Alpina 6-7/2003
Vernunft nimmt man an oder man kommt zu ihr – Verstand aber hat man oder
man hat ihn nicht. Damit drückt die Sprache den Unterschied zwischen den
beiden Begriffen aus, die als Studienthema auch den Themenschwerpunkt des
vorliegenden Heftes ausmachen. Die drei Brüder der Loge Sapere Aude in
Zürich, die sich damit in drei Kurzbaurissen auseinandergesetzt haben, haben
die Forderung aufgestellt, den Appell an die Vernunft zugunsten des
Verstandes etwas zu relativieren, denn: «Vernunft ist gut, Verstand noch
besser.» Weder die menschliche Solidarität noch soziale Verantwortung lassen
sich von der Vernunft herleiten.Sie entspringen viel eher dem Gefühl, der Seele und dem Gewissen. Und die
Grosszügigkeit des Herzens ist oft eine lobenswerte Unvernunft. In diesem
Sinn kann die freimaurerische Bruderkette ihre rationalistischen Ursprünge
zwar nicht verdrängen; immer aber spielten und spielen Symbole und Rituale
eine Rolle. Sie haben eine wichtige Funktion im freimaurerischen
Erziehungskonzept, das sowohl auf die Vernunft, als auch auf der emotionalen
Ebene einwirken soll. Und noch ein letztes Zitat aus den erwähnten
Kurzbaurissen: «Als Freimaurer müssen wir erkennen, dass mit der reinen
Vernunft 'kein Staat' zu machen ist. Gerade unsere Verpflichtung zur
Menschlichkeit, zum Bau am Tempel der Humanität ist ohne die wichtigen
Elemente wie Gewissen, sittliche Werte, den Glauben an ein höheres, für uns
nicht fassbares Wesen, nicht denkbar. Und doch sind wir keine
'Gefühlsdusel'. Denn echte humanitäre Arbeit kann nur unter eindeutiger
Mitwirkung des Kopfes, der Ratio, erfolgreich sein. Es ist das richtige
Zusammenspiel zwischen reiner Vernunft und der Vernunft des Herzens, welches
unserer maurerischen Arbeit die Richtung geben muss.»
Alfred Messerli |