Dossier
Eine Feier des Lichts
Die gotischen Kathedralen verbinden Sinnlichkeit mit Transzendenz. Sie zeugen von grossem
technischem Können und von einer Spiritualität, die auch den Freimaurer anspricht.
Das zeigt sich sehr schön in den Glasfenstern. Diese revolutionierten den Kirchenbau.
Rund 1150–1400 dauerte diese faszinierende Epoche.
Allein im Frankreich zwischen 1150
und 1250 entstehen rund 150 Kathedralen
und 500 Klöster. An der Kathedrale
von Chartres, einem Höhepunkt
dieser neuen Baukunst, wird ein halbes
Jahrhundert lang gearbeitet. Es ist ein
Werk der Superlative. So decken 176
Fenster eine Fläche von 2000 Quadratmetern
ab. Die Herstellung farbigen
Glases erreicht eine grosse Raffinesse.
So kann das legendäre «Chartres-Blau»
heute nicht mehr hergestellt werden.
Die Rezeptur ist verloren gegangen.
Wände aus Licht und Farben
Wie sich Religion und Sinnesfreude
vereinbaren lassen, zeigt das Beispiel
des französischen Abts Suger (1081–
1151). Von ihm gehen massgebliche
Impulse aus. In der 1137–1144 erstellten
Abteikirche Saint-Denis unweit von
Paris kommen bautechnische Errungenschaften
und buntes Fensterglas in
dieser Form das erste Mal zur Anwendung.
Ein Clou in der Statik eröffnet
der Gotik neue Möglichkeiten. Es wird
die Skelettbauweise entwickelt. Im Innenraum
dienen Säulen als Stützen, im
Aussenraum sind es die Strebebögen
bzw. -pfeiler. Das befreit die Seitenpartien
von ihrer statischen Funktion. Es
schlägt die Geburtsstunde der gotischen
Fenster mit ihrer Glasmalerei.
Es begegnet ein virtuoser Umgang mit
den Gestaltungsmitteln.
Diese Kunst ist von den Römern bzw. den persischen Sassaniden
ausgegangen. Im 10. Jh. hat man die Technik
erfunden, Glasteile in H-förmige Bleistege zu fassen. Das
erlaubt eine feinere Gestaltung der Fenster. Es stehen auch
die Wissenschaften Pate. Mathematik und Physik verdanken
sich zu einem grossen Teil dem Kreuzzug, der 40 Jahre
vor dem Aufkommen der Gotik stattgefunden hat. Hier
finden sie mannigfache Anwendung. Erkenntnisse der
Optik werden systematisch umgesetzt. So erzielt man mit
unreinen Mineralien tiefere und sattere Farbtöne.
Die gotischen Glasfenster sind von höchstem künstlerischem
Wert. Sie verfügen über eine Leuchtkraft der
Farben und über Kontraste, wie sie von keiner anderen
Malweise übertroffen werden. Ihr Meisterstück, die Rosette,
gleicht einem Rad oder einem Mandala und scheint
zu schweben. Es begegnet ein virtuoser Umgang mit den
Gestaltungsmitteln. So befindet sich in einem Fenster von
Chartres ein Loch. Am Tag der Sommersonnenwende fällt
bei Sonnenhöchststand ein Lichtstrahl auf einen Messingknopf
im Boden des Südquerschiffs. Im Strassburger Dom
erhellt ein grüner Lichtstrahl zu den Sonnenwenden die
Passion am Giebel der Kanzel.
Das kostet. Manche vermögende Person steuert beim Kathedralenbau
Fenster bei. In Chartres sind Stifter in den
unteren Fensterreihen namentlich oder bildlich verewigt.
Die entsprechenden Handwerker sind wie die Steinmetze
Spezialisten, die ihr Knowhow unter sich behalten und
sich professionell organisieren. Sie haben die gleiche Reputation
wie die Maurer.
Eine Welt der Bezüge und Verweise
Beginnt die Glasmalerei mit Blau und Rot, so erweitert
sich im Lauf der Zeit die Palette. In der Blütezeit begegnen
Rubinrot, Saphirblau, Smaragdgrün, Amethystfarben
und Goldschimmernd. Diese Farben haben alle auch eine
symbolische Bedeutung. Rot steht für Leben, Liebe und
Feuer, Gelb für die Sonne, Blau für den Himmel. Die ganze
Kathedrale besteht aus einem Geflecht von Bezügen und
Verweisen. So thematisiert die Nordrosette den «Alten
Bund» zwischen den Menschen und Gott. Die Südrosette
stellt den «Neuen Bund» dar, mit Jesus im Zentrum der
Darstellung.
Aus wissenschaftlichen Disziplinen, dem
Handwerk, der Kunst und der Architektur
ergibt sich ein Gesamtkunstwerk.
Mit Zirkel und Massstab entwickelt man die typisch gotischen
Formen, so auch den Spitzbogen. Neben der Geometrie
findet die Numerologie Anwendung. Es entsteht,
um mit dem Mathematiker Johannes Kepler (1571–1630)
zu sprechen, ein Abbild der «harmonia mundi», der Weltharmonie.
Kreis, Drei- und Viereck bilden die Basis der
Gesetzmässigkeiten. Aus dieser werden das Fünf-, Sechs-,
Acht- und Zehneck abgeleitet. Oft begegnet die Zahl drei.
Aus wissenschaftlichen Disziplinen,
dem Handwerk, der Kunst und der Architektur
ergibt sich ein Gesamtkunstwerk.
Dieses ist ein sinnlich erfahrbarer
Bezug zur Transzendenz.
Das Licht spielt dabei eine zentrale Rolle.
Wer die Kirche betritt, begibt sich
vom irdischen Dunkel ins himmlische
Licht. Man kann ans Johannes-Evangelium
denken, wo es heisst: «Ich bin
das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt,
der wird nicht wandeln in Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben.
» (Joh. 8, 12) Der französische
Künstler Auguste Rodin (1840–1917)
drückte das so aus: «Dies hier ist ein
überirdisches Licht.»
Der Bau selbst steht für das himmlische
Jerusalem. Zu diesem steht in der
Offenbarung: «Die Mauer bestand aus
Jaspis. Die Stadt selbst war aus reinem
Gold gebaut, das so durchsichtig war
wie Glas.» (Offenb. 21, 18) Die Kirche
symbolisiert zudem die göttliche Ordnung.
Es gilt nach der Weisheit Salomos:
«Du aber hast alles nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet.» (Weish. 11, 21).
Und schliesslich gemahnt der Grundriss
mit den Seitenschiffen ans Kreuz und
den ausgestreckten Christus.
Reiche Spiritualität
Man muss nicht nach Chartres reisen,
um die Grossartigkeit gotischer Lichtkunst
auf sich wirken zu lassen. Auch
in der Schweiz gibt es bedeutende
Fenster aus dem 13. bis 15. Jh. Beispiele
befinden sich im ehemaligen Kloster
Königsfelden, im Berner Münster und
in der Kathedrale Notre Dame in Lausanne.
Auch hier wird fassbar, welche
Energie von diesen Kunstwerken bis
heute ausgeht. Durch die mittelalterliche
Architektur ist ein Ruck gegangen.
Das zeigt ein Vergleich mit der Epoche
vor der Gotik.
Die in der Schweiz gut vertretene Romanik
mit ihren dicken Mauern, kleinen
Fenstern und Wandmalereien folgt
einem gänzlich anderen Konzept und
lässt Religiosität ganz anders erfahren. Jemand hat einmal geschrieben, dass der Besucher einer
gotischen Kirche den Raum auf besondere Weise erlebe.
Zum einen ziehe das langgezogene Kirchenschiff den
Blick des Eintretenden nach vorne zum Chor. Und zum
andern ergäben alle die vertikalen Elemente einen «Sog
nach oben». Der Mensch werde aufgerichtet. Im Gegensatz
zur Romanik mit der in sich ruhenden Gewissheit des
Glaubens stellt der gotische Bau den Weg zu Gott dar – einen
mehr oder minder langen Weg, den es zu gehen gilt.
Das ist eine der spirituellen Erfahrungen, die in gotischen
Kirchen möglich sind. Der Mensch, so der Grundgedanke,
ist ein entwicklungsbedürftiges und entwicklungsfähiges
Wesen. Wer denkt hier nicht auch an die Freimaurerei?
Das Grossartige an diesen Bauten ist, dass diese Erlebnisse
nie rein verstandesmässig sind. Vielmehr berühren sie
auch sinnliche, emotionale und seelische Seiten des Besuchers.
So stehen Fundament und Plattform für die Erde,
die Säulen und Pfeiler für die Luft, die Mauern und Wände
für das Wasser und das Dach für das Feuer. Wer an die
Alchimie und ihr Menschenbild denkt, geht sicher nicht
fehl. Die Kathedralen gleichen heiligen Bergen. Sie stehen
im Zentrum der mittelalterlichen Städte und verbinden
das Profane mit dem Sakralen. Die Fenster trennen
und verbinden gleichzeitig diese beiden Welten. Die vermittelnde
Rolle kommt dabei dem Licht zu. Es steht auch
für die Wiederkehr Christi. Der sinnliche Wert der bunten
Glasfenster steht im Gegensatz zu den Grisaillen der Zisterzienser.
Deren Generalkapitel schreibt ihnen vor, dass die
Klosterfenster rein weiss sein sollten.
Und hier? Goethe brachte es im Zusammenhang mit dem
Strassburger Münster auf den Punkt: «eine himmlisch-irdische
Freude». T. M.