Alpina 1/2004
Die Kette ist wohl das Sinnfälligste unter den freimaurerischen Symbolen.
Die freimaurerische Idee findet im Symbol der Kette ihre prägnanteste,
überzeugendste und wirksamste Gestaltung. Für uns heutige Brüder ist die
Kette vorwiegend das Sinnbild der Eintracht und der Bruderliebe. Es ist das
Zeichen der Weltbruderkette. Und hier stellt sich die Frage, ob die Kette
wirklich ein Symbol ist oder ob sie nicht mehr ist? Bernhard Beyer hält die
Kette für ein «Trutzsymbol». Je fester unsere Feinde an ihren Enden ziehen,
umso fester werden die Knoten. Bei der freimaurerischen Aufnahme ist das Abnehmen der Augenbinde «Es
werde Licht» für den Neophyten eines der stärksten Erlebnisse. So bald er
wieder sehen kann, erblickt er die Brüder um ihn herum, die in der Kette
vereint sind. August Horneffer berichtet in einem Aufsatz: «Diese
Eigenschaft unserer Kette, dass sie einen Ring schliesst und einen
gesicherten, geheiligten Raum schafft, erinnert trotz aller scheinbaren
Gegensätze an die Volkstänze, die unsere Vorfahren einst auf der Dorfaue zu
fröhlichem, aber ursprünglich sehr ernstem Spiele zusammenführte.» Noch in
unserer Kindheit gab es nichts Schöneres, als uns zu einem Kreisspiel
zusammen zu finden. Die volkskundliche Forschung hat längst nachgewiesen,
dass sich in vielen Kinderspielen uralte Bräuche wiederspiegeln. Ähnlich wie
in den Volksmärchen, ist auch in den Spielen und Tänzen einst die Bindung an
höhere Mächte, also ein religiöses oder magisches Gefühl zum Ausdruck
gekommen. Es gibt sogar unter den Rundspielen eines, in dem unser
freimaurerisches 3 x 3 eine Rolle spielt. Die Kinder sind in einer
geschlossenen Kette um einen Mitspieler gruppiert. Dieser trägt einen
spitzen Hut oder formiert mit beiden Händen über seinem Kopf eine spitze
Mütze. Unter der merkwürdigen, wiederholt gesungenen Behauptung «Drei mal
drei sind neune» und dass die Mitspieler dies wohl wüssten «Ihr wisst ja,
wie ich’s meine» zieht der Mützenmann aus dem äusseren Kreis jeweils einen
Mitspieler zu sich in den inneren Kreis. Es handelt sich zweifellos um eine
Wahlhandlung. Ein Wesen von hohem Ansehen in der Mitte trifft die Auswahl
(eligere = auswählen = elitär). (Nach Wolfgang Scherpe). Der Brauch des
Kettenschlingens kommt schon in den ältesten Ritualen vor. Es gibt von 1722
einen Stich auf dem sich die Brüder die Hand reichen, also die Kette bilden.
(Siehe nebenstehende Seite). Allerdings ist der Kreis nicht vollständig
geschlossen. Dazu ist ein Kettenlied abgedruckt. In der Kette wird die
gemeinsame freimaurerische Geisteshaltung der unterschiedlichen
Persönlichkeiten veranschaulicht. Wenn wir am Schluss des Rituals die Kette
um den Mittelpunkt des Tempels, oder um den Teppich bilden, so bedeutet dies
– symbolisch – eine gegenseitige geistige Befruchtung. Die Harmonie ist
hergestellt, die Gegensätze sind überwunden, und der Menschengeist ahnt die
Vollendung. Die Kette bedeutet aber auch ein gegenseitiges Treuegelöbnis.
Alfred Messerli |