Dossier
Befreiung aus dem Irrtum
Ein Faszinosum der Aufklärung besteht darin, wie eng die führenden Köpfe über die
Landesgrenzen hinaus vernetzt waren. Das führte zu Freundschaften und ständigem intellektuellem
Austausch. Der überzeugte Materialist Paul Henri Thiry d'Holbach ist ein
gutes Beispiel.
Paul Heinrich Holbach (1723–
1789) wurde in Edesheim bei
Speyer in einem Haus von Winzern
geboren. Mit acht Jahren vertraute
man ihn seinem Onkel Franz Adam
an. Dieser war Baron und unterhielt
einen herrschaftlichen Wohnsitz im
selben Ort. Pauls Hauslehrer war Jansenist
und Querdenker, der vor dem
katholischen Klerus fliehen musste.
Gesellschaftlicher Aufstieg
Holbachs Onkel war erfolgreicher Geschäftsmann.
In Wien adelte man
ihn zum Reichsritter und später zum
Reichsfreiherrn. Diese käuflich erworbene
Nobilitierung machte ihn in
Frankreich zum Angehörigen der «noblesse
commerçante», des handelnden
Adels. Er schenkte seinem Neffen beachtlichen
Grundbesitz. 1731 waren
die Querelen um den Hauslehrer noch
nicht ausgestanden. Die Polizei beschlagnahmte
Franz Adams Privatbibliothek.
Darauf hin zogen Onkel und
Neffe nach Paris.
Angesichts der Gäste sprach
man auch von einem «café
de l‘Europe».
1744 bis 1748 studierte Paul Heinrich
an der niederländischen Universität
Leiden Jura und Naturwissenschaften.
Dort bahnten sich lebenslange Freundschaften
an, u. a. mit Denis Diderot. Holbach kehrte nach Paris zurück und wurde von seinem
Onkel adoptiert. Seine Frau verstarb nach der Geburt des
ersten Kindes. Mit dem Segen des Papstes heiratete er deren
Schwester und wurde dreifacher Vater. Er lebte als Privatgelehrter
mehrheitlich in Paris und auf seinem nicht
weit entfernten Landgut. 1743 erbte er zusammen mit
seiner Cousine das Vermögen des Onkels und übernahm
dessen Titel.
Vielfach vernetzt
Er nannte sich jetzt Paul Henri Thiry d’Holbach. Er scharte
1750 bis 1780 einen intellektuellen Kreis um sich, den man
die «coterie holbachique» nannte, die «Holbachsche Clique
». Dieser Salon war auf der Höhe der Zeit. Angesichts
der Gäste sprach man auch von einem «café de l’Europe».
Jeden Donnerstag und Sonntag fanden sich Gäste ein, von
zwei Uhr nachmittags bis sieben oder acht Uhr abends.
Zum festen Kern zählten Diderot, Helvétius, d‘Alembert,
Rousseau und Abbe Galiani. Hinzu kamen Gäste aus dem
Ausland, so Hume, Sterne und Adam Smith. Frauen waren
nicht zugelassen. Galiani soll den Baron als «maître d‘hôtel
de la philosophie» bezeichnet haben. Dieser besuchte wiederum
andere Salons, so den Kreis von Auteil um Madame
Helvétius. Es verkehrten dort zahlreiche Freimaurer, v.
a. Mitglieder der Loge «Neuf Soeurs». Holbach kannte sie
grösstenteils von seiner eigenen Clique her. Hinzu kamen
Persönlichkeiten wie Chamfort und Mirabeau. Ob Holbach
Mitglied der Loge war, ist unbekannt.
Holbach gehörte mehreren Gelehrtengesellschaften an. So
wurde er in die Königlich-Preussische, in die Kurpfälzische
und in die Russische Akademie der Wissenschaften berufen.
Den Naturwissenschaften blieb er sein Leben lang verbunden.
So verfasste er für die «Encyclopédie» Artikel über
Bergbau, Metallurgie, Geologie, Chemie, Mineralogie und
Glasherstellung. Zudem übersetzte er naturwissenschaftlich-
technische Texte, u. a. über Mineralogie und Physik.
Schonungslose Kritik
Holbach war ein höchst produktiver
Autor. Allein für die «Encyclopédie»
soll er mehr als 1100 Beiträge verfasst
haben. Oft ersetzte er seinen Namen
durch das Kürzel „–“. 1760 bis 1770
schrieb er religionskritische Texte. Die
strenge französische Zensur versuchte
er zu umgehen, indem er sie unter
einem Pseudonym in Holland drucken
und publizieren liess. Ein Buch aus dieser
Zeit trägt den Titel «Le christianisme
dévoilé», „Das entschleierte Christentum“.
1770 bis 1780 war die Zeit seines
Hauptwerks. Die Texte behandeln Themen
wie die Vorurteile, den gesunden
Menschenverstand und die Moral.
Man habe von der menschlichen
Warte aus einen
«theologischen Gott» geschaffen,
der sich der Negation
der menschlichen Eigenschaften
verdanke.
In Holbachs Werk kommen Einflüsse
unterschiedlicher Art zum Tragen: u.
a. Spinozas Kritik am Gottesbegriff,
die Sittenlehre von Helvétius, der
Materialismus von de La Mettrie. In
seinem «System der Natur oder von
den Gesetzen der physischen und der
moralischen Welt» von 1770 geht er
mit der Religion streng ins Gericht.
Sie gebe der Moral nur eine «schwankende,
ideelle und ganz unverständliche
Grundlage» und beruhe auf einem
fatalen Irrtum. Man habe von
der menschlichen Warte aus einen
«theologischen Gott» geschaffen, der
sich der Negation der menschlichen
Eigenschaften verdanke – ein «Trugbild
». «Der Irrtum», so weiter, «ist die
wahre Quelle der Leiden, von denen
die Menschheit heimgesucht wird.»
Der Mensch bleibe unglücklich, solange er sich im Stand
der Täuschung befinde. Denn die Natur kenne keine Werte
wie Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Alles
folge einer umfassenden Notwendigkeit, sei determiniert.
Die Elemente der Welt stünden mit einander in enger Verbindung.
Das führe dazu, dass ihr die menschliche Erkenntnis
gerecht werden könne. Das sind zutiefst humanistische
Gedanken. Der französische Historiker Philipp Blom hat
in seinem Buch «Böse Philosophen» über die «radikalen
Aufklärer» geschrieben: «Diderot und Holbach scheinen
die Schlacht um die Nachwelt verloren zu haben, aber der
Krieg, in dem sie kämpfen, tobt noch immer, ein Krieg um
die Träume unserer Zivilisation, die so viel grosszügiger, luzider
und humaner sein könnte, als sie es heute ist.» T. M.