Alpina 8-9/2003
Geometrie heisst das Thema unserer Doppelnummer – ein grosses und fast
unüberschaubares Thema. Wir wollen versuchen, wenigstens bruchstückweise,
dieses Thema zu bearbeiten und dabei die Verbindung zur Freimaurerei
herauszuarbeiten. Auf die Griechen kam die Geometrie bereits als «heilige
Wissenschaft» über die Sumerer, die Perser und Babylonier. Sie entstand als
Wissenschaft der Himmelsvermessung, denn damals waren die Bewegungen der
Himmelskörper von lebenserhaltender Bedeutung. Ihre Bewegung wurde mit
Festpunkten auf der Erde in Beziehung gesetzt. Bei den Griechen waren es
dann Archimedes, Pythagoras und Euklid, die diese Wissenschaft in den
esoterischen Raum erhoben. Sie bauten ein philosophisches System mit Hilfe
der Geometrie auf. Der «Geometer», (geos gleich Erde, metrein gleich messen) war der Erd- und
Feldvermesser. Er hatte priesterliche Funktionen, nicht nur bei der
Ägyptern, sondern auch bei der Griechen. Die Maurer hatten ein starkes
berufliches Interesse, die Geometrie zu einer bestimmenden Wissenschaft zu
machen.
Bei den Freimaurern geht es um den Buchstaben G, der sich in der Mitte
des flammenden Sterns befindet. In Prichards «Zergliederter Freimaurerei»
finden wir die Frage: «Was bedeutet der Buchstabe G?» Die entsprechende
Antwort lautet: «Die Geometrie oder die fünfte Wissenschaft».
Geometrie hiess ursprünglich Messkunst. Schon in den ältesten englischen
Konstitutionen wird die Geometrie als die Grundwissenschaft aller übrigen
freien Wissenschaften bezeichnet und mit der Freimaurerei in besondere
Verbindung gebracht. Eduard Troxler kommt in seinem Artikel in diesem Heft
zum Schluss, das der Buchstabe G nur Geometrie bedeuten könne.
Anderson, der die Alten Pflichten verfasste, bezeichnet mit Geometrie
«das innerste Wesen der Freimaurerei». Preston nennt sie «die erste und
edelste der Wissenschaften, die Grundlage des Gebäudes der Freimaurerei». In
den alttestamentlichen Propheten ist die Geometrie das Grundgesetz des
Heiligen Tempels. In der Offenbarung des Johannes zeigt ein Engel mit einem
goldenen Messstab das neue Jerusalem, die Heilige Stadt, die vom Himmel
hernieder stieg und misst sie aus.
Wenn demnach im Weltall, im Tempel und der Stadt Gottes (Jerusalem) die
Wissenschaft der Geometrie Tatsache ist, so hat sie für den Freimaurer
den Wert einer praktischen Wissenschaft und die Bedeutung einer Kunst der
geordneten inneren Arbeit. Denn in ihren Elementen, in den einfachsten und
unscheinbarsten Figuren führt sie eine Fülle von Grundsätzen und
unabänderlichen Normen vor Augen, deren Kenntnis und Verwirklichung auf
sittlichem Gebiet zur Vollkommenheit führen muss. Grund genug, dass wir uns
etwas eingehender mit dieser Kunst befassen wollen.
Alfred Messerli |