Alpina 6-7/2004
Die Uhren der Freimaurer ticken anders. Freimaurer haben einen andern
Zeitbegriff als Profane. Sie beginnen ihre Arbeit am Hochmittag, wenn andere
Leute schon einen halben Tag gearbeitet haben und beenden sie um
Hochmitternacht. Und dazu haben sie auch einen andern Kalender. Sie zählen
die Jahre seit Adam und Eva, und deshalb sind wir heute im Jahre 6004 nach
freimaurerischer Rechnung. Was steckt hinter dieser Zeiteinteilung?Wenn wir in den Tempel gehen, haben wir eine besondere Zeit, die heilige
Zeit. Wir lassen die profane Welt hinter uns und versenken uns ganz ins
Ritual und die Symbolik. Deshalb ist die heilige Zeit ein Symbol. Die
profane, weltliche Zeit versinkt, Tag und Stunde sind für die Arbeiten in
der Loge unbedeutend. Die profane Geschichte wird auf Zeit ausgesetzt. Die
Brüder in der Loge treten aus der Zeit des Augenblicks heraus und versetzen
sich zurück in eine «mystische Zeit» oder «Heilige Zeit». Es ist die Zeit
der Weltenschöpfung. Diese Zeit kennt weder Vergangenheit noch Gegenwart
noch Zukunft. Im 18. Jahrhundert entstand in den Johannislogen eine
eigenartige Zeitrechnung, die heute kaum mehr gebräuchlich ist. Man muss
unterscheiden: Anno Lucis heisst, von der Erschaffung der Welt an werden die
Jahre gezählt. Und da man ausgerechnet hat, dass Adam und Eva ungefähr 4000
Jahre vor Christi Geburt gelebt haben, zählen wir zu den heutigen
Jahreszahlen 4000 Jahre dazu und kommen so auf den freimaurerischen
Jahrgang. Es ist aber noch komplizierter: Der Royal Arch hat eine eigene
Zählung. Bei ihm wird zur heutigen Jahreszahl 530 dazu gezählt. Also wären
wir heute im Jahre 2534. (Anno Inventionis). Der Alte und Angenommene
Schottische Ritus rechnet 3760 Jahre dazu und wäre heute bei 5764 Jahren
angelangt (Anno Mundi). Dieser Ritus verwendet ausserdem auch noch die
hebräischen Monatsnamen. Somit ist 1. Tischri 5687 gleichbedeutend mit 9.
September 1926. Knight Templars rechnen mit Anno Ordinis und ziehen bei der
heutigen Jahreszahl 1118 Jahre ab. – Ist nun alles klar? Die Freimaurer
gingen davon aus, dass Adam unser aller Vater, die Freien Künste,
insbesondere die Geometrie (Königliche Kunst) in seinem Herzen getragen
haben muss. Denn er lehrte zweifellos seinen Söhnen die Geometrie. Kain
baute schliesslich eine Stadt, die er nach seinem ältesten Sohn Enoch
benannte. Der Anfang der Welt war demnach unweigerlich auch der Beginn der
Maurerei. So steht es wenigstens in den Alten Pflichten angehängten
Weltchronik. Deshalb datierten die Maurer ihre Jahre statt «im Jahre der
Welt» (anno mundi) einfach «im Jahre der Maurerei» (anno maconi), und beide
tragen die Abkürzung AM.
Von dieser Problematik und dem Philosophieren darüber, was die Zeit
eigentlich ist, handelt dieses Heft.
Alfred Messerli |