Dossier
Zwischen Utopie und Nobelpreis
Ein Sprichwort besagt: Im Frieden ist der Mensch am besten. Aber wie lässt sich Frieden
schaffen und aufrechterhalten? Und inwiefern ist er eine ausgesprochen masonische Angelegenheit?
Ein Blick auf Macher, Denker – und eine spezifisch freimaurerische Frage.
Was ist die Regel, was die Ausnahme: Krieg oder
Frieden? In der Antike war die Antwort klar.
Die Friedenszeiten unterbrechen den Normalzustand,
und dieser ist geprägt von bewaffneten Konflikten.
Heute dürfte das der Optimist anders sehen als der Pessimist,
der Durchschnittsschweizer anders als ein Mensch
in Kabul. Für alle gilt jedoch, dass wir uns auf dünnem
zivilisatorischem Eis bewegen. Viele Gräuel zeugen davon.
Nachbarn, die vorher den Waschküchenschlüssel ausgetauscht
und Barbecues veranstaltet haben, sind mit einem
Mal nicht mehr wiederzuerkennen. Sie drangsalieren, foltern,
töten einander. Jugoslawien, Ruanda, Syrien sind
traurige Beispiele.
Über die Staatsgrenzen hinaus
Auf die Eskalation kann eine Besinnung folgen. So setzte
der Westfälische Frieden von 1648 dem Dreissigjährigen
Krieg ein Ende und ordnete Europa neu. Als Teil des Versailler
Friedensvertrags wurde 1919 der Völkerbund gegründet.
Nach dem Kriegsende 1945 entstanden die Vereinten
Nationen (UN). 2014 vermittelten diese im Jemen
einen Friedensvertrag zwischen den Huthi-Rebellen und
der Regierung.
Häufig sind es einzelne Persönlichkeiten,
welche die Dinge ins Rollen bringen.
Auch wenn das Vetorecht manche Beschlüsse blockiert:
Die UN haben viel geleistet. So entschärften sie die Berlinkrise
(1948/1949) sowie die Kuba- und Nahostkrise
(1962 bzw. 1973). Sie beendeten den Ersten Golfkrieg
(1988) und sicherten den Frieden u. a. in Kambodscha
(1993), Mosambik (1994) und Angola (1995). 1948 ging
aus ihnen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hervor. Diese zählt zu den grossen humanitären
Errungenschaften des 20.
Jahrhunderts.
In diesem Zusammenhang ist der Ansatz
des Aufklärers Immanuel Kant
(1724–1804) von Bedeutung. Nach
ihm sind die Staaten derart vernetzt,
dass sie nie an sich allein denken dürfen.
Entsprechend postuliert er in seiner
Schrift «Zum ewigen Frieden»
(1795) einen staaten- und völkerübergreifenden
Völkerbund. Dieser beruhe
auf der Vernunft, und verbindliches
Recht sei hier ebenso grundlegend wie
im Zusammenleben der Individuen.
In dieser «Weltrechtsordnung» werde
das Individuum zum «Weltbürger»
und sei im Besitz des Staatsbürger-,
Völker- und Weltbürgerrechts, und die
Verhältnisse unter den Staaten seien
austariert. Nur so könne der Frieden
aufrecht erhalten werden, denn er sei
Bedingung, Mittel und Ziel alles politischen
Handelns.
Herausragende Akteure – und
Freimaurer
Häufig sind es einzelne Persönlichkeiten,
welche die Dinge ins Rollen bringen.
Zu ihnen zählen Freimaurer, die
sich in der Friedenspolitik hervorgetan
haben. Da sind der deutsche Aussenminister
Gustav Stresemann (1878–1929)
und dessen französischer Amtskollege Aristide Brian (1862–1932), die mit
den Verträgen von Locarno im Jahr
1925 die Friedensförderung im Nachkriegseuropa
einen wichtigen Schritt
weiter brachten. Ein weiteres Beispiel
ist der schwedische UN-Generalsekretär
Dag Hammarskjöld (1905–1986).
Er engagierte sich 1956 im Zusammenhang
mit dem Suezkanal und dem Ungarnaufstand.
Die beiden Minister erhielten
den Friedensnobelpreis 1926,
Hammarkjöld bekam ihn postum 1961.
Hinzu kommen weitere. Der Publizist
und Pazifist Carl von Ossietzky (1889–
1938) starb an den Misshandlungen
in einem deutschen Konzentrationslager.
Der amerikanische Anwalt und
Politiker Frank Billings Kellog (1856–
1937) trug 1928 massgeblich zum Briand-
Kellogg-Pakt zur Ächtung von
Kriegen bei. Der Schweizer Journalist,
Politiker und Geschäftsmann Elie
Ducommun (1833–1906) war 1891–
1906 Leiter des «Internationalen
Ständigen Friedensbüros» und gehörte
als Genfer Staatskanzler, als Mitherausgeber
der Zeitung «Les États-Unis
d‘Europe», als Gründungsmitglied der
Schweizerischen Volksbank und als Sekretär der Jura-Simplon-Bahn zur Elite seiner Zeit.
Eine Operation besonderer Art unternahm der US-Automobilbauer
und Bruder Henry Ford (1863–1947): Er charterte
1915 auf eigene Kosten einen Luxusdampfer, taufte
diesen auf den Namen «Peace Ship» und fuhr zusammen
mit Brüdern nach Europa, um Friedensgespräche aufzunehmen.
Sein Credo: «Ich verwette dieses Schiff gegen einen
Penny, dass wir die Jungs bis Weihnachten aus den
Schützengräben raus haben.» Ford hätte die Wette verloren
– sein Unterfangen blieb Utopie.
Und die Politik?
Nimmt man die maurerischen Werte von Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität, so liesse sich
der Frieden als deren Summe verstehen und damit als eine
ausgesprochen masonische Sache. Viele Maurer machten
mit ihrem Engagement für den Frieden nicht vor den Landesgrenzen
Halt. Auch heute vertreten manche das sog.
Weltethos. Es geht um verbindende ethische Werte, Normen
und Haltungen sowie eine bessere Verständigung
und Zusammenarbeit unter den Weltreligionen. Auch von
einem Weltgewissen ist die Rede.
Gerät man aufgrund der grenzüberschreitenden
Ausrichtung nicht in Konflikt
mit dem patriotischen Credo?
Hier ist Henry Dunant (1828–1910) zu nennen. Auf dem
Schlachtfeld von Solferino entwickelte der nachmalige
Träger des Friedensnobelpreises 1859 den Gedanken des
Roten Kreuzes. Auch wenn es nicht immer respektiert
wird: Neben den erwähnten Menschenrechten gehört es
zu den übernationalen Leistungen ersten Ranges.
Gerät man aufgrund der grenzüberschreitenden Ausrichtung
nicht in Konflikt mit dem patriotischen Credo? Und
macht einen der Pazifismus zum Vaterlandsverräter? Diese
Zwickmühle hat den Brüdern immer wieder Mühe bereitet.
Allgemeiner liesse sich fragen, wie es die Maurer mit
der Politik haben.
«Kein Faktor in der Tagespolitik.»
Wie unterschiedlich die Auffassungen sein können, beweist
der Umgang mit zwei historische Bauten. Das 1913
eingeweihte Völkerschlachtsdenkmal in Leipzig verdankt
sich in vielem örtlichen Freimaurern. Hundert Jahre zuvor
hatten die Armeen von Österreich, Preussen, Russland
und Schweden – unter ihnen zahlreiche Freimaurer – das
Ende der napoleonischen Herrschaft über Deutschland
und Europa herbeigeführt. Heute werden in diesem Gebäude
u.a. Tempelarbeiten durchgeführt. Als Nationalist
wird sich kaum einer der Brüder verstehen, Berührungsängste
bestehen nicht.
Anders verhält es sich mit dem Londoner Sitz der United
Grand Lodge of England. Das 1933 fertiggestellte Art-Deco-
Meisterwerk hiess zuerst «Masonic Peace Memorial»
in Erinnerung an die dreitausend im Ersten Weltkrieg gefallenen
englischen Freimaurer. Der pazifistisch anmutende
Name wurde 1939, beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs,
in «Freemason‘s Hall» geändert. Diese Bezeichnung
gilt bis heute.
Eine «indirekt politische Gemeinschaft»
Bereits James Anderson (1678–1739) hat in seinen Konstitutionen
von 1723 klar Stellung bezogen: Die Logen
betreiben keine Politik. Es gibt eine Ausnahme, was diese Auffassung betrifft. Der Grand
Orient de France sieht sich als politischen
Akteur. Doch im Grossteil der
anderen Länder Europas hat die Freimaurerei
– entgegen bestimmten Verschwörungstheorien
– nie politische
Macht angestrebt. Sie ist, wie das der
österreichische Maurer und Freimaurerforscher
Helmut Reinalter betont,
auch «kein Faktor in der Tagespolitik
». Sie greift, so Reinalter weiter, in
die Politik nicht ein, «aber durch ihr
immanentes Verhalten und ihre humanitären
Vorstellungen empfindet
sie den Ist-Zustand einer Gesellschaft
als unzureichend.» So könne man sie
«als indirekt politische Gemeinschaft
verstehen, zumal sie ihren Prinzipien
gemäss an einer Vermenschlichung der
Gesellschaft, am Bau des Tempels der
allgemeinen Menschenliebe, arbeitet.»
Dass der Frieden ein immer neu zu etablierender
Zustand ist, lässt an ein Diktum
des kürzlich verstorbenen französischen
Philosophen André Glucksmann
denken. Er schreibt: Ob Gott tot
sei, darüber lasse es sich lange streiten.
Der Teufel jedenfalls sei es nicht. T. M.