer»
auch eine kulturelle und religiöse Bedeutung und knüpft
damit an uralte Elemente an. Der Ausdruck kann zudem das «feu
sacré» bedeuten, die Leidenschaft für eine Sache. Des
weiteren spielt der Begriff «Kanon» hinein: ein etablierter
Bestand z. B. von Werken oder eine etablierte Regelung z. B.
in der Rechtswissenschaft. Und wer an die Musikform des
Kanons denkt, geht auch nicht fehl. Das sind dann ganz
andere Töne