Dossier
Sich selbst sein, innerhalb und ausserhalb des Tempels
Es wäre mühsam, in zwei gegensätzlichen Welten zu leben, in einer maurerischen und in einer profanen. Wir hätten unsere Persönlichkeit anzupassen, je nachdem, ob wir uns in der einen oder in der anderen aufhalten, aber wir müssen ja immer die selben bleiben. Die Regeln der Loge streben nach einem Ideal. Sie unterscheiden sich deshalb von den Regeln der Aussenwelt. Deren Beurteilungen sind nicht die unsrigen, obwohl der Maurer beide Aspekte berücksichtigen muss.
Geht es in unserem Leben nicht ständig darum, einen
Ausgleich zu finden? Oder eine Harmonie, was auf das selbe
herauskommt? Wenn wir unser persönliches Gleichgewicht und
die Stabilität unseres sozialen Umfeldes bewahren wollen,
müssen wir unsere Träume den Realitäten anpassen, unsere
Wünsche an die Wünsche derjenigen, die unser Leben teilen,
unsere berechtigten Ansprüche an unsere ebenso begründeten
Verpflichtungen, und so fort. Kurz, es geht darum, überall
und jederzeit die Kunst des Möglichen zu praktizieren, wie
man in der Politik sagt. Bei alledem haben wir unsere
Handlungs- und Gedankenfreiheit zu wahren. Jeden Tag sind
wir zu einer heiklen Gratwanderung aufgerufen und haben die
entsprechende Anstrengung auf uns zu nehmen. Das ist der
Preis, den wir zu zahlen haben, um doch ein wenig die
Abgeklärtheit des Geistes bewahren zu können. So hat der
Freimaurer im profanen Leben keine andere Wahl, als allzu
scharfe Kanten in seinem Umfeld abzurunden, anders gesagt:
für die Schwierigkeiten auf seinem Weg konstruktive Lösungen
zu finden.
Unsere Maurerischen Grundsätze (Code Maçonnique) sagen in
dieser Beziehung viel aus. Wir sollten oft auf sie
zurückgreifen, nimmt doch ihre Lektüre kaum mehr als drei
Minuten in Anspruch. Ihr ganzer Inhalt ist auf die
Verhaltensregeln ausgerichtet, die der Neuaufgenommene
künftig ausserhalb der Loge beachten soll. Neben anderen
Ermahnungen: "Tu das Gute allein aus Liebe zum Guten" – "Geh
Streitigkeiten aus dem Weg, vermeide Beleidigungen" – "Sei
zufrieden, allezeit, mit allem und mit allen". Jeder dieser
Sätze enthält ein ganzes Programm. Es zu verwirklichen, ist
schwierig, aber wäre es nicht schwierig, wäre es auch nicht
viel wert. In den Grundsätzen steht auch zu lesen: "Tu alles
zum Besten deiner Brüder, du tust es für dich selbst". Der
Ausdruck "Brüder" umfasst hier die ganze Menschheit, für die
wir am Tempelbau arbeiten.
Das Glück, die nötigen Werkzeuge zu besitzen
Eine Arbeit der Genfer Loge "Tolérance et Fraternité"
betont: "Freimaurer zu sein bedeutet, die Bruderliebe in
unserem Alltag zu verbreiten, indem wir uns bemühen,
Freundschaftsbande zu schaffen zwischen Menschen, die sich
ohne uns nicht näher gekommen wären. Wie wir bei unserer
Einweihung das Licht erhalten haben, um unsere Vorurteile zu
überwinden, sollen wir die Welt mit bedingungsloser Liebe
erleuchten. So erlauben wir ganz unterschiedlichen Menschen,
zusammenzuwirken, um eine bessere Welt zu schaffen." Es ist
auch gut, sich daran zu erinnern, dass wir einen Augenblick
der ganzen Menschheit gedenken wollen, wenn wir die
Bruderkette bilden.
Tradition und Fortschritt
Wenn auch einige Formulierungen des "Code" vielleicht ein
wenig veraltet sind, stellt er noch immer eine tragfähige
Grundlage dar, und es ist nicht anzunehmen, dass er künftig
seinen Wert verlieren wird. Er gibt treffende
Verhaltensregeln auf der Grundlage von Mässigung und
Gerechtigkeit, Werte, die heute bitter nötig sind. Oft macht
man es sich geradezu zur Pflicht, sich bei jeder Gelegenheit
unkorrekt zu verhalten und rühmt sich dessen noch. In der
öffentlichen Diskussion breiten sich Verunglimpfungen aus
wie nie zuvor, alle Hiebe sind erlaubt, wenn sie nur sitzen,
und "La raison du plus fort est toujours la meilleure" ("Der
Stärkere hat immer Recht"), wie es in der Fabel "Le Loup et
l'Agneau" von Jean de La Fontaine heisst. Vielleicht ist
nicht allen Maurern klar, dass sie das Glück haben, über die
nötigen Werkzeuge zu verfügen, um in der profanen Welt mit
ihren nicht immer ansprechenden Umgangsformen sozusagen das
Steuer herumzureissen. Freilich muss man die Werkzeuge
passend einsetzen, sie unablässig an den Umständen erproben,
mit denen wir konfrontiert sind; sonst dienen sie nur zur
Zier. Übrigens besteht die Gefahr, dass sich der Freimaurer
unmerklich dazu verleiten lässt, verwerfliche
Verhaltensweisen unserer Zeit leichtfertig anzunehmen.
"Unser Gewissen muss sich verfeinern und schärfen, so dass
wir den Versuchungen unserer Leidenschaften, denen wir
ausgesetzt sind, immer besser widerstehen können" heisst es
im Buch des Lehrlings. Gleich zu Beginn wird diese Wegskizze
dem neuen Glied unserer Bruderkette ausgehändigt.
Die in der Loge erhaltenen Lehren sind zu wertvoll, als
dass sie auf die leichte Schulter genommen werden dürften.
Diese Lehren haben die Besonderheit, dass sie sowohl an die
Überlieferung der alten Baumeister wie auch an die Gedanken
von Solidarität und Fortschritt anknüpfen. Wenn sich die
Freimaurer nicht ständig in den meisten Angelegenheiten
ihrer Zeit engagiert hätten, wäre unser Orden höchst
wahrscheinlich untergegangen. Bestenfalls hätte er als
Arbeitskreis für symbolistische Studien überlebt.
Die Freimaurerbewegung als integraler Teil der
Gesellschaft
In einem Artikel mit dem Titel "Famille, patrie, humanité"
("Familie, Vaterland, Menschheit") der Bieler Loge "Etoile
du Jura" schreibt der Verfasser, dass sich die Mitglieder
unseres Bundes immer bemühten, unsere Grundsätze ausserhalb
des Tempels zu verbreiten. Er erwähnt einige Gebiete, in
denen sie sich hervorgetan haben und es noch immer tun, zum
Beispiel das Gesundheitswesen, das Bildungswesen, die
Kultur. "Diese Art Betätigung zeugt von einer Präsenz und
Anteilnahme am praktischen Leben zur Förderung des
Gemeinwohls. Erinnern wir uns daran, dass die
Freimaurerbewegung einen integralen Teil der Gesellschaft
darstellt. Sie verwirklicht sich in der Öffentlichkeit durch
ihre Lehren und ist dazu berufen, die Zukunft
mitzugestalten". Dies obliegt den Charakteren, die sich gern
in der Aussenwelt engagieren. Andere sind mehr
introvertiert. Unter diesen anerkennen die meisten den
wohltuenden Einfluss der Freimaurerei und ihre belebende
Wirkung auf ihr Berufsleben, sei es auch nur, weil sie in
der Loge ein Amt innehatten oder sich im schriftlichen und
mündlichen Ausdruck üben konnten. Auch dies sind sichtbare
Resultate des Logenbesuchs.
Unwandelbarer Wert des Beispiels
Die Freimaurer bilden nur einen sehr geringen Teil der
Weltbevölkerung. Trotzdem kann man die Königliche Kunst als
Katalysator ansehen, als einen Wächter oder sogar Wecker,
der fähig ist, mit seiner Überzeugungskraft einen Beitrag zu
leisten zum Besten einer Welt, die weitgehend Zwistigkeiten
und Übeln aller Art zum Opfer gefallen ist. Dabei ist es
wichtig, uneigennützig und auf der Grundlage einer Ethik
ohne Scheuklappen zu handeln. Bernard Demont von der Loge "Progrès
et Vérité" in Bex weist darauf hin, "dass es wichtig ist,
eine gewisse Fähigkeit zu entwickeln, sich gegenüber den
anderen zu öffnen und sie und ihre Probleme zu verstehen.
Tun wir das durch selbstloses Verhalten und entsprechend
unseren ethischen Grundsätzen. (...) Lassen wir uns nicht
beeinflussen durch Vorurteile und stellen wir uns die
richtigen Fragen, vermeiden wir es, jemandem unsere eigenen
Wahrheiten an den Kopf zu werfen und seien wir offen für die
Ansichten anderer. In konfliktgeladenen Situationen wird der
Freimaurer mit seiner Besonnenheit alles tun, um im Rahmen
des Möglichen Gelassenheit zu schaffen und die Parteien zu
beschwichtigen". Jeder von uns kann hoffen, durch die Macht
des Beispiels Konflikte beizulegen. Wir sind aus Schatten
und Licht geschaffen. Achten wir darauf, den ersten zu
zähmen und das zweite zu fördern. - Dies ist das Behauen des
rohen Steins, das die Arbeit unseres ganzen Lebens
darstellt.
Legende:
- Skulptur, benannt "Synergy", ausgestellt in einer
maurerischen Lokalität in Denver, Colorado USA
- Der behauene Stein, Gemälde von Jean Beauchard,
1998, Besitz des Museums der Grande Loge de France (©
Fondation pour l'écrit, MTA Images – Julien Chamoux,
Paris)